Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Die Situation der Schulkinder während der Schulschließungen in der Pandemie: Ergebnisse zweier Elternbefragungen
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Ludger Wößmann
Larissa Zierow
Um zu erfahren, wie Schulkinder die beiden Phasen der mehrwöchigen Corona-bedingten Schulschließungen im Frühjahr 2020 und Anfang 2021 verbracht haben, haben wir im Juni 2020 eine Befragung von über 1000 Eltern und im Februar/März 2021 von über 2000 Eltern durchgeführt. Während der Schulschließungen Anfang 2021 haben die Schulkinder im Durchschnitt 4,3 Stunden pro Tag mit schulischen Tätigkeiten verbracht. Das ist eine knappe Dreiviertelstunde mehr als während der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020, aber drei Stunden weniger als an einem üblichen Schultag vor Corona. Die Zeitnutzungsstudien ergeben, dass die Schulkinder täglich mehr Zeit mit Fernsehen, Computerspielen und Handy verbracht haben als mit Lernen für die Schule. Der Anteil der Schüler*innen, die täglich gemeinsamen Unterricht für die ganze Klasse (z.B. per Video) hatten, ist von 6 Prozent im Frühjahr 2020 auf 26 Prozent Anfang 2021 angestiegen. 39 Prozent der Schüler*innen hatten solch einen Unterricht aber weiterhin nur maximal einmal pro Woche. Die Befragungen beinhalten auch Einschätzungen zur Effektivität des Lernens zu Hause, zu psychischen Belastungen, Bewegungsmangel, sozialen Fähigkeiten, eigenständigem Lernen und digitalen Kompetenzen. Die Ergebnisse werden zudem auf Unterschiede nach schulischen Leistungen und Familienhintergrund untersucht.
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2021, 68, 297 -305 DOI 10.2378/ peu2021.art26d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel n Forum Die Situation der Schulkinder während der Schulschließungen in der Pandemie: Ergebnisse zweier Elternbefragungen Ludger Wößmann, Larissa Zierow* ifo Zentrum für Bildungsökonomik und Ludwig-Maximilians-Universität München Zusammenfassung: Um zu erfahren, wie Schulkinder die beiden Phasen der mehrwöchigen Corona-bedingten Schulschließungen im Frühjahr 2020 und Anfang 2021 verbracht haben, haben wir im Juni 2020 eine Befragung von über 1000 Eltern und im Februar/ März 2021 von über 2000 Eltern durchgeführt. Während der Schulschließungen Anfang 2021 haben die Schulkinder im Durchschnitt 4,3 Stunden pro Tag mit schulischen Tätigkeiten verbracht. Das ist eine knappe Dreiviertelstunde mehr als während der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020, aber drei Stunden weniger als an einem üblichen Schultag vor Corona. Die Zeitnutzungsstudien ergeben, dass die Schulkinder täglich mehr Zeit mit Fernsehen, Computerspielen und Handy verbracht haben als mit Lernen für die Schule. Der Anteil der Schüler*innen, die täglich gemeinsamen Unterricht für die ganze Klasse (z. B. per Video) hatten, ist von 6 Prozent im Frühjahr 2020 auf 26 Prozent Anfang 2021 angestiegen. 39 Prozent der Schüler*innen hatten solch einen Unterricht aber weiterhin nur maximal einmal pro Woche. Die Befragungen beinhalten auch Einschätzungen zur Effektivität des Lernens zu Hause, zu psychischen Belastungen, Bewegungsmangel, sozialen Fähigkeiten, eigenständigem Lernen und digitalen Kompetenzen. Die Ergebnisse werden zudem auf Unterschiede nach schulischen Leistungen und Familienhintergrund untersucht. Schlüsselbegriffe: Bildungsungleichheit, COVID-19, leistungsschwache Schüler, Home-Schooling, Distanzunterricht The situation of school children during the school closures in the pandemic: Results of two parent surveys Summary: To learn how school children spent the two periods of Corona-related school closures in spring 2020 and early 2021, we surveyed over 1’000 parents in June 2020 and over 2’000 parents in February/ March 2021. During the school