unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aufsuchende Krisenbegleitung für Kinder nach häuslichem Gewaltvorfall
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2007
Ingrid Hafenbrak
Kinder sind bei Bedrohungen oder Verletzungen extremem Stress ausgesetzt. Sie leiden unter Gewalthandlungen, die zwischen Erwachsenen stattfinden oder die gegen sie selbst gerichtet sind. Als ZeugInnen oder Opfer sind sie verletzt, belastet und verängstigt. Diese Kinder müssen verstärkt in den Blick genommen und dürfen in ihrer Not nicht alleine gelassen werden. Seit Januar 2005 wird im Landkreis Ravensburg ein spezifisches Unterstützungsangebot für Kinder umgesetzt, die häusliche Gewalt erfahren und aktuell eine Intervention der Polizei miterlebt haben.
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Die Bedarfsituation In Baden-Württemberg ist der Platzverweis - eine polizeirechtliche Zwangsmaßnahme zur Abwehr weiterer Gefahren, bei der bestimmten Personen (hier Gewalttätern) geboten wird, einen bestimmten Standort (hier meist die eigenen vier Wände) für gewisse Zeit zu verlassen - im Jahre 2002 flächendeckend eingeführt worden. Laut Innenministerium nimmt seither die Anzahl der Platzverweise landesweit kontinuierlich zu. Um nicht nur kurzfristig häusliche Gewalt zu unterbrechen, bedarf es eines gut abgestimmten Gesamtkonzepts, das vielen Ortes noch in den Kinderschuhen steckt. Dazu sind effektive Beratung der Opfer, Maßnahmen für Täter und adäquate Hilfen für Kinder dringend notwendig. Ebenso verpflichtend ist die Vernetzung aller Einrichtungen und Institutionen, die am Platzverweisverfahren beteiligt sind. Hierin liegt eine Chance, Betroffene in der Komplexität ihrer Gewaltsituation wahrzunehmen und Perspektiven zu entwickeln, um dauerhaft ein gewaltfreies Leben zu ermöglichen. Die Landesstiftung Baden-Württemberg startete im Januar 2005 im Rahmen eines Aktionsprogrammes „Gegen Gewalt an Kindern“ das Pilotprojekt „Kinder als Zeugen und Opfer häuslicher Gewalt“. Daran beteiligt waren 14 Projekte an 11 Standorten. Ziel war es, das Beratungsangebot für Kinder auszubauen und regional zu vernetzen. Bis zum Ende des Projektes im Juni 2006 konnte ein breites Spektrum an Hilfen entwickelt und umgesetzt werden. Die Notwendigkeit ergab sich aus den Erfahrungen im Platzverweisverfahren. Die Zahl der betroffenen Kinder ist sehr hoch, 268 uj 6 (2007) häusliche gewalt Unsere Jugend, 59. Jg., S. 268 - 275 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Aufsuchende Krisenbegleitung für Kinder nach häuslichem Gewaltvorfall Ingrid Hafenbrak Kinder sind bei Bedrohungen oder Verletzungen extremem Stress ausgesetzt. Sie leiden unter Gewalthandlungen, die zwischen Erwachsenen stattfinden oder die gegen sie selbst gerichtet sind. Als ZeugInnen oder Opfer sind sie verletzt, belastet und verängstigt. Diese Kinder müssen verstärkt in den Blick genommen und dürfen in ihrer Not nicht alleine gelassen werden. Seit Januar 2005 wird im Landkreis Ravensburg ein spezifisches Unterstützungsangebot für Kinder umgesetzt, die häusliche Gewalt erfahren und aktuell eine Intervention der Polizei miterlebt haben. Ingrid Hafenbrak Jg. 1954; staatlich anerkannte Erzieherin und Heilpädagogin, Tanzpädagogin und ihre Not wird oft nicht ausreichend vom Helfersystem wahrgenommen. Hochschätzungen