Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2024.art14d
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2024
71Online-first
Empirische Arbeit: „Von der Wiege bis zum Pult“ – Unsichere Bindungsrepräsentationen und Wohlbefinden bei angehenden Lehrkräften in der zweiten Phase der Lehrkräftebildung
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Nicola-Hans Schwarzer
Paula Dees
Hendrik Lohse-Bossenz
Die Bindungstheorie postuliert, dass Kinder auf Basis von Interaktionserfahrungen mit der Bindungsfigur Bindungsrepräsentationen entwickeln. Diese beinhalten Vorstellungen über die eigene Person, werden in stressintensiven Momenten reaktiviert und prägen lebenslang das Erleben und Verhalten in Anforderungssituationen. Ziel der Studie war die Prüfung, inwieweit sich unsichere Bindungsrepräsentationen in gegenwärtigem Wohlbefinden bei angehenden Lehrkräften im Referendariat niederschlagen und inwieweit die erlebte Symptombelastung hierbei einen vermittelnden Einfluss verübt. Bindungsrepräsentationen, Symptombelastung und Wohlbefinden von insgesamt 166 Referendaren und Referendarinnen wurden mithilfe von Fragebögen zu Beginn des Referendariats erfasst (Querschnitt). Die Prüfung der Hypothesen erfolgte in einem Pfadmodell. Unsicher-vermeidende Bindungsrepräsentationen waren negativ mit dem Wohlbefinden assoziiert. Der Zusammenhang zwischen unsicher-ängstlichen Bindungsrepräsentationen und Wohlbefinden wurde vollständig über die Symptombelastung vermittelt. Die Befunde verweisen auf ein komplexeres Wirkungsgeflecht, das andeutet, wie frühe Erfahrungen von Bindungsunsicherheit sich im Wohlbefinden bei angehenden Lehrkräften bei Eintritt in die berufspraktische Tätigkeit niederschlagen.
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n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2024, 71, Preprint Online DOI 10.2378/ peu2024.art14d © Ernst Reinhardt Verlag „Von der Wiege bis zum Pult“ - Unsichere Bindungsrepräsentationen und Wohlbefinden bei angehenden Lehrkräften in der zweiten Phase der Lehrkräftebildung Nicola-Hans Schwarzer 1 , Paula Dees 1 , Hendrik Lohse-Bossenz 2 1 Pädagogische Hochschule Heidelberg, Heidelberg, Deutschland 2 Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland Zusammenfassung: Die Bindungstheorie postuliert, dass Kinder auf Basis von Interaktionserfahrungen mit der Bindungsfigur Bindungsrepräsentationen entwickeln. Diese beinhalten Vorstellungen über die eigene Person, werden in stressintensiven Momenten reaktiviert und prägen lebenslang das Erleben und Verhalten in Anforderungssituationen. Ziel der Studie war die Prüfung, inwieweit sich unsichere Bindungsrepräsentationen in gegenwärtigem Wohlbefinden bei angehenden Lehrkräften im Referendariat niederschlagen und inwieweit die erlebte Symptombelastung hierbei einen vermittelnden Einfluss verübt. Bindungsrepräsentationen, Symptombelastung und Wohlbefinden von insgesamt 166 Referendaren und Referendarinnen wurden mithilfe von Fragebögen zu Beginn des Referendariats erfasst (Querschnitt). Die Prüfung der Hypothesen erfolgte in einem Pfadmodell. Unsicher-vermeidende Bindungsrepräsentationen waren negativ mit dem Wohlbefinden assoziiert. Der Zusammenhang zwischen unsicher-ängstlichen Bindungsrepräsentationen und Wohlbefinden wurde vollständig über die Symptombelastung vermittelt. Die Befunde verweisen auf ein komplexeres Wirkungsgeflecht, das andeutet, wie frühe Erfahrungen von Bindungsunsicherheit sich im Wohlbefinden bei angehenden Lehrkräften bei Eintritt in die berufspraktische Tätigkeit niederschlagen. Schlüsselbegriffe: Wohlbefinden, Bindung, Erschöpfung, Lehrkräfte, Referendariat „From the Cradle to the Desk“ - Unsecure Attachment Representations and Well-Being Among Prospective Teacher Candidates in the Second Phase of Teacher Education Summary: Attachment theory proposes that children form attachment representations based on their interactions with primary caregivers. These representations include self-perceptions and are activated during stressful times, shaping experiences and behaviors throughout life. This study aimed to explore whether insecure attachment representations are linked to the current well-being of prospective teachers. Additionally, it investigated whether this association is mediated by symptom severity. Attachment representations, symptom severity and well-being were assessed using questionnaires (cross-sectional) with a total of 166 prospective