closures in early 2021, school children spent an average of 4.3 hours per day on school-related activities. This is almost three-quarters of an hour more than during the initial school closures in spring 2020, but three hours less than during a typical school day before the COVID-19-pandemic. Our time-use surveys find that school children spent more time each day watching TV, playing computer games, and using their cell phones than learning for school. The share of students who had daily online instruction for the whole class (e. g., via video) increased from 6 percent in spring 2020 to 26 percent in early 2021. However, 39 percent of students continued to have such online classes at most once a week. The surveys furthermore include assessments of the effectiveness of learning at home, mental stress, physical inactivity, social skills, independent learning, and digital literacy. The results are also examined for differences by academic achievement and family background. Keywords: Educational inequality, COVID-19, low-achieving students, home schooling, distance teaching * Die hier berichteten Ergebnisse basieren auf gemeinsamer Forschungsarbeit mit Vera Freundl, Philipp Lergetporer, Elisabeth Grewenig und Katharina Werner und fassen die in Wößmann et al. (2020, 2021) berichteten Befunde zusammen. Die Autor*innen bedanken sich für finanzielle Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (SFB TRR 190), die Fondazione Rodolfo Debenedetti, den Leibniz-Wettbewerb (SAW 2019), das NORFACE IMCHILD-Projekt und das NCN-DFG Beethoven-Projekt. 298 Ludger Wößmann, Larissa Zierow Seit ihrem Ausbruch Anfang 2020 stellt die Corona-Pandemie die Bildungssysteme weltweit vor bislang ungeahnte Herausforderungen. Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, gab es in Deutschland bisher zwei Phasen von mehrwöchigen deutschlandweiten Schulschließungen. Während die ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020 die Beteiligten weitgehend unvorbereitet trafen, gab es im Sommer und Herbst 2020 viel Zeit, um Konzepte für alternative Lehrformen und Distanzunterricht für mögliche zukünftige Schulschließungen zu erarbeiten, die Anfang 2021 mit der zweiten Phase der flächendeckenden Schulschließungen wieder eintraten. Um zu erfahren, wie die Situation der Kinder und Jugendlichen während der beiden Phasen der Schulschließungen war, haben wir jeweils eine deutschlandweite Umfrage unter Eltern von Schulkindern durchgeführt. Die Befragungen beinhalten zum einen jeweils eine Zeitnutzungsstudie der Kinder. Zum anderen haben wir die Eltern auch über die Aktivitäten der Schulen, die Erfahrungen der Familien im Homeschooling und die Lebenssituation der Kinder während der Pandemie befragt. Die Ergebnisse liefern umfassende Einblicke in die Lernumwelten der Schulkinder in den beiden Phasen der Schulschließungen, die in dieser Form aus keinem anderen bestehenden Datensatz gewonnen werden können - auch wenn die vorliegenden Befragungsdaten vermutlich anfälliger für Messfehler sind als beispielsweise administrative Daten. Im vorliegenden Beitrag geben wir einen knappen Überblick über die wichtigsten Ergebnisse der beiden Wellen zum deskriptiven Bild der Situation der Schulkinder in den beiden Phasen der Schulschließungen. Eine detailliertere Befundlage ist in Wößmann et al. (2020, 2021) und Grewenig, Lergetporer, Werner, Wößmann und Zierow (2020) beschrieben. 