eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 68/4

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2021.art27d
101
2021
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Schulschließungen in Österreich – Ein Fazit nach einem Jahr Pandemie

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2021
Christoph Helm
Alexandra Postlbauer
Im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz wurden in Österreich die Schulen gleich drei Mal geschlossen. Die Schulschließungen und ihre Effekte auf alle Beteiligten wurden intensiv erforscht; mit über 20 Befragungen (N>50.000 Personen) zum ersten Lockdown in Österreich. Die Befunde decken sich nur teilweise mit jenen aus Deutschland und der Schweiz. Erste vergleichende Studien zeigen aber, dass in Österreich und Deutschland die Belastung der Schüler*innen und ihrer Eltern während des letzten Jahres deutlich gestiegen ist. Gleichzeitig verweisen erste Leistungsstudien aus Deutschland darauf, dass keine dramatischen Lerneinbußen durch coronabedingte Veränderungen im Unterrichtsgeschehen beobachtbar sind. Ebenso wie in Deutschland ist auch in Österreich eine Zunahme der Digitalisierung in Schulen und der von Schüler*innen zu Hause investierten Lernzeit beobachtbar, was die Hoffnung auf vergleichbar geringe Lerneinbußen in Österreich nährt. Dennoch hat die Pandemie die Schwächen und Stärken des österreichischen Schulsystems deutlich gemacht. Die Politik ist gefordert, insbesondere jene Gruppen zu unterstützen, die unter den Schwächen des Systems in der Pandemie besonders gelitten haben. Hierzu sind u.a. remediale Maßnahmen für sozioökonomisch benachteiligte und/oder leistungsschwache Schüler*innen wichtig. Schließlich ist die Wissenschaft gefordert, resiliente Schulsystem-, Schul- und Unterrichtsmerkmale zu erforschen, um Implikationen für ähnliche, künftige Situationen ableiten zu können.
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2021, 68, 306 -311 DOI 10.2378/ peu2021.art27d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel n Forum Schulschließungen in Österreich - Ein Fazit nach einem Jahr Pandemie Christoph Helm, Alexandra Postlbauer Johannes Kepler Universität Linz Zusammenfassung: Im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz wurden in Österreich die Schulen gleich drei Mal geschlossen. Die Schulschließungen und ihre Effekte auf alle Beteiligten wurden intensiv erforscht; mit über 20 Befragungen (N > 50.000 Personen) zum ersten Lockdown in Österreich. Die Befunde decken sich nur teilweise mit jenen aus Deutschland und der Schweiz. Erste vergleichende Studien zeigen aber, dass in Österreich und Deutschland die Belastung der Schüler*innen und ihrer Eltern während des letzten Jahres deutlich gestiegen ist. Gleichzeitig verweisen erste Leistungsstudien aus Deutschland darauf, dass keine dramatischen Lerneinbußen durch coronabedingte Veränderungen im Unterrichtsgeschehen beobachtbar sind. Ebenso wie in Deutschland ist auch in Österreich eine Zunahme der Digitalisierung in Schulen und der von Schüler*innen zu Hause investierten Lernzeit beobachtbar, was die Hoffnung auf vergleichbar geringe Lerneinbußen in Österreich nährt. Dennoch hat die Pandemie die Schwächen und Stärken des österreichischen Schulsystems deutlich gemacht. Die Politik ist gefordert, insbesondere jene Gruppen zu unterstützen, die unter den Schwächen des Systems in der Pandemie besonders gelitten haben. Hierzu sind u. a. remediale Maßnahmen für sozioökonomisch benachteiligte und/ oder leistungsschwache Schüler*innen wichtig. Schließlich ist die Wissenschaft gefordert, resiliente Schulsystem-, Schul- und Unterrichtsmerkmale