eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 68/4

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2021
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Frühe Bildung in Zeiten von Corona

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2021
Yvonne Anders
Der Beitrag diskutiert die Situation frühkindlicher Bildung und Betreuung in Deutschland vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie. Zunächst werden die Auswirkungen der Pandemie und der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie (insbesondere die Schließung der Kindertageseinrichtungen und Kontaktbeschränkungen) auf Familien und Kinder beschrieben und mit empirischen Forschungsergebnissen untermauert. Im Folgenden wird die Situation der Kindertageseinrichtungen und frühpädagogischen Fachkräfte beleuchtet. Abschließend werden Möglichkeiten zum Umgang mit den entstandenen Herausforderungen skizziert und mögliche positive Entwicklungen für das System dargestellt.
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2021, 68, 271 -274 DOI 10.2378/ peu2021.art22d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel n Forum Frühe Bildung in Zeiten von Corona Yvonne Anders Otto-Friedrich-Universität Bamberg Zusammenfassung: Der Beitrag diskutiert die Situation frühkindlicher Bildung und Betreuung in Deutschland vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie. Zunächst werden die Auswirkungen der Pandemie und der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie (insbesondere die Schließung der Kindertageseinrichtungen und Kontaktbeschränkungen) auf Familien und Kinder beschrieben und mit empirischen Forschungsergebnissen untermauert. Im Folgenden wird die Situation der Kindertageseinrichtungen und frühpädagogischen Fachkräfte beleuchtet. Abschließend werden Möglichkeiten zum Umgang mit den entstandenen Herausforderungen skizziert und mögliche positive Entwicklungen für das System dargestellt. Schlüsselbegriffe: Kindertageseinrichtungen, COVID-19-Pandemie, frühpädagogische Fachkräfte, Familie Early Childhood Education and Care in times of Corona Summary: The paper discusses the situation of Early Childhood Education and Care (ECEC) in Germany against the background of the COVID-19-pandemic. First, the effects of the pandemic and the measures to control the number of infections such as preschool closures and social restrictions on families and children are described. Relevant empirical findings to support the assumptions are summarized. Following up on this, the situations of ECEC settings and early childhood professionals are highlighted. Concluding, possibilities to handle the emerged challenges are outlined and potential positive developments for the system of ECEC are described. Keywords: Preschools, COVID-19-pandemic, early childhood professionals, family Einleitung Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 sowie die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie lösten einen gesellschaftlichen Ausnahmezustand mit kurz-, mittel- und langfristigen Folgen auch für Kinder im vorschulischen Alter, ihre Familien und die frühpädagogischen Einrichtungen aus. Kindertageseinrichtungen wurden immer wieder für Monate, Wochen oder einzelne Tage für alle Kinder oder Gruppen von Kindern geschlossen. Damit wurden den Kindern nicht nur institutionelle Bildungsangebote entzogen, auch war die institutionelle Betreuung für Eltern zur Sicherung ihrer eigenen Erwerbstätigkeit und Unterstützung bei der Erziehung nicht mehr bzw. nur noch eingeschränkt verfügbar. Zusätzlich führten die Schließungen von Behörden, Unternehmen, Gastronomie, Sport- und Freizeiteinrichtungen zu veränderten Arbeitssituationen, insbesondere zu einer vermehrten Tätigkeit im Homeoffice. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Arbeitsfähigkeit im Homeoffice durch die Aufmerksamkeit, die junge Kinder im vorschulischen Alter benötigen, nur sehr eingeschränkt gegeben ist bzw. Arbeit - anders als bei älteren Schulkindern - kaum parallel zur Betreuung der Kinder stattfinden kann. Hieraus resultierte eine besondere Belastungssituation für Eltern und Kinder. Es entstand dementsprechend eine 272 Yvonne Anders Ausnahmesituation für das frühe Bildungssystem, die in hohem Maße von Diskontinuitäten in Betreuung und Bildung sowie neuen Herausforderungen für die frühpädagogischen Fachkräfte geprägt war. Während mit Blick auf die Schulen die Notwendigkeit digitaler Lernangebote und die problematische Situation unmittelbar in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, wurde mit Blick auf die Schließung der Kindertageseinrichtungen über lange Phasen lediglich die Problematik der fehlenden Betreuungsmöglichkeiten diskutiert. Dass den Kindern durch den eingeschränkten Zugang zu Kindertageseinrichtungen auch Bildungsangebote entzogen wurden, scheint auch heute an vielen Stellen kaum präsent zu sein. Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen der Pandemie auf Familien und Kinder im vorschulischen Alter Verschiedene empirische Studien haben sich in Deutschland mit den kurz- und mittelfristigen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Kinder im vorschulischen Alter, ihre Familien sowie den frühkindlichen Bildungskontext beschäftigt. Mehr als jedes vierte Kind im Alter von 3 - 15 Jahren erlebte nach Einschätzung der Eltern im ersten Lockdown Gefühle der Einsamkeit (Langmeyer-Tornier, Guglhör-Rudan, Naab, Urlen & Winklhofer, 2020). Dieses war besonders stark für Einzelkinder der Fall. Ferner wurden häufiger Verhaltensprobleme wie emotionale Probleme und Hyperaktivität berichtet. Auch Christner, Essler, Hazzam und Paulus (2021) fanden, dass Eltern vermehrt emotionale Probleme bei ihren 3 - 10-jährigen Kindern wahrnahmen, wiederum insbesondere bei Einzelkindern. Während der zweiten Schließung ab Dezember 2020 kamen nach Einschätzung ihrer Eltern diejenigen Kinder weniger gut mit der Situation zurecht, die zu Hause betreut wurden, als Kinder, die Kindertagesbetreuung besuchten (DJI & RKI, 2021). Für Kinder im vorschulischen Alter war es während der Lockdownphasen besonders schwierig, den Kontakt zu ihren gleichaltrigen Freunden zu halten, da hier der Austausch über digitale Formate schwerfiel. Sie waren am häufigsten von Einsamkeit betroffen. Übereinstimmend zeigten unterschiedliche Studien eine Zunahme der wahrgenommenen Belastungen von Eltern während des ersten Lockdowns (Huebener, Waights, Spieß, Siegel & Wagner, 2021) oder dokumentierten das Auftreten von Erschöpfung und Überforderung von Eltern von Kindern im Vorschulalter (Cohen, Oppermann & Anders, 2020; Dillmann, Sensoy & Schwarzer, 2021). Diese waren am stärksten ausgeprägt, je jünger die Kinder waren. Besonders belastet zeigten sich Eltern im Homeoffice und Eltern mit finanziellen Problemen (Cohen et al., 2020) sowie Mütter (Lannen, Sticca & Simoni, 2020; Huebener et al., 2021). Die Rolle, die die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Kindertageseinrichtungen für das Auftreten von Belastungen bei den Eltern spielt, wurde ebenfalls deutlich. Im zweiten Lockdown fühlten sich beispielsweise diejenigen Eltern, für deren Kind keine Kindertagesbetreuung wahrgenommen werden konnte, deutlich belasteter als Eltern mit Kindern in (eingeschränkter) Betreuung (DJI & RKI, 2021). Studienübergreifend zeigte sich ein erhöhter (digitaler) Medienkonsum bzw. erhöhte Bildschirmzeiten. Die Belastungen der Eltern stehen wiederum im Zusammenhang mit dem kindlichen Wohlbefinden. Christner und Kollegen (2021) zeigten für Eltern von 3 - 10-jährigen Kindern während des Lockdowns im Frühjahr 2020, dass ein höheres Belastungsempfinden der Eltern mit schlechteren Einschätzungen des kindlichen Wohlbefindens und einer Zunahme von kindlichem Problemverhalten assoziiert war (Christner et al., 2021). Bei Langmeyer und Kollegen (2020) wurden Zusammenhänge von finanziellen Schwierigkeiten, niedrigem Bildungsstand, schwieriger Wohnsituation und der berichteten Belastung der Eltern mit dem kindlichen Wohlbefinden (u. a. Einsamkeitserleben, emotionale Probleme, Hyperaktivität) aufgedeckt. Frühe Bildung in Zeiten von Corona 273 Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen der Pandemie auf Kindertageseinrichtungen und frühpädagogische Fachkräfte Fokussiert man nun die Situation von Kindertageseinrichtungen, hat diese sich durch die COVID-19-Pandemie ebenfalls bedeutsam verändert. So mussten die Einrichtungen während Phasen des Lockdowns schließen, lediglich Notbetreuung anbieten oder - je nach sich veränderndem Infektionsgeschehen vor Ort - in den eingeschränkten Regelbetrieb gehen und in diesem Zusammenhang komplexe Hygienevorschriften anwenden, die zum Teil großen Einfluss auf die pädagogische Arbeit haben. In Zeiten von Schließungen konnte der Bildungsauftrag der Einrichtungen fast ausschließlich über (digitale) Angebote der Elternzusammenarbeit aufrechterhalten werden. Cohen und Kollegen (2020) berichten, dass diese von den Eltern sehr geschätzt und als wichtig wahrgenommen wurden. Die Arbeitssituation der Fachkräfte hat sich durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bedeutsam verändert. Ein Teil der Fachkräfte wechselte von der direkten Arbeit mit Kindern ins Homeoffice, innerhalb der Einrichtungen musste flexibel mit sich immer wieder ändernden Hygienevorschriften umgegangen werden. Befragungen zeigen, dass ein Großteil der frühpädagogischen Fachkräfte Verständnis für die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hatte (z. B. Cohen et al., 2020). Es zeigte sich aber auch Überforderung, z. B. mit Blick auf die Voraussetzungen, digitale Medien zur Kommunikation mit den Familien zu nutzen. Viele Einrichtungen waren unzureichend mit entsprechender Technik ausgestattet, gepaart mit der Problematik, dass eine Vielzahl von Fachkräften nicht hinreichend in diesem Bereich aus- oder fortgebildet war. Berichtet wurden auch Ängste von Fachkräften, sich selbst mit COVID-19 anzustecken. Mögliche mittel- und langfristige Folgen und Implikationen für die Praxis Mit den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ging auch eine Einschränkung der Bildungsangebote innerhalb der Einrichtungen einher, so mussten Kontaktbeschränkungen eingehalten werden und gruppenübergreifende Angebote waren ebenso eingeschränkt wie Zusatzangebote im sportlichen und musischen Bereich. Insgesamt ist von Einschränkungen der pädagogischen Qualität auszugehen. Je weniger Betreuung stattfand, desto stärker waren die Kinder auf die Qualität der familialen Anregung angewiesen. Instabilitäten können vor allem bei sehr jungen Kindern zu sozioemotionalen Problemen führen. Diese dürften durch die Kontaktbeschränkungen verstärkt worden sein. Aktuelle Erhebungen weisen darauf hin, dass besonders Einzelkinder betroffen waren. Es ist daher mit Einbußen in der kognitivsprachlichen Entwicklung sowie in der sozioemotionalen Entwicklung (z. B. prosoziales Verhalten, Emotionsregulation, Selbstregulation) zu rechnen. Mit Blick auf die sozioemotionale Entwicklung dürften die ganz jungen Kinder besonders vulnerabel für die ausgelösten Instabilitäten sein. Darüber hinaus dürften weitere Gruppen von Kindern ein besonders großes Risiko haben, durch die eingeschränkten vorschulischen Bildungsangebote in ihrer Entwicklung gelitten zu haben: Kinder, die zu Hause eine andere Familiensprache als Deutsch sprechen; Kinder aus bildungsfernen Familien; Kinder die besonders lange von dem Besuch einer Kindertageseinrichtung ausgeschlossen waren (vor allem Einzelkinder); Kinder, deren Familien in Existenznöte gekommen sind oder aufgrund paralleler Tätigkeit im Homeoffice zu Hause nicht angemessen gefördert werden konnten. Eine umfassende Diagnostik der jetzigen Einschulungskohorte wäre