eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 71/2

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Editorial: Editorial zum Themenschwerpunkt: Psychische Gesundheit von Schüler:innen

41
2024
Franziska Greiner
Henrik Saalbach
Das System Schule und seine Akteur:innen können Kinder und Jugendliche nicht umfassend in ihrer Entwicklung fördern, wenn die psychische Gesundheit der Schüler:innen außer Acht gelassen wird. Denn Schule ist nicht nur ein Lernort, sondern eine Lebenswelt, in der Kinder und Jugendliche den Großteil ihrer Zeit verbringen und viele Entwicklungsaufgaben bewältigen, wie bspw. positive Beziehungen mit ihren Peers zu etablieren oder sich auf eine berufliche Karriere vorzubereiten (Havighurst, 1972). Diese Lebenswelt kann für die psychische Gesundheit von Schüler:innen bedeutsame Ressourcen bereitstellen, aber auch Risiken bergen. Diese Sichtweise auf die Rolle von Schule wird durch die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz unterstützt, in denen bereits vor zehn Jahren Gesundheitsförderung und Prävention als zentrale Aufgaben und „unverzichtbares Element“ von Schulentwicklung konstatiert wurden (Kultusministerkonferenz, 2012, S. 2). Diese Aufgaben gewinnen nicht zuletzt durch die hohe Prävalenz psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter von fast 20% (Ihle & Esser, 2002, Barkmann & Schulte-Markwort, 2012) und dem Onset vieler psychischer Störungen vor dem 14. Lebensjahr (Kessler et al., 2005) an Bedeutung. Dass die Berücksichtigung gesundheitlicher Belastungen eine elementare Aufgabe von Schule sein muss, zeigen Forschungsergebnisse aus der COVID-19-Pandemie wie durch ein Brennglas: So weist beispielsweise die COPSY-Längsschnittstudie (Reiß et al., 2023) darauf hin, dass insbesondere ängstliche und depressive Symptome während der Pandemie bei Schüler:innen aller Schulformen deutlich zugenommen haben und seitdem auf hohem Niveau persistieren.
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2024, 71, 93 -95 DOI 10.2378/ peu2024.art09d © Ernst Reinhardt Verlag Editorial zum Themenschwerpunkt: Psychische Gesundheit von Schüler: innen Franziska Greiner & Henrik Saalbach Pädagogische Psychologie mit dem Schwerpunkt Lehren, Lernen und Entwicklung Universität Leipzig Das System Schule und seine Akteur: innen können Kinder und Jugendliche nicht umfassend in ihrer Entwicklung fördern, wenn die psychische Gesundheit der Schüler: innen außer Acht gelassen wird. Denn Schule ist nicht nur ein Lernort, sondern eine Lebenswelt, in der Kinder und Jugendliche den Großteil ihrer Zeit verbringen und viele Entwicklungsaufgaben bewältigen, wie bspw. positive Beziehungen mit ihren Peers zu etablieren oder sich auf eine berufliche Karriere vorzubereiten (Havighurst, 1972). Diese Lebenswelt kann für die psychische Gesundheit von Schüler: innen bedeutsame Ressourcen bereitstellen, aber auch Risiken bergen. Diese Sichtweise auf die Rolle von Schule wird durch die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz unterstützt, in denen bereits vor zehn Jahren Gesundheitsförderung und Prävention als zentrale Aufgaben und „unverzichtbares Element“ von Schulentwicklung konstatiert wurden (Kultusministerkonferenz, 2012, S. 2). Diese Aufgaben gewinnen nicht zuletzt durch die hohe Prävalenz psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter von fast 20 % (Ihle & Esser, 2002; Barkmann & Schulte-Markwort, 2012) und dem Onset vieler psychischer Störungen vor dem 14. Lebensjahr (Kessler et al., 2005) an Bedeutung. Dass die Berücksichtigung gesundheitlicher Belastungen eine elementare Aufgabe von Schule sein muss, zeigen Forschungsergebnisse aus der COVID-19- Pandemie wie durch ein Brennglas: So weist beispielsweise die COPSY-Längsschnittstudie (Reiß et al., 2023) darauf hin, dass insbesondere ängstliche und depressive Symptome während der Pandemie bei Schüler: innen aller Schulformen deutlich zugenommen haben und seitdem auf hohem Niveau persistieren. So fühlen sich nach der Pandemie etwa 40 % aller Grundschüler: innen und ca. 30 % der Schüler: innen an Haupt-/ Real-/ Gesamtschulen psychisch belastet. Als besondere Risikogruppe mit 2bis 4-mal erhöhter Wahrscheinlichkeit für eine geminderte Lebensqualität und psychische Auffälligkeiten konnten Kinder und Jugendliche identifiziert werden, die beengt wohnen und deren Eltern eine geringe Bildung haben oder deren Eltern selbst psychisch erkrankt sind (Kaman et al., 2023). Diese negative Entwicklung bestätigt auch der Kinder- und Jugendreport der DAK, für den die Abrechnungsdaten von 786.000 versicherten Kindern und Jugendlichen