eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 71/1

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2024.art01d
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2024
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Editorial: Themenschwerpunkt: Frühe Hilfen für Familien mit Kindern von 0-3 Jahren während Corona

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2024
Ulrike Lux
Ilona Renner
Die Geburt eines Kindes ist für jede Familie eine Zeit turbulenter Gefühle. In dieser Phase von Glücksmomenten, Freude und fürsorglicher Liebe gibt es immer wieder auch Zeiten der Unsicherheit und Überforderung (Cowan & Cowan, 2000). Wenn Sorgen und Nöte überhandnehmen, dann können Frühe Hilfen die Eltern dabei unterstützen, ihren Alltag mit dem Baby (weiterhin) gut zu bewältigen. Frühe Hilfen sind Angebote für Familien mit Kindern bis zu drei Jahren wie bspw. eine längerfristige Begleitung durch eine Gesundheitsfachkraft. Diese Angebote richten sich insbesondere an psychosozial belastete Familien und sind in lokalen Netzwerken gebündelt mit dem Ziel, jedem Kind ein gesundes und gewaltfreies Aufwachsen zu ermöglichen (NZFH, 2014).
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2024, 71, 1 -2 DOI 10.2378/ peu2024.art01d © Ernst Reinhardt Verlag Die Geburt eines Kindes ist für jede Familie eine Zeit turbulenter Gefühle. In dieser Phase von Glücksmomenten, Freude und fürsorglicher Liebe gibt es immer wieder auch Zeiten der Unsicherheit und Überforderung (Cowan & Cowan, 2000). Wenn Sorgen und Nöte überhandnehmen, dann können Frühe Hilfen die Eltern dabei unterstützen, ihren Alltag mit dem Baby (weiterhin) gut zu bewältigen. Frühe Hilfen sind Angebote für Familien mit Kindern bis zu drei Jahren wie bspw. eine längerfristige Begleitung durch eine Gesundheitsfachkraft. Diese Angebote richten sich insbesondere an psychosozial belastete Familien und sind in lokalen Netzwerken gebündelt mit dem Ziel, jedem Kind ein gesundes und gewaltfreies Aufwachsen zu ermöglichen (NZFH, 2014). Die drei Jahre der Corona-Pandemie waren eine schwierige Zeit, auch für Familien mit sehr kleinen Kindern: Nicht nur brachen private und institutionelle Betreuungs- und Unterstützungsmöglichkeiten weg, auf die sich viele Eltern vor der Pandemie verlassen konnten. Auch berichteten viele Mütter von einer hoch belastenden Situation im Kreissaal, einer Geburt mit Schutzmaßnahmen und oftmals ohne Begleitung. Die erste Zeit mit Kind war dann für viele Eltern überschattet von Einsamkeit und Langeweile, Ängsten vor Ansteckung, Erkrankung und Nachteilen für die Kinder (Renner, Ulrich, Neumann & Chakraverty, 2023). Die Zusatzbelastungen in der Pandemie trafen manche Familien mehr als andere, insbesondere Familien, die ohnehin schon mit psychosozialen Belastungen zu kämpfen hatten, die bspw. in Armut lebten (Ulrich et al., 2023) oder psychisch erkrankt waren (Li, Bünning, Kaiser & Hipp, 2022). Auch die Frühen Hilfen selbst, die im Kern auf vertrauensvolle Begegnungen und auf direkten persönlichen Austausch zwischen Fachkraft und Eltern bauen, befanden sich im Ausnahmezustand. In kürzester Zeit mussten Angebote ausgesetzt und Alternativen gesucht werden, um den Familien weiterhin Unterstützung und Hilfe bieten zu können (Renner, van Staa, Neumann, Sinß & Paul, 2021). In der Rückschau stellt sich nicht nur die Frage, wie Familien mit kleinen Kindern, insbesondere solche in psychosozialen Belastungslagen, durch die Pandemie gekommen sind, sondern auch, wie die Frühen Hilfen die kurzfristig erforderlichen Anpassungen bewältigt haben und welche Angebote Familien in dieser Zeit in Anspruch nehmen konnten. Daraus können wir ableiten, was hilfreich war und was jetzt zu tun ist, um die Folgen der Corona-Pandemie für die Familien abzumildern. Der vorliegende Themenschwerpunkt „Frühe Hilfen für Familien mit Kindern von 0 - 3 Jahren während Corona“ greift diese Fragen in drei Beiträgen auf. Im ersten Beitrag von Anna Friedmann, Catherine Buechel und Ina Nehring wird die Situation einer oftmals nicht im Fokus stehenden Gruppe, nämlich Familien mit einem chronisch erkrankten oder behinderten Kind (BMFSFJ, 2021), genauer in den Blick genommen. Die Stichprobe wurde über eine kinderärztliche App rekrutiert. Die Autorinnen haben zwei Elterngruppen mit erhöhter Stressbelastung miteinander verglichen, von denen die eine Gruppe mit einem chronisch erkrankten oder behinderten Kind lebt. Die Ergebnisse belegen, dass diese Gruppe die Pandemie konsistent als wesentlich belastender erlebte als Eltern, die „nur“ erhöhten Elternstress berichteten. Der zweite Beitrag von Birgit Jentsch, Ernst- Uwe Küster und Christopher Peterle untersucht, mit welchen Herausforderungen die Frühen Hilfen selbst konfrontiert waren und wie kommunal verantwortliche Fachkräfte damit umgegangen sind. Dazu wurden neben Daten aus der Kom- Themenschwerpunkt: Frühe Hilfen für Familien mit Kindern von 0 -3 Jahren während Corona Ulrike