gehen davon aus, dass bis zu 10.000 Kinder in Baden-Württemberg im letzten Jahr ZeugInnen von häuslicher Gewalt waren. Ob, wann und wie aber ihre Not gesehen wird, hängt u. a. vom Problembewusstsein und von den Verfahrensabläufen ab. Es fehlt häufig an gut abgestimmten Interventionsabläufen zwischen den beteiligten Institutionen (z. B. Polizei, Ordnungsamt, Jugendamt, Beratungsstellen, Justiz u. a. m.), und die Vorgehensweisen müssen ständig überprüft und weiter optimiert werden. Im Raum Ravensburg wurde im Januar 2005 die Arbeit für die Kinder gemeinsam mit der Psychologischen Beratungsstelle der Caritas Bodensee-Oberschwaben und dem Trägerverein Frauen und Kinder in Not e.V. aufgenommen. In unseren Fachkreisen sah man einen Handlungsbedarf zur Verbesserung im Interventionsablauf bei häuslicher Gewalt. Modellhaft wurden Vernetzungskonzepte und pädagogisch-therapeutische Angebote zur zeitnahen Unterstützung von Kindern, insbesondere nach Polizeieinsatz und Platzverweis (PE/ PV), entwickelt und umgesetzt. Ein neuer wichtiger Beitrag ist die Einzelarbeit für die (mit-)betroffenen Kinder. Das Angebot einer kurzzeitigen und aufsuchenden Krisenberatung ermöglicht Mädchen und Jungen, direkt mit einer eigenen Ansprechperson über Erlebtes zu sprechen und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Es setzt zeitnah nach einem Gewaltvorfall an und ist in dieser Form auf ca. fünf Besuche begrenzt. Es erweist sich bereits als wichtiger und erfolgreicher Beitrag zur Ergänzung des regionalen Hilfenetzangebotes. Trägerstruktur vor Ort Der Verein „Frauen und Kinder in Not e.V.“ ist Träger des Ravensburger Frauen- und Kinderschutzhauses und seit kurzem auch der Beratungsstelle für Frauen und Mädchen mit angegliederter Interventionsstelle. Seit über 20 Jahren wird hier professionelle Hilfe bei Gewalt und Krisen geboten. Die Einrichtungen verfügen über entsprechend qualifiziertes Fachpersonal, mit Diagnose-, Beratungs-, Methoden- und Vernetzungskompetenzen. Sie haben langjährige Erfahrungen im Umgang mit und Zugang zu gewaltbetroffenen Frauen, Müttern und deren Kindern. Zugang zu den Opfern kurz nach dem Gewaltgeschehen Seit November 2004 kann nun auch die Mitarbeiterin des Modellprojektes einer Interventionsstelle nach Platzverweis auf die Frauen „pro-aktiv“ zugehen. Die Polizei der Polizeireviere von Ravensburg und Weingarten lässt die betroffenen Frauen eine Einverständniserklärung zur Weitergabe der Daten unterschreiben. Diese wird unverzüglich weitergeleitet, damit umgehend ein Kontakt mit dem Opfer zunächst telefonisch stattfinden kann. Der niederschwellige Zugang bewährt sich. Deutlich ist, dass „pro-aktive“ und aufsuchende Angebote eher Opfer erreichen, die die klassischen staatlichen Hilfeangebote aus verschiedenen Gründen kaum oder nicht mehr annehmen. Auf das Unterstützungsangebot für (mit-)betroffene Kinder wird bereits im ersten Gespräch mit der Mutter hingewiesen. Häufig müssen sie jedoch erst einmal „gewonnen“ werden. Dies setzt Vertrauen voraus, und Erfahrungen zeigen, dass die grundsätzliche Bereitschaft, eine Unterstützung anzunehmen, am größten ist, wenn sie kurz nach dem Gewaltgeschehen häusliche gewalt uj 6 (2007) 269 angeboten wird. Die Fachfrau für Kinder erklärt ihrerseits der Mutter in einem Erstgespräch Inhalte und die Methode