1 Beide Elternbefragungen wurden in Online-Access-Panels durch das Befragungsunternehmen Respondi durchgeführt. Die Stichproben wurden jeweils so gezogen, dass sie die Merkmale der Grundgesamtheit der Eltern von Schulkindern in Deutschland möglichst gut abbilden (siehe Wößmann et al. [2020, 2021] für methodische Details). Insofern bilden sie die Lage von Schüler*innen an allen allgemeinbildenden Schulen ab - Grundschulen, Haupt-, Real- und Gesamtschulen, Gymnasien und sonstigen weiterführenden Schularten. Die Eltern wurden jeweils zu ihrem jüngsten Schulkind befragt, das eine allgemeinbildende Schule besucht. Die Stichprobe von 1099 Eltern der ersten Befragung war vom 3. Juni bis 1. Juli 2020 als Teil des ifo Bildungsbarometers im Feld und bezog sich explizit auf die Zeit „während der mehrwöchigen Corona-bedingten Schulschließungen“, also März bis Mai 2020. Die zweite Befragung umfasste 2122 Eltern, war vom 17. Februar bis 10. März 2021 im Feld und bezog sich explizit auf die Zeit „während der mehrwöchigen Corona-bedingten Schulschließungen Anfang 2021“, also Januar bis Februar 2021. Einige der Fragen aus der ersten Befragung wurden in der zweiten Befragung wortgleich wiederholt. 2 Eine ausführliche methodische Diskussion der Validität und möglicher Einschränkungen der Interpretierbarkeit von Elternbefragungen zu Aktivitäten ihrer Kinder in Zeiten Coronabedingter Schulschließungen findet sich in Wößmann et al. (2020) und Grewenig et al. (2020). Die Zeitnutzungsstudien: Tägliche Aktivitäten der Schulkinder In der jeweiligen Zeitnutzungsstudie haben wir die Eltern gefragt, wie viele Stunden (auf halbe Stunden gerundet) ihr Kind an einem typischen Werktag während der mehrwöchigen Coronabedingten Schulschließungen mit verschiedenen vorgegebenen Aktivitäten verbracht hat (Abb. 1). Die Ergebnisse der ersten Befragung ergeben, dass die Schulschließungen im Frühjahr 2020 mit einer Halbierung der täglichen Lernzeit von durchschnittlich 7,4 Stunden vor Corona auf 3,6 Stunden während Corona einhergingen (Wößmann et al., 2020). Die Ergeb- Die Situation der Schulkinder während der Schulschließungen in der Pandemie 299 nisse der zweiten Befragung zeigen, dass Schulkinder während der Schulschließungen Anfang 2021 durchschnittlich 4,3 Stunden täglich mit schulischen Aktivitäten verbracht haben (Wößmann et al., 2021). Dieser Wert liegt also um knapp eine Dreiviertelstunde (0,7 Stunden) über der Lernzeit während der Schulschließungen im Frühjahr 2020, aber immer noch 3,1 Stunden unter der durchschnittlichen Lernzeit vor Corona. Auch während der Schulschließungen Anfang 2021 hat sich fast jedes vierte Kind (23 %) nicht mehr als 2 Stunden am Tag mit Schule beschäftigt. Die 4,3 Stunden schulischer Aktivitäten Anfang 2021 setzen sich aus durchschnittlich 1,0 Stunden Schulbesuch (vor allem Notbetreuung und Wechselunterricht) und 3,3 Stunden Lernen für die Schule zusammen. Von letzterem Teil entfallen durchschnittlich 2,0 Stunden auf die Bearbeitung von bereitgestellten Aufgabenblättern und 1,3 Stunden auf gemeinsamen Fernunterricht für die ganze Klasse (z. B. online per Videokonferenz). Während der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020 war der Rückgang der Lernzeit im Vergleich zu vor Corona bei leistungsschwä- Abb. 1: Womit verbrachten Schulkinder während der Schulschließungen ihre Zeit? Schulische Aktivitäten n Schulbesuch n Lernen für die Schule Anfang 2021 Frühjahr 2020 Vor Corona Lesen, kreative Tätigkeiten, Bewegung n Lesen/ Vorlesen n Musik und kreatives Gestalten n Bewegung Anfang 2021 Frühjahr 2020 Vor Corona Fernsehen, Computer, Handy n Fernsehen n Computerod. Handyspiele n Soziale Medien n Online-Medien Anfang 2021 Frühjahr 2020 Vor Corona 0 2 4 6 8 Stunden pro Tag Frage: Die folgenden Fragen beziehen sich auf Ihr jüngstes Kind, das die Schule besucht. Welche Aktivitäten hat Ihr Kind an einem typischen Werktag (Montag bis Freitag) während der mehrwöchigen Corona-bedingten Schulschließungen Anfang 2021 unternommen? Kategorien: Schulbesuch, z. B. Notbetreuung; Lernen für die Schule, z. B. Aufgabenblätter bearbeiten, Videounterricht, Lernplattformen, Hausaufgaben machen; Lesen/ Vorlesen (nicht für die Schule), z. B. Kinderbücher, Romane, Sachbücher; Musik