teachers at the beginning of their teacher training („Referendariat“). Hypotheses were examined through a path model. Insecure-avoidant attachment representations were negatively linked to well-being. The relationship between insecure-anxious attachment representations and well-being was fully mediated by symptom severity. These findings point to a more complex network of effects, highlighting how attachment insecurity may impact the well-being of prospective teachers as they embark on their teaching careers. Keywords: Well-being, attachment, exhaustion, teachers, referendariat 2 Nicola-Hans Schwarzer, Paula Dees, Hendrik Lohse-Bossenz Lehrkräfte gelten als besonders belastete Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Studien verweisen auf ein im Vergleich zu anderen Berufsgruppen erhöhtes Erschöpfungs- und Symptomerleben (z. B. Hinz et al., 2014; Nübling et al., 2012). Neben Einschränkungen im subjektiven Erlebensbereich können eingeschränktes Wohlbefinden und hohes Belastungserleben von Lehrkräften als hemmende Faktoren von erfolgreichem Unterricht konzeptualisiert werden. Untersuchungen bestätigen die Tragweite dieses Zusammenhangs: Schülerinnen und Schüler beurteilen den Unterricht von stark belasteten Lehrkräften als weniger gut, zu schnell, weniger abgestimmt und ungerechter (z. B. Hüber & Käser, 2015; Klusmann, Kunter, Trautwein & Baumert, 2006). Weiterhin bestehen negative Zusammenhänge zwischen der emotionalen Erschöpfung von Lehrkräften und den Schulleistungen (Arens & Morin, 2016; Klusmann, Richter & Lüdtke, 2016), einem geringeren Fachinteresse und einem negativeren Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler (Klusmann, Aldrup, Roloff, Lüdtke & Hamre, 2022) sowie der Motivation der von ihnen unterrichteten Klassen (Shen, Nahamias-Zlotolov & Dolev et al., 2015). Trotz der vielfältigen Anforderungen, mit denen Lehrkräfte sich im beruflichen Alltag konfrontiert sehen, demonstrieren Untersuchungen, dass hohes Erschöpfungs- und Belastungserleben weniger durch institutionelle Aspekte (Schulgröße, Lage der Schule) oder das Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler erklärt werden kann (Klusmann, Kunter, Trautwein, Lüdtke & Baumert, 2008). Stattdessen scheint dies insbesondere durch individuelle Faktoren begründet zu sein - beispielsweise weisen stark belastete Lehrkräfte auffallend ungünstige selbstregulatorische Fähigkeiten (Hüber & Käser, 2015; Klusmann et al., 2006) und eine Tendenz zur Nutzung maladaptiver Stressverarbeitungsstrategien (Lehr, Schmitz & Hillert, 2008) auf. Die Ausbildung zur Lehrkraft umfasst in Deutschland zwei Phasen. Während die erste Phase an Universitäten erfolgt und nur kurze Hospitations- und Praktikumsphasen vorsieht, beinhaltet die zweite Ausbildungsphase (Referendariat) einen hohen Schulpraxisanteil und erfolgt an fest zugewiesenen Schulen. Die Referendarinnen und Referendare unterrichten in dieser Phase eigenständig in Klassen und planen erstmalig eigenverantwortlich den Unterricht der ihnen zugewiesenen Lerngruppe. Der Begriff des „Praxisschocks“ (Hobson & Ashby, 2012) beschreibt in diesem Zusammenhang das Phänomen, dass sich hohes Erschöpfungserleben und eingeschränktes Wohlbefinden von Lehrkräften offenbar insbesondere zu Beginn der Berufstätigkeit einzustellen scheinen. Unter Verweis auf Untersuchungsergebnisse kann das Referendariat in der Berufsbiografie von Lehrkräften als hochgradig beanspruchend konzeptualisiert werden (Keller-Schneider & Hericks, 2017). Wenn hierbei die Fülle an bis dato unbekannten beruflichen Anforderungen auf ungünstige personale Voraussetzungen trifft, können zu diesem Zeitpunkt empfindliche Einschränkungen im Wohlbefinden entstehen, die langfristig zu ernsthaften gesundheitlichen Einschränkungen und persistierenden Krankheitssymptomen beitragen. Folglich erweist es sich als sinnvoll, potenziell ungünstige personale Merkmale in empirischen Studien zu identifizieren, um möglichst früh deren negative Wirkung abzumildern. Bindung und Bindungstheorie Die Bindungstheorie konzeptualisiert enge frühe Beziehungserfahrungen zwischen Bindungsfigur und Kind als zentralen Erfahrungsraum, innerhalb dessen sich die psychosoziale Entwicklung des Kindes vollzieht (Bowlby, 1988). Sie postuliert, dass stressinduzierende Erfahrungen beim Kind Bindungsbedürfnisse aktivieren, die Bindungsverhaltensweisen (z. B. Weinen, Klammern) zur Herstellung von Nähe zur Bindungsfigur auslösen (Bowlby, 