Psychologie in Erziehung und Unterricht
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2021.art20d
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Diagnostik und Fördertraining: das Konzept von „Lesen macht stark – Grundschule“
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Simone Jambor-Fahlen
Michael Becker-Mrotzek
Am Ende der Grundschulzeit sollen Kinder unterschiedliche literarische und faktuale (= auf Fakten bezogene) Textformen flüssig, sinnverstehend und nutzbringend lesen können. Außerdem sollen sie kohärente und sinnvolle Texte flüssig sowie orthografisch weitgehend korrekt verfassen können. Schriftsprachliche Kompetenzen sind nicht nur ein zentrales Fundament für den Bildungserfolg, sondern auch eine Basis für die Teilhabe an der Gesellschaft und der Berufswelt. Literale Kompetenzen, d.h. die Fähigkeit zur produktiven und rezeptiven Nutzung von Schrift und Text, gehören daher zu Recht zu den Schlüsselqualifikationen. Allerdings zeigen die aktuellen nationalen und internationalen Vergleichsstudien, dass nicht alle Kinder über ausreichende schriftsprachliche Kompetenzen für einen erfolgreichen Bildungsweg verfügen.
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2021, 68, 264 -266 DOI 10.2378/ peu2021.art20d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel n Stichwort Diagnostik und Fördertraining: das Konzept von „Lesen macht stark - Grundschule“ Assessment and Pull-Out Program: the concept of „Lesen macht stark - Primary School“ Simone Jambor-Fahlen, Michael Becker-Mrotzek Universität zu Köln Hintergrund Am Ende der Grundschulzeit sollen Kinder unterschiedliche literarische und faktuale (= auf Fakten bezogene) Textformen flüssig, sinnverstehend und nutzbringend lesen können. Außerdem sollen sie kohärente und sinnvolle Texte flüssig sowie orthografisch weitgehend korrekt verfassen können. Schriftsprachliche Kompetenzen sind nicht nur ein zentrales Fundament für den Bildungserfolg, sondern auch eine Basis für die Teilhabe an der Gesellschaft und der Berufswelt. Literale Kompetenzen, d. h. die Fähigkeit zur produktiven und rezeptiven Nutzung von Schrift und Text, gehören daher zu Recht zu den Schlüsselqualifikationen. Allerdings zeigen die aktuellen nationalen und internationalen Vergleichsstudien, dass nicht alle Kinder über ausreichende schriftsprachliche Kompetenzen für einen erfolgreichen Bildungsweg verfügen. Der vom IQB erhobene Bildungstrend 2016 (Stanat, Schipolowski, Rjosk, Weirich & Haag, 2017) erfasst neben der Leseauch die Rechtschreibkompetenz von Viertklässlern in Deutschland. Hier verfehlen knapp 13 % der untersuchten Kinder den Mindeststandard im Lesen; im Bereich der Orthografie sind es sogar 22 %. Für diese Gruppe ist zu befürchten, dass sie ohne zusätzliche Förderung auch noch in der Sekundarstufe erhebliche Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben aufweisen. Es gibt also Schülerinnen und Schüler, die deutlich hinter dem erwarteten Lernerfolg zurückbleiben und eine Förderung ihrer Lese- und Schreibfähigkeiten benötigen. Um eine individuelle Förderung anbieten zu können, ist zunächst eine gezielte Diagnostik erforderlich. Vor diesem Hintergrund hat das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln gemeinsam mit dem Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) und dem Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel Material zur Diagnostik und Förderung von Lese- und Schreibkompetenz für die Jahrgangsstufen 1 bis 4 entwickelt. Das Konzept von Lesen macht stark - Grundschule Das Diagnose- und Fördermaterial Lesen macht stark - Grundschule (= Lms, https: / / www.merca tor-institut-sprachfoerderung.de/ de/ forschungentwicklung/ aktuelle-projekte/ lesen-machtstark/ ) umfasst wichtige Teilbereiche des Schriftspracherwerbs, d. h. Schrift lesen und produzieren sowie Texte verstehen und produzieren. Die möglichst frühe Identifizierung derjenigen Kinder, die Unterstützung beim Schriftspracherwerb benötigen, und die darauf basierende individuelle Förderung, ist zentrales Anliegen des Projekts. Vorhandene (standardisierte) Testinstrumente sind jedoch oftmals sehr differenziert und testen mit großem Aufwand einzelne Teilbereiche des Lesens oder Schreibens. Hierfür ist in der Praxis meist nicht ausreichend Zeit vorhanden, sodass diese Tests oft nicht eingesetzt werden. Aus