und kreatives Gestalten, z. B. Instrument spielen, Singen, Malen, Zeichnen, Basteln; Bewegung, z. B. Sport, Spielen im Freien, Spaziergänge; Fernsehen; Spiele am Computer, Handy oder Spielkonsole; Soziale Medien, z. B. Facebook, Whatsapp, Tiktok, Snapchat, Instagram, Twittter; Online-Medien, z. B. Videos, Musik. Quelle: Wößmann et al. (2020, 2021) 1,0 0,7 1,3 1,3 1,1 0,9 1,4 1,2 1,5 1,0 1,3 0,9 1,0 0,8 0,8 0,7 0,8 0,6 1,7 1,6 0,7 0,9 5,9 3,3 1,5 2,7 1,5 4,3 7,4 2,9 4,6 5,2 4,0 3,2 2,9 3,6 300 Ludger Wößmann, Larissa Zierow cheren Schüler*innen besonders stark ausgeprägt, wohingegen er sich zwischen Akademiker- und Nicht-Akademikerkindern nicht unterschied (Grewenig et al., 2020). 3 Anfang 2021 unterscheidet sich die Lernzeit kaum mehr nach schulischen Leistungen und Familienhintergrund. Jenseits der schulischen Aktivitäten entfallen Anfang 2021 durchschnittlich 2,9 Stunden pro Tag auf Tätigkeiten wie Lesen, Musizieren oder Bewegung, die generell als entwicklungsförderlich angesehen werden. Gegenüber den Schulschließungen im Frühjahr 2020 (3,2 Stunden) ist dies ein leichter Rückgang auf das Vor- Corona-Niveau. Mit 4,6 Stunden pro Tag haben Schulkinder mehr Zeit mit passiven Aktivitäten wie Fernsehen, Computer- und Handyspielen oder dem Konsum von sozialen und Online-Medien verbracht als mit schulischen Aktivitäten. Zwar bedeutet dies einen Rückgang von 0,6 Stunden im Vergleich zu den Schulschließungen im Frühjahr 2020, aber immer noch einen Anstieg um 0,6 Stunden im Vergleich zur Zeit vor Corona. Eine genauere Aufschlüsselung zeigt, dass die Zeit, die Kinder mit Fernsehen oder Computerspielen verbracht haben, zum allergrößten Teil keinen Lernbezug aufweist. 4 Aktivitäten der Schulen und Fördermaßnahmen Zur konkreten Ausgestaltung des Fernunterrichts während der Schulschließungen Anfang 2021 zeigt die Befragung, dass etwa ein Viertel (26 %) der Schüler*innen täglich gemeinsamen Unterricht für die ganze Klasse (z. B. per Video) hatte (Abb. 2). Während der Schulschließungen im Frühjahr 2020 waren es nur 6 %. In der zweiten Phase ist es also einem größeren Teil der Schulen in Deutschland gelungen, die Schüler*innen mit digitalem Fernunterricht für die ganze Klasse zu erreichen und somit den regelmäßigen Austausch mit Lehrkräften und Klassenkamerad*innen sicherzustellen. Jedoch erhalten auch in der zweiten Phase immer noch 39 % der Schüler*innen nur maximal einmal pro Woche Videounterricht, so dass deren Schulalltag fast ausschließlich vom eigenständigen Erarbeiten von Unterrichtsstoff zu Hause geprägt ist. Der Online-Unterricht erreicht Nicht-Akademikerkinder deutlich seltener als Akademikerkinder. Der Anteil der Schulkinder, die mindestens einmal pro Woche individuelle Gespräche mit den Lehrkräften (z. B. per Videoanruf oder Telefon) hatten, ist von 33 % im Frühjahr 2020 auf 40 % Anfang 2021 angestiegen. Allerdings geben weiterhin 32 % der Eltern an, dass ihr Kind nie ein individuelles Gespräch mit einer Lehrkraft hatte (45 % im Frühjahr 2020). Der individuelle Kontakt zu den Lehrkräften ist bei Nicht-Akademikerkindern und leistungsschwächeren Kindern geringer ausgeprägt als bei Akademikerkindern und leistungsstärkeren Kindern. Die Nutzung von Lernvideos und Lernsoftware hat sich Anfang 2021 im Vergleich zum Frühjahr 2020 leicht erhöht. Knapp zwei Drittel der Eltern berichten, dass ihr Kind mehrmals pro Woche bereitgestellte Lernvideos anschauen oder Texte lesen sollte bzw. mindestens einmal pro Woche Lernsoftware oder -programme verwendet hat. Wie schon im Frühjahr 2020 ist die häufigste Lehraktivität während der Schulschließungen Anfang 2021 die Bereitstellung von Aufgabenblättern. 97 % der Schüler*innen sollten zumindest einmal pro Woche bereitgestellte Aufgaben bearbeiten. 