wünschenswert, um in den Eingangsklassen individualisierte Angebote zur Kompensation machen zu können. Darüber hinaus könnte in den Kindertageseinrichtungen eine verstärkte Implementierung von Sprachförderung (alltagsintegriert und additiv) sowie von Strategien und Programmen zur Stärkung der sozio-emotionalen Entwicklung sinnvoll sein. 274 Yvonne Anders Die Krise als Chance für die frühe Bildung? Einige Entwicklungen, die sich durch die Auswirkungen der Pandemie gezeigt haben, bieten auch durchaus das Potenzial, den frühen Bildungsbereich im positiven Sinne weiterzuentwickeln. So wird die Zusammenarbeit mit Familien schon seit vielen Jahren als oft vernachlässigte, aber hoch relevante Komponente der frühpädagogischen Qualität diskutiert (Anders & Roßbach, 2019). Hier konnte beobachtet werden, dass viele Träger, Einrichtungen und Fachkräfte in kürzester Zeit innovative Konzepte entwickelt haben, bei denen zu hoffen bleibt, dass sie auch nach der Pandemie erhalten bleiben. Als weitere Ressource ist der Digitalisierungsschub zu nennen, den sicher auch die frühe Bildung erfahren hat, auch wenn hier schmerzlich die mangelhaften Voraussetzungen auf allen Ebenen deutlich wurden. Aber pädagogische Angebote für Eltern und Kinder unter Nutzung digitaler Medien sind genauso zukunftsweisend wie die Etablierung digital gestützter Kommunikation und die Nutzung digitaler Tools für Teamentwicklung, Fort- und Weiterbildung. Literatur Anders, Y. & Roßbach, H.-G. (2019). Pädagogische Qualität in der Kindertagesbetreuung. In O. Köller, M. Hasselhorn, F. Hesse, K. Maaz, J. Schrader & H. Solga (Hrsg.), Das Bildungswesen in Deutschland. Bestand und Potenziale. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Christner, N., Essler, S., Hazzam, A. & Paulus, M. (2021). Kindliches Wohlbefinden und Problemverhalten während der COVID-19 Pandemie: Längsschnittliche Zusammenhänge mit elterlicher Belastung und Beziehungsqualität. Beitrag auf der digiGEBF 2021. Cohen, F., Oppermann, E. & Anders, Y. (2020). Familien & Kitas in der Corona-Zeit. Zusammenfassung der Ergebnisse. Abgerufen am 29. 6. 2020 unter https: / / www. uni-bamberg.de/ fileadmin/ efp/ forschung/ Corona/ Ergebnisbericht_Corona-Studie_2020.pdf Dillmann, J., Sensoy, Ö. & Schwarzer, G. (2021). Elterliche Belastung und frühkindliche sozial-emotionale Entwicklung während der Corona-Pandemie. Beitrag auf der digiGEBF 2021. DJI (Deutsches Jugendinstitut) & RKI (Robert Koch Institut) (2021). Monatsbericht der Corona-Kita- Studie. Januar, 2021. Abgerufen am 29. 6. 2020 unter https: / / corona-kita-studie.de/ monatsberichte-dercorona-kita-studie Huebener, M., Waights, S., Spieß, C., Siegel, N. & Wagner, G. (2021). Parental well-being in times of COVID-19 in Germany. Review of Economics of the Household, 19, 91 - 122 https: / / doi.org/ 10.1007/ s11150-020-09 529-4 Langmeyer-Tornier, A., Guglhör-Rudan, A., Naab, T., Urlen, M. & Winklhofer U. (2020). Kind sein in Zeiten von Corona. Ergebnisbericht zur Situation von Kindern während des Lockdowns im Frühjahr 2020. München: DJI. Lannen, P., Sticca, F. & Simoni, H. (2020). Kleinkinder und ihre Eltern während der COVID-19 Pandemie. MMI Evidence Brief: Wissenschaft und Grundlagen für die Praxis. Prof. Dr. Yvonne Anders Otto-Friedrich-Universität Bamberg Fakultät Humanwissenschaften Lehrstuhl für Frühkindliche Bildung und Erziehung Markusstr. 8 a 96047 Bamberg E-Mail: yvonne.anders@uni-bamberg.de Liebe Abonnentinnen und Abonnenten, der Bezugspreis der Zeitschrift Psychologie in Erziehung und Unterricht (PEU) für private Direktkunden bleibt auch im kommenden Jahr gleich. Für Nicht-Private/ Institutionen und Buchhandlungen wird der Preis ab 2022 für das Jahres-Einzelabonnement auf € 175,- angehoben. Institutsabos mit Mehrplatzlizenz kosten ab dem nächsten Jahr € 465,-. Jeweils zzgl. Versandspesen, die gleich bleiben. 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