zu erforschen, um Implikationen für ähnliche, künftige Situationen ableiten zu können. Schlüsselbegriffe: 3. Lockdown, Distance Learning, Repräsentativität, Elternbefragung, Österreich School lockdowns in Austria - Findings after one year COVID-19 pandemic Summary: In contrast to Germany and Switzerland, in Austria schools were closed three times during the COVID-19 pandemic. The school lockdowns and their effects on all stakeholders have been intensively researched; with, for example, over 20 surveys (N > 50,000 people) on the first lockdown in Austria. The findings from these studies are only partially consistent with those from Germany and Switzerland. However, initial comparative show that in Austria and Germany the psychological stress perceived by students and their parents increased significantly over the past year. At the same time, initial performance studies from Germany indicate that no dramatic COVID-19related learning losses were observed. As in Germany, an increase in the use of digital media in schools and in the learning time at home can be observed in Austria. These findings nourish the hope of similarly low learning losses in Austria. Nevertheless, the pandemic has highlighted the weaknesses and strengths of the Austrian school system. Policymakers are called upon to support in particular those groups that suffered most from the system’s weaknesses during the pandemic. For this purpose, remedial measures for socioeconomically disadvantaged and/ or low-performing students are particularly important. Finally, the scientific community is called upon to research characteristics of (crisis-)resilient school systems, schools and teaching in order to be able to derive implications for the future. Keywords: 3rd Lockdown, Distance Learning, Representativity, Parent survey, Austria Schulschließungen in Österreich - Ein Fazit nach einem Jahr Pandemie 307 Der traditionelle Schulbetrieb wurde in Österreich während der Pandemie bisher drei Mal eingestellt. Nach den ersten beiden Schulschließungen vom 16. 3. - 18. 5. 2020 und vom 3. 11. - 6. 12. 2020 (BMBWF GZ 2020-0.748.656), wurde vom 7. 1. - 14. 2. 2021 der Schulbetrieb gemäß Erlass (BMBWF GZ 2020-0.834.140) ein weiteres Mal auf ortsungebundenen Unterricht umgestellt. Durch die Schließung der Schulen entfielen von März 2020 bis Januar 2021 in Volksschulen, Mittelschulen und in der Unterstufe der allgemeinbildenden höheren Schulen rund 40 % der regulären Schultage; in der Oberstufe etwa 60 % (siehe Abbildung 1). Österreichischen Schüler*innen entging dadurch deutlich mehr Unterrichtszeit als Schüler*innen aus Deutschland oder der Schweiz, wo es bis Januar 2021 keinen zweiten oder nur teilweise einen zweiten (und dritten) Schul-Lockdown gab. Wie lange einzelne Schüler*innen aber tatsächlich ortsungebunden unterrichtet wurden, variiert nicht nur zwischen den Schultypen, sondern auch innerhalb von Schulen. Die Verordnungen zu allen drei Lockdowns sahen nämlich vor, dass Schulen - Fernunterricht seit März: Tage mit Präsenzunterricht Präsenzunterricht im Schichtbetrieb Fernunterricht für alle Fernunterricht Oberstufe Wochenende/ Feiertage/ Ferien 10. 20. 30. März April Mai Juni Juli Ferienbeginn/ -ende gestaffelt 10. 20. 