der Kinderunterstützung. Mit ihrem Einverständnis erfolgt im Anschluss der Kontakt mit dem Kind. Das erste Treffen findet überwiegend auf Wunsch der Betroffenen zu Hause statt. Beide Mitarbeiterinnen des Trägervereins arbeiten für diese Interventionstätigkeit mit einem sehr geringen Stellenanteil von jeweils 10 %. Zunächst gab es eine Anschubfinanzierung durch Projektgelder aus Landesmitteln für Opferschutz und der Landesstiftung. Eine Weiterführung der Arbeit für weitere 1 1 ⁄ 2 Jahre ermöglichen derzeit Spendengelder des Vereins. Eine zukünftige Absicherung für das Kinderprojekt wird z. B. durch eine Regelfinanzierung über Hilfen zur Erziehung angestrebt. Betroffenheit der Kinder Töchter und Söhne sind bei häuslicher Gewalt immer mitbetroffen: sei es als direkte Opfer von Misshandlungen oder als ZeugInnen von Gewalt gegen ihre Mütter. Das Aufwachsen in einem Klima häuslicher Gewalt schadet immer der gesunden Entwicklung und ist ein ernst zu nehmender Indikator für Kindeswohlgefährdung. Mittlerweile bestätigen dies auch zahlreiche deutschsprachige Forschungsergebnisse (vgl. Kindler 2005; Kavemann 2003; Heynen 2003). Die jüngsten Untersuchungen aus dem Pilotprojekt der Landesstiftung verdeutlichen einmal mehr, mit welchen zum Teil schwerwiegenden Gewaltsituationen die Kinder konfrontiert und dadurch gefährdet sind. Dokumentiert sind Bedrohungen, leichtere Körperstrafen, erhebliche Misshandlungen, psychische und physische Vernachlässigungen, sexueller Missbrauch der Kinder. Viele mussten schon einmal in ein Frauenhaus flüchten, manche hatten bereits schon mehrere Einsätze der Polizei erlebt. In einer Atmosphäre, die durch Angst, Unsicherheit und Instabilität gekennzeichnet ist, erleben sich Söhne und Töchter hilflos und ohnmächtig. Sie geraten in ihrer Gefühlswelt völlig durcheinander. Vertrauen in die eigenen Gefühle geht verloren und wird zurückgehalten. Ihre Lebenssituation zwingt sie dazu, sich mit ihren Schwierigkeiten, mit dem Beobachteten und Erlebten alleine auseinanderzusetzen. Offenheit und Sich-Anvertrauen werden als Verrat empfunden. Sowohl Angst vor Strafe wie auch eigene Schuld-, Schamgefühle und starke Loyalitätskonflikte lassen dies kaum zu. Kinder fühlen sich angesichts der Brutalität des Vaters und der Ohnmacht der Mutter grenzenlos überfordert und ausgeliefert. Gleichzeitig übernehmen sie aber auch Verantwortung und versuchen sich als SchlichterInnen und BeschützerInnen. Kinder können sich der Heftigkeit der Gewalt nicht entziehen und reagieren mit unterschiedlichen Symptomen. Oft bleiben tiefgreifende Entwicklungsverzögerungen und Schädigungen nicht aus (vgl. Knölker 2000). Auch wenn die Auswirkungen nicht immer traumatisierende Intensität erreichen, sind spezifische Hilfen notwendig. Oftmals bedarf es eines sehr komplexen und langfristigen Veränderungs- und Verarbeitungsprozesses. Profil der Helfenden Um die enormen Stressfaktoren der Mädchen und Jungen aufzufangen und abzumildern, braucht es zwingend zeitnah nach einem Gewaltvorfall für sie eine eigene fachlich qualifizierte Ansprechperson. Damit ihre Not überhaupt gesehen wird und weitreichende Folgen 270 uj 6 (2007) häusliche gewalt bearbeitbar und integrierbar werden, sind von ihr Kenntnisse und Erfahrungen in der Dynamik von Gewaltbeziehungen nötig. Sie braucht die