analysiert wurden (Witte, Zeigler & Diekmannshemke, 2023). Danach sind die stationär behandelten - also auch klinisch diagnostizierten - Angststörungen und Depressionen insbesondere bei jugendlichen Mädchen von 2019 bis 2022 substanziell gestiegen (ebd.). Die Notwendigkeit der Verzahnung der Themenfelder Schule und Psychische Gesundheit in Praxis und Forschung wird nicht nur durch die hohen Prävalenzraten psychischer Störungen im Schulalter unterstrichen, sondern wird auch durch die zunehmende Evidenz für den Zusammenhang des psychischen Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen und ihrem schulischen Erfolg sowie ihrer sozialen Teilhabe pointiert (u. a. Bilz, 2008; Krull, Wilbert & Hennemann, 2018; Schmidt, Dirk & Schmiedek, 2019; Schulz & Muschalla, 2022). Daher widmet sich der Themenschwerpunkt „Psychische Gesundheit von Schüler: innen“ in Editorial Psychische Gesundheit von Schüler: innen im Fokus der Empirischen Bildungsforschung 94 Editorial dieser Ausgabe den schulbezogenen Ressourcen und Risikofaktoren für die psychische Gesundheit von Schüler: innen. Der Themenschwerpunkt umfasst drei Beiträge. In einem Stichwortbeitrag beleuchten Julian Schmitz, Judith Bauch und Kristin Wolf (Universität Leipzig) die Prävention von psychischen Belastungen. Sie argumentieren, dass nicht zuletzt aufgrund der mit der Schulpflicht in Deutschland verbundenen Erreichbarkeit von Kindern und Jugendlichen Schule die Aufgabe hat, die psychische Gesundheit von Schüler: innen gezielt zu fördern und psychischen Belastungen entgegenzuwirken. Schmitz und Kolleginnen stellen verschiedene Präventionsansätze vor und gehen auf konkrete Schul- und Unterrichtsmerkmale wie Schulklima und Leistungsbewertung ein. Der Stichwortbeitrag flankiert zwei empirische Beiträge, in deren Mittelpunkt die Perspektive der Schüler: innen steht und die, ausgehend von dem Fokus auf internalisierende Störungen, konkrete Anknüpfungspunkte für primär- und sekundär-präventive Maßnahmen liefern, die in der Lebenswelt Schule realisiert werden können. Im ersten empirischen Beitrag untersuchen Martina Zemp und Achilleas Tsarpalis-Fragkoulidis (Universität Wien) Bewertungsängste als eine schulbezogene, soziale Angst und gehen der Frage nach, in welchem Zusammenhang Bewertungsängste, Emotionsregulation und soziale Angst bei Jugendlichen stehen. Dafür analysierten die Autor: innen Daten von 647 Jugendlichen mit Strukturgleichungsmodellen. Die Ergebnisse der Studie weisen darauf hin, dass sozial ängstliche Schüler: innen Schwierigkeiten in der Verarbeitung von Feedback durch Lehrpersonen und Peers haben - unabhängig davon, ob es eine negative oder eine positive Bewertung (z. B. Lob) enthält, was wiederum hinderlich für die individuelle Lernentwicklung der betroffenen Schüler: innen sein kann. Überdies neigen sozial ängstliche Schüler: innen zur Unterdrückung negativer und positiver Emotionen, um sozial unauffällig zu bleiben. Dies erschwert jedoch, dass Lehrpersonen die Ängste der Schüler: innen z. B. als Ursache für eine geringere Unterrichtsteilnahme wahrnehmen und sensibel berücksichtigen können. Der zweite empirische Beitrag widmet sich dem depressionsspezifischen Wissen von Jugendlichen, das eine spezifische Facette von psychischer Gesundheitskompetenz abbildet. So haben Friederike Grabowski (Universität Flensburg) und Franziska Greiner (Universität Leipzig) mittels Kombination von Wissenstest und textbasierter Fallvignette untersucht, wie das depressionsspezifische Wissen ausgeprägt ist und in welchem Verhältnis dieses zum antizipierten Hilfesuchverhalten der teilnehmenden Neuntklässler: innen steht. Unter anderem zeigt die Studie, dass die Jugendlichen im Mittel zwar etwa zwei Drittel der Fragen aus dem Wissenstest richtig beantworten, aber weniger als ein Drittel die in der Fallvignette vorkommenden depressiven Symptome erkennen konnten (prozedurales Wissen). Zudem zeigen die Befunde, dass etwa ein Viertel der befragten Schüler: innen im Falle eigener Betroffenheit keine Hilfe suchen würde. Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe untermauert die Notwendigkeit einer systematischen Verzahnung von empirischer Bildungsforschung und der originär klinisch-psychologischen Forschung zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Zudem kann beobachtet werden, dass sich immer mehr Forschungsprojekte wie z. B. „Take Care in der Schule“ der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften oder der von der Robert Bosch Stiftung geförderte „Monitor Psychische Gesundheit und Bildung (BiPsy-Monitor)“ - ein Kooperationsprojekt der Universität Leipzig und der HMTM Hannover - der empirischen Forschung zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im schulischen Kontext inklusive relevanter schulbezogener Ressourcen und Belastungsfaktoren widmen. Die psychische Gesundheit von Schüler: innen als zentrale Voraussetzung und wichtiges Outcome erfolgreicher Bildungsprozesse gehört in den Fokus der Empirischen Bildungsforschung. Editorial 95 In eigener Sache Wir freuen uns sehr, ab 2024 Frau Prof. Birgit Träuble als neues Mitglied in der Herausgeberschaft der PEU begrüßen zu dürfen. Prof. Birgit Träuble leitet die Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der frühkindlichen kognitiven und sozial-kognitiven Entwicklung sowie der Untersuchung früher Lehr-Lernkontexte. Dabei stehen u. a. Fragen zum Konzepterwerb, der Theory of Mind sowie zur Auswirkung sozialer Exklusion auf (neuro-)kognitive Prozesse im Fokus ihrer Forschung. Ein Großteil ihrer Arbeiten ist dem Schnittfeld zwischen grundlagen- und anwendungsorientierter (pädagogisch-psychologischer) Forschung zuzuordnen. Seit 2020 ist Prof. Träuble zudem aktives Mitglied im Vorstand des Interdisziplinären Zentrums für empirische Lehrer*innen- und Unterrichtsforschung (IZeF) der Universität zu Köln. Literatur Barkmann, C. & Schulte-Markwort, M. (2012). Prevalence of emotional and behavioural disorders in German children and adolescents: a meta-analysis. Journal of epidemiology and community health, 66, 194 - 203. https: / / doi.org/ 10.1136/ jech.2009.102467 Bilz, L. (2008). Schule und psychische Gesundheit. Risikobedingungen für emotionale Auffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-91072-7 Havighurst, R. J. (1972). Developmental tasks and education (3rd ed.). McKay. Ihle, W. & Esser, G. (2002). Epidemiologie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter: Prävalenz, Verlauf, Komorbidität und Geschlechtsunterschiede. Psychologische Rundschau, 53, 159 - 169. https: / / doi. org/ 10.1026/ / 0033-3042.53.4.159 Kaman, A., Erhart, M., Devine, J., Reiß, F., Napp, A. K., Simon, A., Hurrelmann, K., Schlack, R., Hölling, H., Wieler, L. & Ravens-Sieberer, U. (2023). Two years of pandemic: the mental health and quality of life of children and adolescents - findings of the COPSY longitudinal study. Deutsches Ärzteblatt International. https: / / doi.org/ 10.3238/ arztebl.m2023.0001 Kessler, R. C., Berglund, P., Demler, O., Jin, R., Merikangas, K. R. & Walters, E. E. (2005). Lifetime prevalence and age-of-onset distributions of DSM-IV disorders in the National Comorbidity Survey Replication. Archives of general psychiatry, 62, 593 - 602. https: / / doi.org/ 10. 1001/ archpsyc.62.6.593 Krull, J., Wilbert, J. & Hennemann, T. (2018). Does social exclusion by classmates lead to behavior problems and learning difficulties? A cross-lagged panel analysis. European Journal of Special Needs Education, 33, 235 - 253. https: / / doi.org/ 10.1080/ 08856257.2018. 1424780 Kultusministerkonferenz (2012). Empfehlung zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 15. 11. 2012). Zugriff am 5. 1. 2024 unter: https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_11_15- Gesundheitsempfehlung.pdf Reiß, F., Kaman, A., Napp, A. K., Devine, J., Li, L. Y., Strelow, L., Erhart, M., Hölling, H., Schlack, R. & Ravens- Sieberer, U. (2023). Epidemiologie seelischen Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus 3 Studien vor und während der COVID- 19-Pandemie. Bundesgesundheitsblatt, 66, 727 - 735. https: / / doi.org/ 10.1007/ s00103-023-03720-5 Schmidt, A., Dirk, J. & Schmiedek, F. (2019). The importance of peer relatedness at school for affective well-being in children: Betweenand within-person associations. Social Development, 28, 873 - 892. https: / / doi.org/ 10. 1111/ sode.12379 Schulz, W. & Muschalla, B. (2022). What predicts internal and external mental disorders in adolescent boys and girls? Results from a 10-year longitudinal study. European Journal of Developmental Psycholog y, 19, 234 - 250. https: / / doi.org/ 10.1080/ 17405629.2021. 1890019 Witte, J., Zeitler, A. & Diekmannshemke, J. (2023). DAK- Kinder- und Jugendreport. Sonderanalyse für die Jahre 2018 - 2022: Stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen. Zugriff am 5. 1. 2024 unter: https: / / www.dak. de/ dak/ download/ kinder--und-jugendreport-26225 92.pdf Dr. Franziska Greiner Prof. Dr. Henrik Saalbach Pädagogische Psychologie mit dem Schwerpunkt Lehren, Lernen und Entwicklung Universität Leipzig Marschnerstr. 31 04109 Leipzig E-Mail: franziska.greiner@uni-leipzig.de henrik.saalbach@uni-leipzig.de