30. Sept. Okt. Nov. Dez. Jan. Feb. Semesterferien gestaffelt ab 1. Februar geplant Tage ohne Präsenzunterricht: Mitte März 2020 bis 22. Januar 2021 Grafik: © APA Volksschule, Mittelschule, AHS-Unterstufe rund 40 % Oberstufe rund 60 % Abb. 1: Schulen - Fernunterricht seit März (APA, 2021) 308 Christoph Helm, Alexandra Postlbauer Schüler*innen, deren häusliche Betreuung nicht sichergestellt werden konnte, die pädagogische Unterstützung benötigten oder über keinen adäquaten Arbeitsplatz bzw. keinen Zugang zu IT-Endgeräten verfügten, auch weiterhin in der Schule zu beaufsichtigen waren. Die von Helm und Postlbauer (2021) in Österreich durchgeführte, repräsentative Elternbefragung zeigt, dass diese Betreuungsmöglichkeit von Eltern im dritten Lockdown intensiv genutzt wurde. Rund ein Drittel der 3.450 befragten Eltern gab an, dass ihr jüngstes schulpflichtiges Kind mehr als drei Stunden pro Tag in der Schule betreut wurde. Darüber hinaus nahm jede vierte Familie während der Schulschließungen Anfang 2021 das Angebot einer Kinderbetreuung außerhalb des eigenen Haushalts in Anspruch. Diese Betreuungsmöglichkeiten waren im ersten Lockdown noch deutlich stärker eingeschränkt. Damit zeigt sich, dass die Schulsituation während der Pandemie eine sehr komplexe war (und ist), die sich nicht nur zwischen Schüler*innengruppen und Schultypen unterscheidet, sondern auch eine, die sich im Zeitverlauf sehr rasch ändert(e). Um diese komplexe Situation zu analysieren und ihre Effekte zu erforschen, wurde in Österreich eine Vielzahl von Studien durchgeführt (für eine Übersicht siehe Helm, Huber & Loisinger, 2021). Die Befunde der österreichischen Befragungen zu den analysierten Aspekten des ortsungebundenen Unterrichts (z. B. Belastungserleben, fremd- und selbsteingeschätzter Lernerfolg, Lernaufwand, Lernmotivation, Selbstständigkeit allgemein und selbstgesteuertes Lernen, technische Ausstattung zu Hause, familiäre Unterstützung im Fernunterricht, Qualitätsaspekte des Fernunterrichts, Lehrerkompetenzen, Einsatz digitaler Medien im Fernunterricht) scheinen sich im Wesentlichen mit jenen aus Deutschland und der Schweiz zu decken. Darauf deuten zumindest Ergebnisse einer ersten Meta-Analyse (Helm & Huber, 2021) auf Basis von Befragungen zum ersten Lockdown hin. Sie zeigen die Einschätzung der befragten Personen zu den Aspekten technische Ausstattung der Schüler*innen zu Hause, fremd- und selbsteingeschätzter Lernerfolg, Konflikte und Streit zu Hause, Wissen der Eltern für die Lernbetreuung ihrer Kinder, Qualität des Fernunterrichts, kaum systematische Unterschiede zwischen den drei DACH-Ländern. Auf Ebene international vergleichender bzw. vergleichbarer Einzelstudien zeigt sich ein ähnliches Bild. So verweist die Replikationsstudie der repräsentativen deutschen ifo-Elternbefragung (Wößmann et al., 2020) für Österreich (Helm & Postlbauer, 2021) darauf, dass die Befunde im Bereich der Einschätzung des Lernerfolgs der Kinder sehr ähnlich sind. Auch für die Bereiche häusliche und psychische Belastung, für schulische Aktivitätenzeit, Problemen bei der Online-Lehre und Einschätzung der Aktivitäten der Schule bzw. der Lehrkräfte zeigen sich nur geringfügige Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich. Anders ist dies in der auf den Einsatz digitaler Medien im Fernunterricht fokussierten internationalen Studie von Vuorikari, Velicu, Chaudron, Cachia und Di Gioia (2020). Dort zeigt sich, dass Eltern aus Deutschland deutlich seltener als Eltern aus Österreich und der Schweiz davon berichten, dass im Fernunterricht ihrer Kinder digitale Kommunikations- und Lerntools wie Emails, Messenger- Apps, Videochats oder digitale Lernplattformen und -apps zum Einsatz kommen. Auch Huber et al. (2020) zeigen auf Basis einer Befragung von 5.167 Mitarbeitenden an Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, dass in den Bereichen technische Ausstattung der Schule und der Schüler*innen, Engagement der Schüler*innen, Kontrolle von Lernaufgaben, Lehrerkooperation, Unterstützung