62 % der Schüler*innen mussten diese mehrmals pro Woche einreichen, was knapp 12 Prozentpunkte mehr sind als in der ersten Phase. Seit den ersten Schulschließungen hat nur ein geringer Anteil der Schüler*innen an Unterstützungsmaßnahmen teilgenommen, um entgangenen Schulstoff nachzuholen. 4 % der Kinder haben an Ferienkursen teilgenommen, 10 % an Förderunterricht in der Schule, 6 % an kostenlosem und 7 % an kostenpflichtigem Nachhilfeunterricht. Insgesamt haben 21 % der Die Situation der Schulkinder während der Schulschließungen in der Pandemie 301 Kinder mindestens eine der vier aufgeführten Unterstützungsmaßnahmen erhalten. Allerdings haben Nicht-Akademikerkinder deutlich seltener an diesen Fördermaßnahmen teilgenommen als Akademikerkinder, und auch der Fokus auf leistungsschwächere Schüler*innen war in den meisten Fällen nur gering ausgeprägt. n Täglich n Mehrmals pro Woche n Einmal pro Woche n Weniger als einmal pro Woche n Nie Gemeinsamer Unterricht für die ganze Klasse (z. B. per Videoanruf) Anfang 2021 Frühjahr 2020 Individuelle Gespräche Anfang 2021 Frühjahr 2020 Lernvideos anschauen oder Texte lesen Anfang 2021 Frühjahr 2020 Lernsoftware oder -programme verwenden Anfang 2021 Frühjahr 2020 Bereitgestellte Aufgaben bearbeiten Anfang 2021 Frühjahr 2020 Bearbeitete Aufgaben einreichen Anfang 2021 Frühjahr 2020 Rückmeldung von Lehrkraft zu den bearbeiteten Aufgaben Anfang 2021 Frühjahr 2020 0 25 50 75 100 % Frage: Welche Aktivitäten haben die Lehrkräfte bzw. die Schule Ihres Kindes im Zeitraum während der mehrwöchigen Corona-bedingten Schulschließungen Anfang 2021 durchgeführt? Bitte denken Sie bei der Beantwortung der Fragen an die Lehrkräfte bzw. die Schule Ihres jüngsten Kindes, das die Schule besucht. Kategorien: Gemeinsamer Unterricht für die ganze Klasse (z. B. per Videoanruf oder Telefon); individuelle Gespräche mit meinem Kind (z. B. per Videoanruf oder Telefon); mein Kind sollte bereitgestellte Lernvideos anschauen oder Texte lesen; mein Kind sollte Lernsoftware oder -programme verwenden; mein Kind sollte bereitgestellte Aufgaben bearbeiten; mein Kind musste bearbeitete Aufgaben einreichen; Lehrkräfte haben Rückmeldung zu den bearbeiteten Aufgaben gegeben. Quelle: Wößmann et al. (2020, 2021) 26 5 18 16 65 27 13 6 4 15 13 51 17 9 35 16 46 30 26 35 32 23 14 38 30 36 34 27 13 20 18 16 6 27 32 11 22 9 11 2 12 18 14 16 20 14 9 28 28 8 27 9 14 2 6 14 18 32 9 24 2 5 9 45 45 18 32 2 10 17 Abb. 2: Welche Aktivitäten haben Schulen während der Schulschließungen durchgeführt? 302 Ludger Wößmann, Larissa Zierow Erfahrungen im Homeschooling Die Befragungen liefern auch Erkenntnisse über die Erfahrungen, die Eltern und Kinder im Homeschooling gemacht haben. Um eine Einschätzung der Eltern zu erhalten, für wie effektiv sie das Lernen zu Hause halten, haben wir sie gebeten einzuschätzen, wie groß der Lernerfolg ihres Kindes durch eine Stunde Lernen zu Hause im Vergleich zu einer Stunde regulärem Schulunterricht ist. Die Mehrzahl der Eltern (56 %) denkt, dass ihr Kind pro Stunde zu Hause weniger lernt als im regulären Unterricht in der Schule, 22 % denken das Gegenteil (Abb. 3). Dementsprechend dürften die berichteten Lernzeitverluste durch die Schulschließungen den tatsächlichen Wissensverlust tendenziell unterschätzen. Etwa jeweils die Hälfte der Kinder hat beim Lernen zu Hause Konzentrationsschwierigkeiten und kommt häufig nicht weiter. Das eigenständige Erarbeiten von Lerninhalten ist also für viele Kinder eine große Herausforderung. Bei einer Unterscheidung nach schulischen Leistungen und familiärem Hintergrund zeigt sich, dass leistungsschwächere Schüler*innen und Nicht- Akademikerkinder zu Hause deutlich weniger effektiv und konzentriert gelernt haben. Die technische Ausstattung für das Lernen zu Hause ist bei den meisten Kindern relativ gut: Die große Mehrzahl der Schulkinder hat zu Hause Zugang zu Computer und Internet