Lux 1 , Ilona Renner 2 1 Nationales Zentrum Frühe Hilfen, Deutsches Jugendinstitut e.V., München, Deutschland 2 Nationales Zentrum Frühe Hilfen, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln, Deutschland Editorial 2 Editorial munalbefragung 2021 des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) qualitative Interviews mit Koordinierenden der Netzwerke Frühe Hilfen vor Ort ausgewertet. Übereinstimmend mit anderen Studien sehen sich die Netzwerkkoordinierenden mit höheren Unterstützungsbedarfen der Familien bei gleichzeitig deutlich geringeren Handlungsmöglichkeiten konfrontiert. Neben einem Digitalisierungsschub, der zur Modifikation analoger Angebote geführt hat, fanden sie sehr unterschiedliche, kreative Wege, um weiterhin Hilfeleistungen an Familien zu vermitteln oder Eltern selbst zu unterstützen. Im dritten Beitrag fokussieren Ulrike Lux, Anna Neumann, Ilona Renner und Susanne M. Ulrich psychosoziale Belastungen und die Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten bei Familien, deren Kinder aufgrund einer chronischen Erkrankung, Behinderung oder einer Regulationsstörung erhöhte Fürsorgeanforderungen an ihre Eltern stellen. Der Beitrag basiert auf Daten der bundesweit repräsentativen Studie „Kinder in Deutschland 0 - 3 2022“ (KiD 0 - 3 2022). An der Studie nahmen insgesamt 7.818 Familien mit Kindern von 0 - 3 Jahren teil, die mit ihrem Kind zu einer U-Untersuchung in die kinderärztliche Praxis kamen. Eltern mit einem Kind mit erhöhten Fürsorgeanforderungen berichteten von einer deutlich erhöhten Gesamtbelastung. Trotzdem haben sie tendenziell seltener universelle Präventionsangebote genutzt, die für Familien rund um die Geburt des Kindes vorgehalten werden wie bspw. die Wochenbettbetreuung durch eine Hebamme. Selektive, insbesondere aufsuchende Angebote wurden jedoch auch während der Corona-Pandemie stärker genutzt als von Familien, deren Kinder keine erhöhten Fürsorgeanforderungen stellen. Zusammenfassend belegen die Beiträge dieses Themenschwerpunkts, dass ein substanzieller Anteil an Familien, insbesondere solche, die psychosozial belastet sind wie Familien mit einem chronisch erkrankten Kind oder anderen erhöhten Fürsorgeanforderungen, von der Pandemie zusätzlich getroffen wurde. Dass diese Familien auch in dieser Zeit Unterstützungsangebote, z. B. durch die Frühen Hilfen, nutzen konnten, ist u. a. auf die kreative Lösungssuche durch Netzwerkkoordinierende zurückzuführen. Nun geht es darum, Eltern und Kindern, die in Zeiten der Pandemie besonders belastet waren, die bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen, um mögliche Langzeitfolgen abzumildern. Literatur BMFSFJ. (2021). Eltern Sein in Deutschland. Neunter Familienbericht: Ansprüche, Anforderungen und Angebote bei wachsender Vielfalt. Empfehlungen für eine wirksame Politik für Familien. Berlin. Verfügbar unter: https: / / www. bmfsfj.de/ resource/ blob/ 179392/ 195baf88f8c3ac7134 347d2e19f1cdc0/ neunter-familienbericht-bundestags drucksache-data.pdf Cowan, C. P. & Cowan, P. A. (2000). When partners become parents: The big life change for couples. Basic books. Li, J., Bünning, M., Kaiser, T. & Hipp, L. (2022). Who suffered most? Parental stress and mental health during the COVID-19 pandemic in Germany. JFR - Journal of Family Research, 34 (1), 281 - 309. https: / / doi.org/ 10.20377/ jfr-704 Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) (Hrsg.) (2014), Leitbild Frühe Hilfen. Beitrag des NZFH-Beirats. Kompakt 1. Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH). Renner, I., van Staa, J., Neumann, A., Sinß, F. & Paul, M. (2021). Frühe Hilfen aus der Distanz - Chancen und Herausforderungen bei der Unterstützung psychosozial belasteter Familien in der COVID-19-Pandemie. Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, 64 (12), 1603 - 1610. https: / / doi.org/ 10. 1007/ s00103-021-03450-6 Renner, I., Ulrich, S. M., Neumann, A. & Chakraverty, D. (2023). Familien mit Säuglingen und Kleinkindern in der COVID-19-Pandemie: Belastungserleben und Entwicklungsauffälligkeiten unter Berücksichtigung der sozialen Lage. Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, 66 (8), 911 - 919. https: / / doi. org/ 10.1007/ s00103-023-03744-x Ulrich, S. M., Chakraverty, D., Hänelt, M., Holzer, M., Lux, U., Renner, I. & Neumann, A. (2023). Wie geht es Familien mit kleinen Kindern in Deutschland? Ein Fokus auf psychosoziale Belastungen von Familien in Armutslagen. Faktenblatt 2 zur Studie „Kinder in Deutschland 0 - 3 2022“. Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH). https: / / doi.org/ 10.17623/ NZFH: KiD-2022-FB2 Gastherausgeberinnen: Dr. Ulrike Lux Nationales Zentrum Frühe Hilfen, Deutsches Jugendinstitut e.V. Nockherstr. 2 81541 München Tel.: (0 89) 62 30 61 16 E-Mail: ulux@dji.de Ilona Renner Nationales Zentrum Frühe Hilfen, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Maarweg 149 -161 50825 Köln E-Mail: ilona.renner@nzfh.de