der Eltern, Betreuung der Schüler*innen bedeutende Unterschiede - meist zugunsten von Mitarbeitenden aus Österreich und/ oder der Schweiz - beobachtbar sind. Bedeutsame Entwicklungen während der Krise Zunahme der Digitalisierung in Schulen! Die (Bildungs-)Politik in Österreich, Deutschland und der Schweiz fokussiert seit einigen Jahren die Digitalisierung der Schulen. So fordert etwa das österreichische Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung im Jahr Schulschließungen in Österreich - Ein Fazit nach einem Jahr Pandemie 309 2018 den Fortschritt des Bildungssystems in Hinblick auf digitale Lehr- und Lernprozesse (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, 2018). Der Einsatz digitaler Tools in Form von Lernsoftware oder -videos nahm jedoch erst im Laufe der Corona-Pandemie verstärkt zu. So berichten rund zwei Drittel der befragten Eltern im Februar 2021, dass ihr Kind täglich oder mehrmals wöchentlich Lernsoftware (Apps) und/ oder digitale Lernplattformen nutzt, während dies im ersten Lockdown deutlich weniger waren (Helm & Postlbauer, 2021; Wößmann et al., 2020). Auch der Review zu den rund 100 Befragungsstudien im DACH-Raum zeigt, dass bspw. der Einsatz von Videokonferenzen im Fernunterricht bereits im Laufe des ersten Lockdowns stark angestiegen ist (Helm et al., 2021). Zunahme der Belastung! Die Belastung der Schüler*innen und ihrer Eltern ist während des letzten Jahres deutlich gestiegen. Schüler*innen fühlen sich energieloser und verärgerter und klagen über eine erhöhte Arbeitsbelastung, den Mangel an Strukturen und den fehlenden Kontakt zu den Lehrkräften. Gleichzeitig sind sie entspannter und sorgenfreier als früher und heben die Flexibilität in der Zeiteinteilung und die gewonnene Selbstständigkeit im Erledigen von Aufgaben positiv hervor (Schwab, Lindner & Kast, 2020). Mädchen, Schüler*innen aus Haushalten von Alleinerziehenden oder multilingualen Haushalten und Schüler*innen, deren Eltern geringer qualifiziert sind, berichten vergleichsweise häufiger von Unsicherheit und Überforderung (Holtgrewe, Lindorfer, Siller & Vana, 2020). Homeschooling ist für Eltern eine große zeitliche Belastung. Mütter, Alleinerziehende und Familien mit niedrigerem sozialen Status sind stärker davon betroffen (Berghammer, 2020). Etwa jeder zweite Elternteil berichtet darüber, am Limit zu sein, kaum noch Zeit für sich selbst zu haben und die Schulschließungen als große psychische Belastung wahrzunehmen (Helm & Postlbauer, 2021). Als größte Herausforderungen für ihre Kinder nennen Eltern das selbstständige Lernen sowie den fehlenden Sozialkontakt zu Gleichaltrigen. Für sich selbst schätzen sie die Lernbegleitung ihrer Kinder und die fehlende Zeit dafür als am meisten herausfordernd ein. Zunahme der Lerneinbußen? Während für die USA, England, die Niederlande, Belgien, Deutschland und die Schweiz bereits Studien vorliegen (für eine Zusammenfassung siehe Helm, 2021) liegen für Österreich noch keine Studien zu Leistungsentwicklungen von Schüler*innen während der Lockdowns vor. Für Österreich erscheinen die Befunde aus Deutschland und der Schweiz interessant; darunter groß angelegte Schüler*innenleistungsstudien aus den Bundesländern Hamburg (rund 28.000 Schüler*innen, Depping, Lücken, Musekamp &Thonke, 2021), Baden-Württemberg (rund 80.000, Schult, Mahler, Fauth & Lindner, 2021), Hessen und Nordrhein-Westfalen (rund 5.000, Förster, Forthermann, Holl, Back & Souvignier, 2021) sowie eine Studie aus der deutschsprachigen Schweiz (rund 29.000, Tomasik, Helbling & Moser, 2020). Alle Studien verglichen den Leistungsstand oder die Lernentwicklung der Schüler*innenkohorte 