1969). Bindungsbeziehungen dienen folglich als ko-regulierendes Unterstützungssystem, das das Kind bei der Bewältigung von überfordernden Situationen unterstützt (Bowlby, 1988). Basierend auf sich Bindung und Wohlbefinden 3 wiederholenden Interaktionserfahrungen mit der Bindungsfigur entwickelt das Kind verinnerlichte Vorstellungen, die die Bindungstheorie als internale Arbeitsmodelle von Bindung bezeichnet (Bretherton, 1990; Fraley & Shaver, 2000). Diese beinhalten Vorstellungen und Bewertungen über die eigene Person, werden in stressintensiven Momenten reaktiviert und prägen lebenslang das Erleben und Verhalten insbesondere in Anforderungssituationen (Bretherton & Munholland, 2018; Mikulincer & Shaver, 2016). Vertiefend unterscheidet die Bindungstheorie verschiedene Qualitäten von Bindung. Kinder mit als sicher klassifizierten Bindungsrepräsentationen haben die Erfahrung gemacht, in emotional überfordernden Situationen von der Bindungsfigur verlässlich unterstützt zu werden (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978). In der Folge entwickeln sie die grundlegend positive Überzeugung, dass Herausforderungen bewältigbar sind, sie bei der Bewältigung von Herausforderungen ausreichend kompetent sind und bei drohender Überforderung von vertrauten Personen kompetente Unterstützung erhalten (Groh et al., 2014; Groh, Fearon, IJzendoorn, Bakermans‐Kranenburg & Roisman, 2017). Unsicher gebundene Personen hingegen waren mit nicht-abgestimmten frühen Beziehungserfahrungen konfrontiert (Bretherton & Munholland, 2018). Während hierbei unsicher-vermeidend gebundene Personen in ihrer Kindheit mit einer konsistenten Zurückweisung durch die Bindungsfigur in herausfordernden Situationen konfrontiert waren und zum Zweck des Selbstschutzes selbstbezogene Überzeugungen entwickeln, die durch eine tendenzielle Überschätzung eigener Fähigkeiten und mit einer Abwertung anderer Personen als nicht kompetent einhergehen (Emery, Gardner, Carswell & Finkel, 2018), weisen unsicherambivalent gebundene Personen ein hohes Maß an bindungsbezogener Angst auf (Dykas & Cassidy, 2011). Basierend auf einer inkonsistenten und wenig vorhersagbaren Reaktionsbereitschaft der Bindungsfigur in herausfordernden Situationen verfolgen unsicher-ambivalent gebundene Kinder das anhaltende Bestreben, stets die Nähe zur Bindungsfigur aufrechtzuerhalten, wodurch Explorationsverhalten, die Entwicklung von Handlungsfähigkeit und das Erleben von Selbstwirksamkeit eingeschränkt sind (Ainsworth et al., 1978). Personen mit unsicher-ambivalenten Bindungsrepräsentationen weisen folglich selbstbezogene Kognitionen auf, in denen diese als wenig kompetent und andere Personen als unzuverlässig repräsentiert sind. Diese konzeptionellen Annahmen aufgreifend bestätigen Metaanalysen die engen Zusammenhänge zwischen Bindungsrepräsentationen und psychischer Gesundheit (z. B. Zhang et al., 2022): Sowohl vermeidende als auch ängstliche Bindungsrepräsentationen scheinen einen Risikofaktor darzustellen, der im weiteren Lebensverlauf mit erhöhten Krankheitssymptomen und hieraus resultierenden Einschränkungen des Wohlbefindens einhergeht. Die vorliegende Studie Neben der Bedeutung früher biografischer Beziehungserfahrungen, die die Bindungstheorie konzeptionell beschreibt (Bowlby, 1969, 1988; Ainsworth et al., 1978; Bretherton & Munholland, 2018) und empirisch bestätigt (Groh et al., 2014, 2017; Zhang et al., 2022), betonen im pädagogischen Kontext berufsbiografische Professionalitätskonzepte die Relevanz der biografischen Erfahrungen von Lehrkräften, die sich in deren beruflichem Handeln und Erleben niederschlagen (Terhart, 2011). Beide Zugänge vermuten prägende Einflüsse biografischer Erfahrungen auf späteres Erleben und Verhalten in Anforderungssituationen. Abgrenzend zur klinisch-psychotherapeutischen Arbeit, innerhalb derer die Bindungsrepräsentationen von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten als Einflussfaktor auf deren Wohlbefinden (Brugnera et al., 2021) und den Behandlungserfolg von Psychotherapie (z. B. Steel, Macdonald & Schroder, 2018) verstanden werden, finden in pädagogischen Zusammenhängen bindungstheoretische Fragestellungen 4 Nicola-Hans Schwarzer, Paula Dees, Hendrik Lohse-Bossenz zwar Berücksichtigung. Allerdings fokussieren konzeptionelle und empirische Arbeiten primär auf Bindungsrepräsentationen von Schülerinnen und Schülern (z. B. Bolz, Wilke, Vesterling, Rademacher & von Düring, 2023; Bolz & Koglin, 2020; Bergin & Bergin, 2009), während Bindungsrepräsentationen von Lehrkräften insgesamt kaum berücksichtigt werden (Split & Koomen, 2022). Einige wenige Studien deuten an, dass unsicher-vermeidende Bindungsrepräsentationen bei sozialpädagogischen Fachkräften insgesamt häufiger auftreten (Schröder, Bürgin, Hutzenthaler, Buchheim & Schmid, 2022). Überdies sind unsichere Bindungsrepräsentationen von Lehrkräften mit einer geringeren Sensitivität und einem als negativer erlebten Klassenklima assoziiert (Sher-Censor et al., 2019) und prägen das Stresserleben von angehenden Lehrkräften für Sonderpädagogik (Schwarzer et al., 2023) - für angehende Lehrkräfte an Gymnasien in der zweiten Phase der Lehramtsausbildung existieren derartige Ergebnisse bisher allerdings nicht, sollten unter Verweis auf die Universalitätsannahme der Bindungstheorie, die den prägenden Einfluss früher Beziehungserfahrungen in sämtlichen Lebens- und Erfahrungsbereichen betont (Bowlby, 1969, 1988), jedoch auch hier Bestand haben. Unter Verweis auf die Fülle an beruflichen Anforderungen, die sich mit Aufnahme der unterrichtspraktischen Tätigkeit im Referendariat einstellen, lässt sich die zweite Phase der Lehrkräfteausbildung in der Berufsbiografie von Lehrkräften als belastungsintensives Schlüsselmoment konzeptualisieren, das unter Verweis auf die lebenslang anhaltende Wirkung von internalen Arbeitsmodellen von Bindung (Bretherton, 1990; Bretherton & Munholland, 2018) insbesondere dann zu Einschränkungen im Wohlbefinden führen dürfte, wenn diese durch ein hohes Maß an Verunsicherung charakterisiert sind. Ziel der vorliegenden Studie war daher die Prüfung, inwieweit sich unsichervermeidende und unsicher-ängstliche Bindungsrepräsentationen im gegenwärtigen Wohlbefinden von angehenden Lehrkräften im Referendariat niederschlagen. Hierbei vermutet Hypothese 1, dass unsicher-ängstliche Bindungsrepräsentationen mit Einschränkungen im aktuellen Wohlbefinden der Referendarinnen und Referendare einhergehen. Hypothese 2 postuliert anknüpfend hieran negative Assoziationen von unsicher-vermeidenden Bindungsrepräsentationen und aktuellem Wohlbefinden. Beide Zusammenhänge konnten kürzlich von Brugerna und Kollegen (2021) bei berufstätigen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bestätigt werden. Vertiefend ist zu erwarten, dass zwischen beiden Formen von Bindungsunsicherheit und Einschränkungen im Wohlbefinden komplexere Zusammenhänge zu vermuten sind, die zumindest anteilig über vermittelnde Drittvariablen erklärt werden. Begründbar ist dies zunächst durch die konzeptionelle Annahme, dass unsichere Bindungsrepräsentationen nicht per se zu Einschränkungen in Gesundheitserleben und Wohlbefinden führen, sondern stattdessen die Selbstwahrnehmung in Stress- und Anforderungssituationen in Abhängigkeit von den verinnerlichten Bindungserfahrungen negativ beeinflussen (Bowlby, 1988; Bretherton, 1990). Bestätigt wird diese Vermutung durch diverse empirische Ergebnisse, die zwar konsistent auf negative Zusammenhänge zwischen unsicher-ängstlichen bzw. unsicher-vermeidenden Bindungsrepräsentationen und aktuellem Wohlbefinden verweisen (Zhang et al., 2022), sich allerdings insgesamt auf moderatem Niveau bewegen (zusammenfassend: Fonagy, Campbell & Luyten, 2023) und offenbar insbesondere über Drittvariablen wie Erschöpfung, Symptomerleben und Burnoutsymptome (Simmons, Gooty, Nelson & Little, 2009) oder eingeschränkte Mentalisierungsfähigkeiten (Schwarzer et al., 2023) vermittelt werden. Folglich sollten sich unsicher-ängstliche bzw. unsicher-vermeidende Bindungsrepräsentationen bei gleichzeitiger Berücksichtigung der aktuell wahrgenommenen Symptombelastung nicht unmittelbar in negativeren Einschätzungen des Wohlbefindens niederschlagen, sondern stattdessen über die gegenwärtige Symptombelastung vermittelt werden. Bindung und Wohlbefinden 5 Methode Stichprobe und Durchführung Bindungsrepräsentationen, Symptombelastung und Wohlbefinden wurden von insgesamt 166 Referendarinnen und Referendaren für das gymnasiale Lehramt (Gelegenheitsstichprobe) mithilfe der Plattform SoSci Survey im Frühjahr 2023 zu Beginn des Referendariats erfasst (Querschnitt). Die Befragten waren im Mittel 27.31 Jahre alt (SD = 4.04; Min = 23; Max = 64). Zwischen den Geschlechtern (weiblich = 113; männlich = 50; divers = 0) bestanden überraschend deutliche Altersunterschiede (Männer = 29.04 (5.80); Frauen = 27.17 (5.54); F = 15.11; p < .001, d = .57). Weiterhin bestanden keine Unterschiede zwischen den in der vorliegenden Studie erfassten Merkmalen und dem Geschlecht bzw. der Muttersprache der Referendarinnen und Referendare (siehe Elektronisches Supplement). Alle Befragten stimmten der Teilnahme an der vorliegenden Studie schriftlich zu, die freiwillig war und jederzeit abgebrochen werden konnte. Das Forschungsprojekt wurde von der Ethikkommission der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg als unbedenklich eingestuft (III-Sopaed-NiSc-0020). Instrumente Wohlbefinden Zur Erfassung des Wohlbefindens wurde die deutsche Version des Brief Inventory of Thriving (BIT, Hausler et al., 2017) verwendet. Das BIT ist eine Kurzversion des Comprehensive Inventory of Thriving (CIT) und umfasst zehn Aussagen, die das aktuelle Wohlbefinden erfassen. Die zehn Items (z. B. „Ich bin optimistisch, was meine Zukunft angeht“) werden auf einer 5-stufigen Likert-Skala von 1 (ich stimme überhaupt nicht zu) bis 5 (ich stimme vollkommen zu) bewertet. Hohe Werte repräsentieren ausgeprägtes Wohlbefinden. BIT gilt als reliables und valides Screening-Instrument. In der vorliegenden Studie war die interne Konsistenz der Skala gut ( α = .81; ω = .81). Die Werte waren normalverteilt (Kolmogorov-Smirnov-Test: p < .05). Bindungsunsicherheit Zur Erfassung der Bindungsunsicherheit wurde die Kurzform der deutschen Version des Experiences in Close Relationships - Revised Questionnaire (ECR-RD8, Ehrenthal et al., 2021) verwendet. Der ECR-RD8 ist ein Selbsteinschätzverfahren, das auf evaluativ-deklarativer Ebene bewusst zugängliche Aspekte von Bindungsrepräsentationen erfasst und aus acht Aussagen besteht, die auf einer siebenstufigen Likert-Skala von 1 (stimme überhaupt nicht zu) bis 7 (stimme voll und ganz zu) beurteilt werden. Dem Instrument liegt abgrenzend zu kategorialen Konzeptualisierungen von Bindung (z. B. Ainsworth et al., 1978) ein dimensional-kontinuierliches Verständnis (Fraley, Waller & Brennan, 2000) zugrunde. Es umfasst zwei Unterskalen: bindungsbezogene Angst und bindungsbezogene Vermeidung. Hohe Werte auf beiden Skalen repräsentieren starke Unsicherheitsausprägungen. ECR-RD8 weist gute psychometrische Eigenschaften auf (Ehrenthal et al., 2021), was in dieser Studie bestätigt werden konnte (ERC_ANX: α = .84; ω = .84; ECR_AVOI: α = .76; ω = .75). Kolmogorov-Smirnov-Tests zeigten, dass beide Subskalen nicht normalverteilt waren (beide p < .001). Symptombelastung Die Symptombelastung wurde mit einer Kurzversion der Symptom-Checkliste (Derogatis, 1994) erfasst, die aus insgesamt neun Items besteht (SCL9). Die Aussagen werden auf einer 5-stufigen Likert-Skala von 0 (überhaupt nicht) bis 4 (extrem) beurteilt (z. B. „Während der letzten sieben Tage, wie sehr waren Sie beunruhigt durch: Sie fühlen sich nervös, wenn Sie allein sind“). Alle Items werden in einem globalen Schweregradindex zusammengefasst. Hohe Werte verweisen auf eine ausgeprägte psychosomatische Symptombelastung. Die SCL9 ist ein zuverlässiges und valides Instrument mit hervorragenden psychometrischen Eigenschaften (Petrowski, Schmalbach, Kliem, Hinz & Brähler, 2019), was in der aktuellen Studie repliziert werden konnte ( α = .87; ω = .87). Die Werte waren nicht normalverteilt (Kolmogorov- Smirnov-Test: p < .001). Demografische Informationen Weiterhin erfasst wurden das Alter der Probandinnen und Probanden sowie deren Geschlecht (0 = männlich; 1 = weiblich) und deren Muttersprache (0 = andere; 1 = deutsch). Statistisches Vorgehen Eine Poweranalyse (sechs Prädiktoren; β = .95; α = .05) zeigte eine erforderliche Stichprobengröße von 146 Probandinnen und Probanden zur Identifikation von mittleren Effekten (f 2 = .15) an. Aufgrund des ge- 6 Nicola-Hans Schwarzer, Paula Dees, Hendrik Lohse-Bossenz wählten Antwortformats („forced choice“) existierten keine fehlenden Werte. Mithilfe der Mahalanobisdistanz konnten drei multivariate Ausreißer identifiziert (3 Fälle) und ausgeschlossen werden (Tabachnik & Fidell, 2012). Zusammenhänge zwischen den untersuchten Merkmalen wurden mit robusten Korrelationskoeffizienten (Spearman) und um den Einfluss von Geschlecht und Muttersprache kontrollierten Partialkorrelationen exploriert. Die Prüfung der Hypothesen erfolgte in einem Pfadmodell. Aufgrund von Abweichung von der Multinormalität (Mardia Koeffizient: critical ratio > 1.96) erfolgte die Schätzung des Pfadmodells mithilfe des maximumlikelihood-Schätzers auf Basis von 10.000 