für das Homeschooling und keine täglichen Probleme mit der Nutzung digitaler Lernplattformen. So haben beispielsweise nur 5 % der Kinder nie die Möglichkeit, einen Computer oder Tablet fürs Homeschooling zu nutzen. Der Anteil der Eltern, die angeben, dass ihre Familie mit der Situation während der Schulschließungen gut klargekommen ist, ist von 89 % im Frühjahr 2020 auf 71 % Anfang 2021 gesunken (Abb. 4). Insgesamt denkt eine Mehrheit von 59 % der Eltern, dass ihr Kind während der Schulschließungen Anfang 2021 viel weniger gelernt hat als sonst, was nur leicht unter dem Wert vom Frühjahr 2020 (64 %) liegt. Für die Hälfte der Kinder war die Situation während der Schulschließungen eine große psychische Belastung - deutlich mehr als während Kind lernt pro Stunde … n zu Hause viel mehr als in der Schule n zu Hause eher mehr als in der Schule n zu Hause und in der Schule etwa gleich viel n zu Hause eher weniger als in der Schule n zu Hause viel weniger als in der Schule Alle Kinder Unterschiede nach schulischen Leistungen Leistungsschwächere Kinder Leistungsstärkere Kinder Unterschiede nach Familienhintergrund Nicht-Akademikerkinder Akademikerkinder 0 25 50 75 100 % Frage: Jetzt geht es darum, wie gut sich Ihr jüngstes Schulkind den Unterrichtsstoff während der Coronabedingten Schulschließungen erarbeiten kann. Was denken Sie, wie groß ist der Lernerfolg Ihres Kindes durch eine Stunde Lernen zu Hause im Vergleich zu einer Stunde regulärem Unterricht in der Schule? Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Wößmann et al. (2021) 9 9 99 8 9 13 10 11 21 15 22 18 21 23 25 36 37 37 34 36 20 26 22 14 16 Abb. 3: Wo ist der Lernerfolg pro Stunde größer - zu Hause oder in der Schule? Die Situation der Schulkinder während der Schulschließungen in der Pandemie 303 der ersten Schließungen (38 %). Im Vergleich zu 28 % im Frühjahr 2020 geben Anfang 2021 40 % der Eltern an, dass sie sich mit ihrem Kind während der Schulschließungen mehr gestritten haben als sonst. Verschiedene Lebensbereiche der Schulkinder Unsere Befragungen liefern auch Erkenntnisse darüber, wie sich die Schulschließungen seit Beginn der Corona-Pandemie auf weitere Aspekte des Lebens der Schulkinder ausgewirkt haben. Neben den angegebenen Aspekten der psychischen Belastung haben wir in der zweiten Welle auch nach den Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche der Schulkinder sowie auf ihre sozio-emotionale Lage gefragt. 76 % der Eltern geben an, dass es für ihr Kind eine große Belastung war, nicht wie gewohnt Freund*innen treffen zu können. Im Einklang damit berichtet mehr als die Hälfte Abb. 4: Wie bewerten Eltern die Zeit der Schulschließungen? n Trifft voll zu n Trifft eher zu n Weder noch n Trifft eher nicht zu n Trifft überhaupt nicht zu Positive Aussage Familie ist mit der Situation gut klargekommen Anfang 2021 Frühjahr 2020 Negative Aussagen Kind hat viel weniger gelernt als sonst Anfang 2021 Frühjahr 2020 Schulschließungen waren für Kind eine große psychische Belastung Anfang 2021 Frühjahr 2020 Schulschließungen waren für Eltern eine große psychische Belastung Anfang 2021 Frühjahr 2020 Eltern und Kind haben mehr gestritten als sonst Anfang 2021 Frühjahr 2020 0 25 50 75 100 % Frage: Inwieweit treffen die folgenden Aussagen auf Sie zu? Mit „Schulschließungen“ meinen wir die Zeit während der mehrwöchigen Corona-bedingten Schulschließungen Anfang 2021. Die Fragen beziehen sich auf Ihr jüngstes Schulkind. Unsere Familie ist mit der Situation während der Schulschließungen gut klargekommen. Mein Kind hat während der Schulschließungen viel weniger gelernt als sonst in der Schule. Die Situation während der Schulschließungen war für mein Kind eine große psychische Belastung. Die Phase der Schulschließungen war für mich eine große psychische Belastung. Ich habe mich mit meinem Kind während der Schulschließungen mehr gestritten als sonst. Quelle: Wößmann et al. (2020, 2021). 