2020 mit dem Lernstand oder der Lernentwicklung von Schüler*innenkohorten (meist mehrerer Jahrgänge) vor Corona, um die negativen Effekte der Corona-Lockdowns zu untersuchen. Die Leistungen wurden in den Bereichen Deutsch, Lesen und / oder Mathematik erfasst. Die Studien aus Deutschland zeigen, dass entweder keine oder nur schwache Unterschiede (etwa im Ausmaß von vier Wochen Lernzuwachs; Schult et al., 2021) zwischen den Schüler*innenleistungen (und Leistungsentwicklungen) vor und während bzw. nach Corona beobachtbar sind. Damit konnten für den ersten Lockdown in Deutschland keine dramatischen Einbußen in den untersuchten Kompetenzen durch coronabedingte Veränderungen im Unterrichtsgeschehen festgemacht werden. Dagegen zeigte die Schweizer Studie, dass für Schüler*innen der Primarstufe der Lernerfolg während des Lockdowns nur halb so groß war wie vor dem Lockdown. Um die spezifische Situation in Österreich hinsichtlich der Leistungsentwicklung von Schüler*innen während der Pandemie zu analysieren, sind Large Scale 310 Christoph Helm, Alexandra Postlbauer Assessments nötig. Hier ist die Bildungspolitik und -forschung gefordert. Zunahme der Lernzeit zu Hause! Befunde aus Deutschland und Österreich zum ersten bzw. dritten Lockdown zeigen eine Zunahme der Lernzeit zu Hause. So lernten österreichische Kinder zu Hause während der coronabedingten Schulschließungen (3,7 Stunden pro Tag) etwa 1,3 Stunden mehr pro Tag als vor Corona (2,4 Stunden pro Tag) (Helm & Postlbauer, 2021). Deutsche Schulkinder verbrachten vor Corona 1,5 Stunden mit dem Lernen zu Hause, im Frühjahr 2020 2,7 Stunden pro Tag und Anfang 2021 3,3 Stunden pro Tag (Wößmann et al., 2021). Obwohl Eltern davon berichten, dass sich der tägliche Lernaufwand ihrer Kinder Anfang 2021 im Vergleich zum Vorjahr deutlich gesteigert hat, zeichnet sich insgesamt dennoch nach einem Jahr Pandemie - 7,8 Stunden schulische Aktivitäten pro Tag vor Corona vs. 6,0 Stunden pro Tag während Corona - ein nicht unerheblicher Lernzeitverlust ab (Helm & Postlbauer, 2021). Nutzung von remedialen Maßnahmen? Rund ein Drittel bis ein Viertel der Eltern gibt an, remediale Maßnahmen in Form von zusätzlichem Förderunterricht, Lernbetreuung in den Ferien oder den Besuch der Sommerschule für ihre Kinder in Anspruch nehmen zu wollen (Helm & Postlbauer, 2021). Der Bedarf der Inanspruchnahme von zusätzlichen Fördermaßnahmen ist vor allem bei Eltern von leistungsschwächeren Kindern besonders stark ausgeprägt. Mit Ausnahme der Sommerschule geben auch Eltern ohne akademischen Bildungsabschluss häufiger an, die Maßnahmen wahrnehmen zu wollen. In der deutschen Vergleichsstudie zum Lockdown Anfang 2021 (Wößmann et al., 2021) ist der Anteil jener Kinder, die zumindest eine der angebotenen Fördermaßnahmen wahrgenommen haben, bei leistungsschwächeren Kindern stärker ausgeprägt als bei leistungsstärkeren. Es nahmen jedoch wider Erwarten Akademikerkinder häufiger als Nicht- Akademikerkinder an Unterstützungsmaßnahmen wie Förderunterricht oder Ferienkursen teil. Lehren aus der Pandemie Um nach Corona nicht in alte Muster zu verfallen, ist es notwendig, Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Die Pandemie hat die Schwächen und Stärken des österreichischen Schulsystems deutlich gemacht. Die Politik ist gefordert vor allem jene Gruppen zu unterstützen, die unter den Schwächen des Systems in der Pandemie besonders gelitten haben. Insbesondere die Reduktion der Belastung der Schüler*innen und Eltern stellt mit Andauer des Lockdowns eine zentrale Herausforderung für die Politik dar. Denn während erste Schulleistungsstudien zeigen, dass die