bootstrapping samples und der bootstrap-confidence-interval-Methode, was bei nicht normalverteilten Daten empfohlen wird (Nevitt & Hancock, 2001). Die Beurteilung der Modellgüte erfolgte anhand der von Hu und Bentler (1999) empfohlenen Fit Indices (guter Model Fit: nicht signifikanter χ 2 -Test, RMSEA ≤ .06; CFI ≥ .95; SRMR ≤ .06; zufriedenstellende Passung: nicht signifikanter χ 2 -Test, RMSEA ≤ .08; CFI ≥ .90; SRMR ≤ .08). Die Datenanalyse erfolgte in SPSS und SPSS AMOS. Ergebnisse Deskriptive Statistiken und Interkorrelationen sind in Tabelle 1 dargestellt. Verteilungsrobuste und um den Einfluss von Muttersprache und Geschlecht kontrollierte Korrelationskoeffizienten verweisen auf weitestgehend moderate positive Zusammenhänge zwischen beiden Formen von Bindungsunsicherheit und dem berichteten Symptomerleben. Weiterhin waren beide Formen von Bindungsunsicherheit negativ mit dem aktuellen Wohlbefinden assoziiert. Überdies bestand ein negativer Zusammenhang zwischen Symptomintensität und aktuellem Wohlbefinden sowie beiden Formen von Bindungsunsicherheit. Das Alter war mit keinem der erfassten Merkmale assoziiert. Zur Prüfung der Einflüsse bindungsbezogener Angst und bindungsbezogener Vermeidung auf das aktuelle Wohlbefinden wurde in einem zweiten Schritt ein Pfadmodell geschätzt, das in Abbildung 1 dargestellt ist. Die Modellgüte lag im zufriedenstellenden Bereich ( χ 2 (11, n = 163) = 18.38, p = .073, RMSEA = .06 [.00, .11]; CFI = .95), SRMR = .06). Eine vergleichende Übersicht über alle Effekte ist in Tabelle 2 dargestellt. Basierend auf 10.000 bootstrapping samples zeigte sich, dass die bindungsbezogene Vermeidung einen negativen Einfluss auf die Ausprägung des Wohlbefindens hatte. Die bindungsbezogene Angst hingegen variierte unabhängig vom aktuellen Wohlbefinden der Befragten. Während zwischen Alter und Geschlecht der Probanden und dem aktuellen Wohlbefinden ebenfalls keine Zusammenhänge bestanden, war die gesprochene Muttersprache geringfügig negativ mit dem erfassten Wohlbefinden assoziiert. Weiterhin zeigte sich, dass der direkte Zusammenhang zwischen bindungsbezogener Vermeidung und aktuellem Wohlbefinden nicht über das Symptomerleben der M (SD) 1 Alter 2 ECR_Anx 3 ECR_Avoi 4 SCL 5 BIT 1 Alter 2 ECR_Anx 3 ECR_Avoi 4 SCL 5 BIT 27.31 (4.04) 9.21 (5.57) 7.93 (4.39) 18.18 (6.45) 41.88 (5.15) - -.00 -.02 -.11 .06 .12 - .55*** .37*** -.21** .10 .60*** - .29*** -.34*** -.06 .30*** .24** - -.40*** -.01 -.24** -.34*** -.35*** - Schiefe Wölbung Cronbachs α Mac Donalds ω 5.08 41.74 1.02 0.39 .84 .84 1.20 0.62 .76 .75 1.21 1.28 .87 .87 -.61 0.44 .81 .81 Tab. 1: Deskriptive Statistiken und Interkorrelationen Anmerkungen: N = 163. Alle Korrelationskoeffizienten oberhalb der Diagonalen wurden mit einem verteilungsfreien Maß (Spearman) geschätzt. Alle Korrelationskoeffizienten unterhalb der Diagonalen wurden um den Einfluss von Geschlecht (0 = männlich; 1 = weiblich) und Muttersprache (0 = andere; 1 = deutsch) kontrolliert. ECR_Anx = bindungsbezogene Angst. ECR_Avoi = bindungsbezogene Vermeidung. SCL = Beschwerdeerleben. BIT = Wohlbefinden. *** p < .001, ** p < .01, * p < .05. Bindung und Wohlbefinden 7 Befragten mediiert wurde. Der Einfluss bindungsbezogener Angst auf das berichtete Wohlbefinden hingegen wurde vollständig über die berichtete Symptomintensität vermittelt. Insgesamt konnten direkte und indirekte Effekte etwa 25 % der Varianz der abhängigen Variable Wohlbefinden aufklären. Diskussion Ziel der Studie war die Überprüfung, inwieweit sich unsichere Bindungsrepräsentationen im gegenwärtigen Wohlbefinden von angehenden Lehrkräften im Referendariat niederschlagen und inwieweit die erlebte Symptomintensität innerhalb dieses Wirkungsgefüges einen vermittelnden Einfluss verübt. Hypothese 1, die einen negativen Einfluss bindungsbezogener Angst auf das berichtete Wohlbefinden der Referendarinnen und Referendare vermutet, muss unter Verweis auf das Pfadmodell abgelehnt werden. Im Pfadmodell variierten die Ausprägungen der bindungsbezogenen Angst und das berichtete Wohlbefinden unabhängig voneinander. Hypothese 2, die einen negativen Einfluss bindungsbezogener Vermeidung auf das Wohlbefinden annimmt, kann hingegen bestätigt werden. Hypothese 3 schließlich, die Vermittlungseffekte zwischen beiden Formen von Bindungsunsicherheit und aktuellem Wohlbefinden über die berichtete Symptomintensität der angehenden Lehrkräfte vermutet, ECR_Anx ECR_Avoi SCL BIT .54*** .31*** .09 .07 -.29** -.34*** Anmerkungen: N = 163. ECR_Anx = bindungsbezogene Angst. ECR_Avoi = bindungsbezogene Vermeidung. SCL = Beschwerdeerleben. BIT = Wohlbefinden. Alle Effekte wurden um den Einfluss von Geschlecht (0 = männlich; 1 = weiblich), Alter und Muttersprache (0 = andere; 1 = deutsch) kontrolliert. *** p < .001, ** p < .01, * p < .05. Abb. 1: Pfadmodell zur Überprüfung des Einflusses von Bindungsunsicherheit auf Wohlbefinden. Pfad β 95 % CI ECR_Anx auf BIT ECR_Avoi auf BIT SCL auf BIT ECR_Anx über SCL auf BIT ECR_Avoi über SCL auf BIT .07 -.29** -.11** -.34*** -.03 -.07 -.22 -.42 --.13 -.21 --.04 -.48 --.20 -.09 -.01 r 2 .25 Tab. 2: Standardisierte Regressionsgewichte und 95 % Konfidenzintervalle (KI) für jeden Pfad im Pfadmodell Anmerkungen: N = 163. ECR_Anx = bindungsbezogene Angst. ECR_Avoi = bindungsbezogene Vermeidung. SCL = Beschwerdeerleben. BIT = Wohlbefinden. In beiden Pfadmodellen wurde um den Einfluss von Geschlecht (0 = männlich; 1 = weiblich), Alter und Muttersprache (0 = andere; 1 = deutsch) kontrolliert. *** p < .001, ** p < .01, * p < .05. 8 Nicola-Hans Schwarzer, Paula Dees, Hendrik Lohse-Bossenz kann teilweise bestätigt werden. Während keine Vermittlung des Zusammenhangs zwischen bindungsbezogener Vermeidung und Wohlbefinden über die Symptombelastung dokumentierbar war, wurde der Zusammenhang zwischen bindungsbezogener Angst und Einschränkungen im subjektiven Wohlbefinden vollständig über das Ausmaß der erlebten Symptombelastung vermittelt. Zusammenfassend verweisen die hier berichteten Befunde auf ein komplexeres Wirkungsgeflecht, das Hinweise in Aussicht stellt, wie frühe Erfahrungen von Bindungsunsicherheit sich im Erleben von Wohlbefinden bei angehenden Lehrkräften bei Eintritt in die berufspraktische Tätigkeit niederschlagen könnten. Bindungsrepräsentationen, die durch ein hohes Maß an Vermeidung charakterisiert sind, scheinen unter Verweis auf die hier berichteten Ergebnisse offenbar unmittelbar zu subjektiven Einschränkungen des Wohlbefindens beizutragen, was mit Befunden von Brugnera und Kolleg*innen (2021) übereinstimmt. Eine nahezu pauschal anmutende Ablehnung positiver Erlebensinhalte wiederum lässt sich mit konzeptionellen Annahmen der Bindungstheorie verbinden, die insbesondere bei unsicher-vermeidenden Bindungsklassifikationen dauerhafte Erfahrungen von Zurückweisung als ursächlich beschreibt (Ainsworth et al., 1978). Kinder internalisieren in solchen Beziehungssystemen die Erfahrung, dass die Bindungsfigur ihnen keine ausreichende Bedeutung zuschreibt, die eine feinfühlige Unterstützung in kindlichen Überforderungssituationen rechtfertigt. Zumindest implizit konstruieren betroffene Personen unter Verweis auf bindungstheoretische Annahmen (Bretherton & Munholland, 2018) in der Folge Selbstkonzepte, die durch vergleichsweise pauschale negative Bewertungen charakterisiert sind. Dies wiederum scheint sich auch in den hier berichteten Ergebnissen fortzuschreiben, die allerdings auf einen professionellen Kontext fokussieren. Abgrenzend hierzu scheinen ängstliche Bindungsrepräsentationen nicht per se zu Einschränkungen im subjektiven Wohlbefinden beizutragen. Stattdessen manifestieren sich diese im Pfadmodell in einem erhöhten symptomatischen Leidensdruck, der wiederum in einem weiteren Schritt zu Einschränkungen des Wohlbefindens führt. Eine derartige Lesart lässt sich erneut konsistent in die konzeptionellen Annahmen der Bindungstheorie einordnen und deckt sich mit Ergebnissen aus einer bereits veröffentlichten Studie, die ähnliche Zusammenhänge für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Allgemeinen (Simmons et al., 2009) berichtet. Ein hohes Maß an bindungsbezogener Angst wird auf frühe Beziehungserfahrungen zurückgeführt, die primär durch Unvorhersehbarkeit und mangelnde Verlässlichkeit der Bindungsfigur innerhalb von Überforderungsmomenten charakterisiert sind (Ainsworth et al., 1978). Abgrenzend zu vermeidenden Beziehungskonstellationen ist es dem Kind in solchen Beziehungen kaum möglich, eine konsistente Strategie im Umgang mit Überforderungserleben zu entwickeln, was wiederum rudimentäre Erfahrungen von Selbstwirksamkeit ausschließt. In der Folge entwickelt das Kind Selbstkonzepte, in denen es als weitestgehend passives und hilfloses Individuum repräsentiert ist (Dykas & Cassidy, 2011). Dies wiederum begünstigt eine grundlegend vulnerable Position, die möglicherweise verstärkt mit symptomatischen Einschränkungen einhergeht und