dieser Situation heraus ist das Diagnose- und Förderinstrument Lesen macht stark - Grundschule als effizientes und ökonomisches Screeningverfahren entstanden. Das Material erfasst über die gesamte Grundschulzeit an insgesamt zwölf Messzeitpunkten die Lese- und Schreibfähig- „Lesen macht stark - Grundschule“: Diagnostik und Fördertraining 265 keiten der Kinder und kann so im Sinne einer formativen Diagnostik lernprozessbegleitend eingesetzt werden. Das Material besteht aus einem Lehrer- und einem Schülerheft und ist so konzipiert, dass es unabhängig von Fachcurricula und flankierend zu allen Lehrwerken eingesetzt werden kann. Zu jedem Aufgabentyp gibt es sowohl Klassenals auch strukturell analoge Einzelaufgaben. Die Klassenaufgaben werden mit der gesamten Lerngruppe bearbeitet. Sie stellen ein Screening dar, um schnell und arbeitsökonomisch den Entwicklungsstand aller Kinder zu erfassen, und erfüllen damit eine Filterfunktion: Die Kinder, die bei den Klassenaufgaben weniger Punkte erreichen als in sog. Cut-off-Werten angegeben (diese Schwellenwerte wurden in einer Pilotierungsstudie ermittelt und sind unter den Aufgaben im Lehrerheft abgedruckt), sollten zur Absicherung der Ergebnisse die Einzelaufgaben in einer Einzel- oder Kleingruppensituation bearbeiten. Um individuelle Angebote zur Unterstützung und Förderung zusammenstellen zu können, schließen sich im Lehrerheft an jeden Messzeitpunkt Förderseiten an. Diese enthalten jeweils zu zentralen Merkmalen des Lese- und Schriftspracherwerbs praktische Hinweise, Übungen und Spiele sowie Erkenntnisse aus Sicht der Wissenschaft. Zunächst wurden die Test- und Förderaufgaben in einer Pilotierungsstudie sorgfältig geprüft und daraufhin optimiert. Nach Abschluss der Pilotierung wurde zu Beginn des Schuljahres 2014/ 15 das fertiggestellte Material an 110 Schulen in Schleswig-Holstein eingeführt. Gleichzeitig begann eine Evaluationsstudie in der ersten und zweiten Jahrgangsstufe, um die Diagnosequalität und die Wirksamkeit des Instruments zu überprüfen. An dieser Evaluationsstudie nahmen 1.555 Kinder aus 30 Schulen im Großraum Kiel- Lübeck teil. Das Diagnoseinstrument zeigt gute Ergebnisse bei der Identifikation lese- und schreibschwacher Schülerinnen und Schüler. Der punktuelle Abgleich des Lms-Materials (einzelne Aufgaben) mit den eingesetzten standardisierten Verfahren (hier das Salzburger Lese- und Rechtschreibscreening von Landerl, Wimmer & Moser, 1997) ergab eine Schnittmenge von bis zu 87 %. Das heißt, dass sich die Ergebnisse beider Verfahren in bis zu 87 % der Fälle decken. Die Leistungsdaten zeigten jedoch keinerlei signifikante Vorteile für die Kinder der Interventionsgruppe. Gründe hierfür werden in einer unsystematischen Förderung vermutet. Die Lehrkräfte nutzten die Förderstunden weitgehend zur Förderung der durch die Lesen-macht-stark-Aufgaben ermittelten Kinder. Es lagen jedoch keine Daten vor, inwieweit die Förderhinweise aus Lesen macht stark - Grundschule in den jeweiligen Stunden Einsatz gefunden haben oder andere Fördermittel genutzt wurden. Auch die Förderzeiten und Inhalte der Förderung wurden nicht erhoben. Insofern bleibt allgemein unklar, welchen Einfluss die Förderung auf die Leistungen der Kinder hatte. Es ist zu vermuten, dass sich dadurch die marginalen Unterschiede in den jeweiligen Gruppen erklären lassen. Aus diesem Grund wurde Lesen macht stark - Grundschule durch die Entwicklung eines Fördertrainings ergänzt. Dieses wurde in einer Studie, die einerseits die konzepttreue Umsetzung (Implementation Fidelity) und andererseits die Wirksamkeit des Materials auf die Lese- und Schreibleistung der Kinder untersucht, überprüft. Die Entwicklung von Lesen macht stark - Training Bei dem Konzept Lesen macht stark - Training handelt es sich um ein strukturiertes Trainingsprogramm, das zum aktuellen Zeitpunkt für die erste Klasse vorliegt. Im Fokus steht die Förderung der basalen Lese- und Schreibfertigkeiten auf Buchstaben- und Wortebene. Die Strukturierung folgt einem festen Schema und gliedert sich in mehrere, immer wiederkehrende Phasen. Alle Trainingseinheiten in Lesen macht stark - Training gliedern sich in fünf Phasen. In jeder Trainingseinheit durchlaufen die Schülerinnen und Schüler die Phasen Herstellung der Zieltransparenz (1), Aktivierung des Vorwissens (2), Instruktion (3), Automatisierung (4) und Formatives Feedback (5). Das Lernen im Tandem sowie die Zusammensetzung des Tandems bilden ein zentrales Element des gemeinsamen Lernens. Ziel des Trainings- 266 Simone Jambor-Fahlen, Michael Becker-Mrotzek materials ist es, Kinder mit Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb frühzeitig, regelmäßig und nachhaltig beim Erwerb der Schriftsprache zu fördern. Dabei kommt der Automatisierung als wichtiger Aspekt der basalen Lese- und Schreibfähigkeiten eine zentrale Bedeutung zu. Automatisierung wird durch häufiges Wiederholen erreicht. Dabei ist die Übungszeit ein wichtiger Faktor für das Gelingen eines schnellen und automatisierten Abrufs. Durch häufiges Wiederholen automatisiert sich der kognitive Zugriff. Diese Automatisierung führt zu einer Entlastung des Arbeitsgedächtnisses, was wiederum dazu führt, dass weniger kognitive Ressourcen für das Planen eines Textes oder das Nachdenken über die richtige Schreibung benötigt werden. Die Automatisierung führt somit zu einer Kapazitätserweiterung (Jansen & Streit, 2006). Lernpsychologischen Erkenntnissen zufolge sind kurze, häufige Fördereinheiten effektiver als längere und seltener durchgeführte (Mannhaupt, 2006). Entsprechend wird das hier vorliegende Training viermal wöchentlich in Einheiten von jeweils etwa 20 Minuten Länge durchgeführt. Die Wirkung des Trainings sowie die Implementation des Materials in den Schulen wurde in einer Interventionsstudie im Schuljahr 2018/ 19 mit insgesamt 20 Klassen überprüft. In einem Kontrollgruppendesign wurden je 10 Klassen aus fünf Schulen (N = 460) in die Studie miteinbezogen. Erste Ergebnisse zur Implementation liegen nun vor: Um zu prüfen, inwieweit die teilnehmenden Lehrkräfte die Diagnostik mit dem Material Lesen macht stark - Grundschule sowie den Einsatz des Trainings akzeptiert haben, wurde ein umfangreicher Fragebogen eingesetzt. Insgesamt nahmen neun Lehrkräfte an der Studie teil. Die Zuweisung in die Fördergruppen auf Basis des Lms-Diagnosematerials halten die Lehrkräfte für eher zuverlässig bis sehr zuverlässig. Alle Lehrkräfte haben die Elemente des Trainings genutzt. Die Lehrkräfte gaben weiterhin alle an, dass sie kein zusätzliches Material zur Förderung eingesetzt haben. Nach Aussagen der Lehrkräfte wurde das Training insgesamt konzepttreu umgesetzt. Darüber hinaus bewerten die Lehrkräfte das Trainingsmaterial grundsätzlich als eher positiv bis sehr positiv. Insbesondere der Aspekt der Automatisierung wird von den Lehrkräften als sehr positiv bewertet. Neben einem Lehrerfragebogen wurden auch weitere Erhebungsinstrumente zur Erfassung der Implementation eingesetzt, deren Auswertung zum jetzigen Zeitpunkt noch andauert. Ausblick Mit Lesen macht stark - Grundschule wurde ein Instrument vorgestellt, das eine kontinuierliche Erfassung der Lese- und Schreibleistungen und eine darauf aufbauende Förderung für die verschiedenen Teilbereiche literaler Kompetenzen ermöglicht. Anschließend wurde ein ergänzendes Trainingsprogramm vorgestellt. Erste Auswertungen zeigen, dass das Training bei den Lehrkräften eine hohe Akzeptanz erfährt. Ein detaillierter Evaluationsbericht mit allen Ergebnissen der Studie - auch zur Wirksamkeit des Trainings auf die basalen Lese- und Schreibfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler - ist derzeit in Vorbereitung. Literatur Jansen, F. & Streit, U. (2006). Positiv lernen. Berlin Heidelberg New York: Springer. Landerl, K., Wimmer, H. & Moser, E. (1997). Salzburger Lese-und Rechtschreibtest: Verfahren zur Differentialdiagnose von Störungen des Lesens und Schreibens für die 1. und 4. Schulstufe. Bern: Hans Huber. Mannhaupt, G. (2006). MÜT Münsteraner Trainingsprogramm: Handreichungen; ein Programm zur Förderung der phonologischen Bewusstheit für den Schulanfang, Materialien mit Kopiervorlagen. Berlin: Cornelsen. Stanat, P., Schipolowski, S., Rjosk, C., Weirich, S. & Haag, N. (2017). IQB-Bildungstrend 2016. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Münster; New York: Waxmann. Dr. Simone Jambor-Fahlen Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek Mercator Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache Universität zu Köln Albertus Magnus Platz D-50923 Köln E-Mail: simone.jambor-fahlen@mercator. uni-koeln.de michael.becker-mrotzek@mercator. uni-koeln.de