25 25 18 19 13 41 26 11 13 8 46 34 31 32 27 45 38 27 25 20 3 5 4 4 5 9 22 33 33 27 2 4 4 4 6 19 22 29 27 26 7 14 17 17 29 3 10 25 26 39 304 Ludger Wößmann, Larissa Zierow der Eltern, dass die Schulschließungen den sozialen Fähigkeiten ihres Kindes geschadet haben. Ein knappes Drittel (31 %) der Eltern gibt zudem an, dass ihr Kind während der Corona- Pandemie z. B. wegen Bewegungsmangel an Körpergewicht zugenommen hat. Aber es gibt auch positive Aspekte: Die Mehrheit der Eltern gibt an, dass ihr Kind durch die Schulschließungen gelernt hat, sich eigenständig Unterrichtsstoff zu erarbeiten (56 %) und mit digitalen Technologien besser umzugehen (66 %). Um mehr über die sozio-emotionale Lage der Schulkinder zu erfahren, haben wir den Eltern auch Fragen des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) gestellt. Insgesamt zeigt sich, dass ein Großteil der Eltern in vielen Dimensionen des sozio-emotionalen Verhaltens ihres Kindes keine deutlichen Veränderungen während der Schulschließungen feststellt (siehe Wößmann et al. [2021] für Details). Wichtige Ausnahmen bilden die Zunahme von emotionalen Problemen - Traurigkeit, Ängste, Nervosität - sowie von Problemen der Konzentrationsfähigkeit. Zudem fällt der Anteil der Kinder, deren Eltern Probleme mit den verschiedenen sozio-emotionalen Aspekten berichten, im Durchschnitt etwas höher aus als bei vergleichbaren Befragungen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) vor Corona. Die Schulschließungen scheinen sich somit auf einige Verhaltensaspekte eines Teils der Schulkinder negativ auszuwirken. Resümee Insgesamt sind die Ergebnisse der beiden Untersuchungswellen durchaus ernüchternd. Zwar zeigt sich während der zweiten Schulschließungen Anfang 2021 im Vergleich zu den ersten Schließungen im Frühjahr 2020 eine leichte Lernzeitsteigerung. Allerdings erreicht diese bei Weitem nicht das Niveau vor Corona. Zudem ist die Effektivität des Lernens zu Hause bei vielen Schulkindern deutlich eingeschränkt. Der geringe Entwicklungsstand der Distanzunterrichtskonzepte für eine angemessene Beschulung aller Kinder und Jugendlichen in der Breite der Schülerpopulation lässt hohe Lernverluste befürchten, mit enormen Folgekosten für die betroffenen Kinder und die Gesellschaft insgesamt (vgl. Wößmann, 2020). Eine Betrachtung der Befunde für leistungsschwächere und -stärkere Schüler*innen und Akademiker- und Nicht-Akademikerkinder zeigt zum Teil deutliche Unterschiede. Während sich die Lernzeit Anfang 2021 nicht wesentlich nach schulischen Leistungen und Familienhintergrund unterscheidet, erhalten Nicht-Akademikerkinder deutlich seltener Online-Unterricht und haben - wie auch leistungsschwächere Kinder - weniger individuellen Kontakt zu ihren Lehrkräften. Auch die Effektivität des Lernens zu Hause wird für leistungsschwächere Kinder und Nicht-Akademikerkinder als deutlich geringer eingeschätzt. Darüber hinaus sind Nicht-Akademikerkinder deutlich seltener in den Genuss von Fördermaßnahmen gekommen als Akademikerkinder, und auch der Fokus auf leistungsschwächere Schüler*innen war in den meisten Fällen nur gering ausgeprägt. Die Befunde deuten darauf hin, dass sich die Bildungsungleichheit durch die Corona-bedingten Schulschließungen weiter verschärfen dürfte. Insgesamt ist die große Heterogenität, wie verschiedene Kinder und Jugendliche mit dem Homeschooling klarkommen, ein besonders hervorstechender Aspekt in den Ergebnissen. Dies gilt nicht nur für die großen Unterschiede in der Lernzeit und im Zugang zum täglichen Online-Unterricht. Auch bei der Effektivität des Lernens zu Hause gibt immerhin ein gutes Fünftel der Eltern an, dass ihr Schulkind in einer Stunde Lernen zu Hause mehr lernt als in einer Stunde regulärem