eine plausible Erklärung für daraus resultierende Einschränkungen im subjektiven Wohlbefinden darstellt. Insgesamt reihen sich die hier berichteten Befunde konsistent in einen Forschungsstand ein, der auf die Bedeutung früher Beziehungserfahrungen für professionelle Tätigkeits- und Erfahrungsbereiche hinweist und dabei unabhängig von der beruflichen Tätigkeit zu sein scheint (Brugnera et al., 2021; Schwarzer et al., 2023; Simmons et al., 2009). Hierbei zeigt sich, dass bindungsbezogene Angst sich verstärkt in negativ konnotierten Gesundheitsparametern wie dem globalen Stresserleben (Schwarzer et al., 2023) oder den im Rahmen der vorliegenden Studien erfassten symptomatischen Beschwerden niederschlagen könnte. Bindungsbezogene Bindung und Wohlbefinden 9 Vermeidung hingegen scheint insbesondere mit positiv konnotierten Gesundheitsparametern wie Wohlbefinden unmittelbar negativ assoziiert zu sein (Brugerna et al., 2021). Unter Zuhilfenahme der zitierten Studien und der Ergebnisse der vorgelegten Studie verweist eine übergeordnete Lesart folglich auf eine starke Fokussierung auf negative arbeitsbezogene Erlebensaspekte bei steigender bindungsbezogener Angst. Überdies scheint eine starke Abwehr positiver arbeitsbezogener Erlebensinhalte bei zunehmender bindungsbezogener Vermeidung vorzuliegen, was in zukünftigen Studien weiter zu spezifizieren ist. Limitationen Bei der Interpretation der vorliegenden Ergebnisse sind mehrere Einschränkungen zu beachten: Aufgrund des Querschnittsdesigns können keine kausalen Schlüsse gezogen werden. Alle kausalen Interpretationen beruhen auf theoretischen Annahmen, die mit den erfassten Daten lediglich übereinstimmen. Da außerdem angehende Gymnasiallehrkräfte zu Beginn des Referendariats untersucht wurden, können keine Rückschlüsse auf berufstätige Gymnasiallehrkräfte oder Lehrkräfte anderer Lehrämter gezogen werden. Auch die in dieser Studie gewählte Operationalisierung (Selbsteinschätzung) kann die Ergebnisse verfälschen, die durch geteilte Methodenvarianz zusätzlich beeinflusst sein könnte. Zukünftige Studien sollten andere Formen der Operationalisierung verwenden (z. B. interviewbasierte Verfahren) - insbesondere, da die Erfassung von Bindungsrepräsentationen auf evaluativ-deklarativer Ebene, die in erster Linie bewusste Anteile von Bindungsrepräsentationen abbilden, durchaus kritisch hinterfragt werden kann. Fazit und Ausblick Die vorgelegten Ergebnisse deuten an, dass im Rahmen der Ausbildung zur Lehrkraft eine Auseinandersetzung mit der eigenen Bindungsbiografie von Vorteil sein könnte, wie dies im Zuge der psychotherapeutischen Ausbildung gängig ist. Hierzu eignen sich neben wissensvermittelnden Seminarveranstaltungen insbesondere selbsterfahrungs- und mentalisierungsbasierte Lehr- und Supervisionsformate (Gingelmaier, 2018), um angehende Lehrkräfte noch vor Berufseintritt über die potenziell negativen Auswirkungen eigener Bindungserfahrungen zu informieren und für diese zu sensibilisieren. Eine solche Auseinandersetzung scheint unter Verweis auf die hier berichteten Ergebnisse nicht nur für das Wohlbefinden und das Stresserleben (Schwarzer et al., 2023) von angehenden Lehrkräften von Bedeutung zu sein, sondern dürfte sich überdies in einer insgesamt besser abgestimmten Beziehungsgestaltung zu Schülerinnen und Schülern niederschlagen (Split & Koomen, 2022), was eine wichtige Voraussetzung für die Initiierung von Lern- und Entwicklungsprozessen aufseiten der Heranwachsenden darstellt (Hughes, 2012). Weiterhin ist festzuhalten, dass Untersuchungen, die die Bedeutsamkeit der Bindungsbiografie von angehenden und berufstätigen Lehrkräften prüfen, bis heute kaum vorliegen. Unter Verweis auf den lebenslang prägenden Einfluss von Bindungsrepräsentationen, die insbesondere in Anforderungssituationen das Erleben und Verhalten einer Person nachhaltig prägen (Mikulincer & Shaver, 2016), sind demnach weitere Untersuchungen erforderlich. Zu prüfen wäre beispielsweise, inwieweit sich die Bindungsrepräsentationen von Lehrkräften im konkreten Unterrichtshandeln niederschlagen, mit einer verbesserten Beziehungsqualität zu den Schülerinnen und Schülern einhergehen oder ob bedeutsame Unterschiede zwischen verschiedenen Lehrämtern bestehen. Literatur Ainsworth, M. S., Blehar, M. C., Waters, E. & Wall, S. (1978). Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum. Arens, A. K. & Morin, A. J. S. (2016). 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