Lernverluste nicht „dramatisch“ ausfallen, stieg die Belastung der Akteure im Schulsystem deutlich an. Die aktuelle Befundlage gibt Hinweise, wie mit dieser Herausforderung umgegangen werden kann: - Die Daten aus der repräsentativen Elternbefragung zum dritten Lockdown in Österreich zeigen, dass eine nur teilweise Schließung der Schulen und die damit einhergehende Sicherstellung der pädagogischen Betreuung für spezifische Schüler*innengruppen die Belastung von Schüler*innen und ihren Eltern deutlich reduziert, die Lernzeit erhöht und den Schüler*innen die notwendige Struktur und einen geregelten Tagesablauf ermöglicht. - Darüber hinaus ist es wichtig, die Eltern in ihrer neuen Rolle zu unterstützen. Eltern sollten dabei einerseits über die Konsequenzen ihres Erziehungsverhaltens und ihres Verhaltens im Rahmen der Unterstützung ihrer Kinder bei schulischen Aufgaben zu Hause sensibilisiert und andererseits über zentrale Konzepte einer förderlichen Lernbetreuung zu Hause (z. B. zu dysfunktionalen Formen der Involviertheit von Eltern) aufgeklärt werden. - Es ist notwendig, den traditionellen Unterricht stärker zu öffnen und Lehr-Lern- Formate zu fördern, die das selbstständige Lernen und die Selbstorganisation der Schüler*innen sowie deren Arbeitstugenden Schulschließungen in Österreich - Ein Fazit nach einem Jahr Pandemie 311 (z. B. Fleiß) unterstützen. Erste Befunde einer Sekundarstufenschüler*innenbefragung in Österreich (Lenz & Helm, 2021; N = 1.863) belegen, dass Lernende, die vor Corona nach dem Konzept des offenen und kooperativen Lernens unterrichtet wurden, signifikant häufiger davon berichten, dass sie im Fernunterricht fachlich mehr dazugelernt haben als im Unterricht vor Corona. Darüber hinaus schätzen sie die Qualität der Lehrer-Schüler*innen-Beziehung in allen Lockdowns deutlich höher ein. Schließlich ist in der Pandemie eine altbekannte gesellschaftliche Herausforderung noch einmal deutlicher geworden: die Bildungsungleichheit. Daher plädieren wir für eine Ausweitung der Qualität und Quantität des vorschulischen Kinderbetreuungsangebotes, De-Segregationsmaßnahmen an Schulstandorten, eine Rückverlegung der Bildungswegentscheidungen sowie den Ausbau des „Unterstützungspersonals“ an den Schulen. Literatur APA. (2021). Schulen - Fernunterricht seit März. Abgerufen am 17. 5. 2021 unter https: / / science.apa.at/ power-search/ 188045427491058533 Berghammer, C. (2020). Wie gut gelingt Homeschooling in der Corona-Krise? Abgerufen am 3. 8. 2020 unter https: / / viecer.univie.ac.at/ corona-blog/ corona-blogbeitraege/ blog47/ Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung. (2018). Masterplan für die Digitalisierung im Bildungswesen. Abgerufen am 19. 5. 2021 unter https: / / www.bmbwf.gv.at/ Themen/ schule/ zrp/ dibi/ mp.html Depping, D., Lücken, M., Musekamp, F. & Thonke, F. (2021). Kompetenzstände Hamburger Schüler*innen vor und während der Corona-Pandemie. In D. Fickermann & B. 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Bildung in der Coronakrise: Wie haben die Schulkinder die Zeit der Schulschließungen verbracht, und welche Bildungsmaßnahmen befürworten die Deutschen? Vorabdruck (9). ifo SCHNELLDIENST. Wößmann, L., Freundl, V., Grewenig, E., Lergetporer, P., Werner, K. & Zierow, L. (2021). Bildung erneut im Lockdown: Wie verbrachten Schulkinder die Schulschließungen Anfang 2021? Vorabdruck (5). ifo SCHNELL- DIENST. Univ. Prof. Dr. Christoph Helm Mag. a Alexandra Postlbauer Linz School of Education Abteilung für Bildungsforschung Johannes Kepler Universität Altenberger Str. 69 4040 Linz E-Mail: christoph.helm@jku.at alexandra.postlbauer@jku.at