Unterricht in der Schule - auch wenn eine deutliche Mehrheit das andersherum sieht. Besonders deutlich wird die Heterogenität im Befund, dass jeweils knapp die Hälfte der Eltern zustimmt bzw. widerspricht, dass ihr Kind zu Hause sehr konzentriert lernt. All dies zeigt, dass man von Einzelerfahrungen im Homeschooling nicht auf die Gesamtsituation verallgemeinern kann. Die Situation der Schulkinder während der Schulschließungen in der Pandemie 305 Anmerkungen 1 Für einen Überblick über Veröffentlichungen zum Thema Schule und Corona in Deutschland siehe Fickermann, Volkholz & Edelstein (2021) und Helm, Huber & Loisinger (2021). Bezüglich der Situation Anfang 2021 finden Anger et al. (2021) in einer Befragung von Gymnasiast*innen in der Oberstufe, dass sich die Lernsituation im Distanzunterricht für diese Schülergruppe verbessert hat. Ravens-Sieberer et al. (2021) zeigen anhand der repräsentativen COPSY-Studie, dass sich das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie stark verschlechtert hat. Huebener, Siegel, Spieß, Spinner und Wagner (2021) finden in einer Befragung nach zwei Monaten des zweiten Lockdowns, dass die Zufriedenheit von Eltern mit dem Familienleben und dem Leben allgemein gesunken ist. 2 Obwohl es sich bei den beiden Wellen um unterschiedliche Stichproben handelt, konnte rund die Hälfte der ersten Stichprobe in der zweiten Befragung wiederbefragt werden. Eine eingehende Untersuchung der longitudinalen Komponente steht noch aus, aber eine erste vorläufige Betrachtung deutet darauf hin, dass eine Analyse der Wiederbefragten qualitativ sehr ähnliche Ergebnisse zur Veränderung im Zeitverlauf ergibt wie die hier berichteten jeweiligen Gesamtstichproben. 3 Die Einteilung in leistungsschwächere und -stärkere Schüler*innen geschieht nach dem Median der Durchschnittsnote in Mathematik und Deutsch im jeweiligen Schultyp. Die Einteilung in Akademikerkinder und Nicht-Akademikerkinder bezieht sich auf Kinder von Befragten mit und ohne Hochschulabschluss. 4 Für eine Aufschlüsselung der Angaben nach Geschlecht und Schulart siehe Wößmann et al. (2020, 2021). Literatur Anger, S., Bernhard, S., Dietrich, H., Lerche, A., Patzina, A., Sandner, M. & Toussaint, C. (2021). Der Abiturjahrgang 2021 in Zeiten von Corona: Zukunftssorgen und psychische Belastungen nehmen zu. IAB-Forum. Zugriff am 1. 4. 2021 unter https: / / www.iab-forum.de/ schulschliessungen-wegen-corona-regelmassiger-kon takt-zur-schule-kann-die-schulischen-aktivitaten-derjugendlichen-erhohen/ Fickermann, D., Volkholz, B. & Edelstein, B. (2021). Bibliographie zum Thema „Schule und Corona“. Die Deutsche Schule, Beiheft Band 17: 213 - 233. Grewenig, E., Lergetporer, P., Werner, K., Wößmann, L. & Zierow, L. (2020). COVID-19 and Educational Inequality: How School Closures Affect Lowand High- Achieving Students. CESifo Working Paper 8648. CESifo, München. Helm, C., Huber, S. & Loisinger, T. (2021). Was wissen wir über schulische Lehr-Lern-Prozesse im Distanzunterricht während der Corona-Pandemie? - Evidenz aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, im Erscheinen. Huebener, M., Siegel, N., Spieß, C. K., Spinner, C. & Wagner, G. G. (2021). Kein „Entweder-oder“: Eltern sorgen sich im Lockdown um Bildung und Gesundheit ihrer Kinder. Zugriff am 1. 4. 2021 unter https: / / www.diw. de/ documents/ publikationen/ 73/ diw_01.c.810996. de/ diw_aktuell_59.pdf Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Erhart, M., Devine, J., Hölling, H., Schlack, R., … Otto, C. (2021). Quality of Life and Mental Health in Children and Adolescents during the First Year of the COVID-19 Pandemic in Germany: Results of a Two-Wave Nationally Representative Study. Zugriff am 1. 4. 2021 unter https: / / ssrn.com/ ab stract=3798710 Wößmann, L. (2020). 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