Fähigkeit, traumatische Symptome zu erkennen. Zudem bedarf es natürlich auch eines fundierten entwicklungspsychologischen Grundwissens. Kenntnisse über das lokale Hilfesystem sind zudem unabdingbar, um in notwendige mittelbzw. langfristig orientierte und spezialisierte Maßnahmen übergeben zu können. Die Haltung sollte geprägt sein durch eine Parteilichkeit für das Kind und eine klare Stellungnahme zu häuslicher Gewalt. Ziele der aufsuchenden Krisenbegleitung In einer akuten Krisenintervention geht es zunächst einmal um • die aktuelle Entlastung bzw. Stabilisierung der Kinder, • das schrittweise Aufheben der Isolation und des Schweigegebotes, • die altersgemäße Erklärung des Instruments „Platzverweis“, • die Gefährdungseinschätzung und Abklärung des Unterstützungsbedarfs, • das Erstellen eines individuellen Sicherheitsplans, • das Aufzeigen und Ausbauen eines sicheren sozialen Netzes im Wohnumfeld, • das Erleichtern der Übergänge in neue Hilfesysteme und • die Verbesserung der Schnittstellen zu anderen Institutionen. Die Vorteile in einer direkten Begegnung zeigen sich wie folgt: Der eigenständige Bedarf an Schutz, Information und Beratung von Kindern und Jugendlichen im Kontext häuslicher Gewalt wird wahrgenommen. Die Gefährdung bzw. Belastung von Kindern und Jugendlichen wird im unmittelbaren Gespräch mit ihnen abgeklärt. Die Einschätzung kommt nicht ausschließlich über die Eltern oder Dritte zustande. Der Zugang zu den Kindern erfolgt zeitnah und pro-aktiv, und scheinbar unüberbrückbare Hürden fallen eher weg. Mit der aufsuchenden Intervention werden Kinder erreicht, die wohl kaum sonst Gehör finden würden. Zukünftige mittel- und langfristige Hilfen werden gemeinsam „maßgeschneidert“ entwickelt. „Sichere Orte“ sind eher auf den Wohnort und das Umfeld zugeschnitten. Bestehende Ressourcen (im sozialen Umfeld) werden verstärkt, gefördert und ausgebaut. Das Kind wird in seinem „Zuhause“ stabilisiert und respektiert. Methoden und Prinzipien Überraschenderweise finden fast alle Beratungen auf Wunsch zu Hause statt. Der Vater wohnt zu dieser Zeit (gerade) nicht in der Familie. Vorgesehen sind verbindliche Erst-, Zwischen- und Abschlussgespräche mit der Mutter, wenn nötig mit einer Übersetzerin. Auf die aktuelle vorgefundene Situation (Stimmung, Bereitschaft und Bedürfnis des Kindes) wird besonders geachtet. Die Inhalte des Konzepts umfassen die Themenbereiche Information, Sicherheit, Versorgung, Unterstützung und Kooperation. In der Regel liegt die Besuchsdauer bei ca. zwei Stunden. Es werden bis zu fünf Besuche eingeplant. Im Anschluss daran können „klassische Hilfen“ für mittelbzw. langfristige Unterstützung folgen. In der aufsuchenden Arbeit wird auf Methodenvielfalt besonders geachtet. Es sind Kinder unterschiedlichen Alters und viele mit Migrationshintergrund. Wir wissen nicht, welche Lebenswelt wir vorfinden. Gibt es ein eigenes Zimmer, ist Spielmaterial vorhanden, ist ein Geschwisterkind dabei etc.? Bewährt hat sich beim Zugang z. B. bei Vor- und Grundschulkindern ein kleiner „Reisekoffer“. Mit verschiedenem Material gefüllt, kommt er zum Einsatz. Je nach Alter und Interesse des Kindes ist der Inhalt häusliche gewalt uj 6 (2007) 271 Quelle: Hafenbrak auch austauschbar. „Entlastendes“ kann ausgepackt -„Belastendes“ kann in den Koffer abgelegt werden. Beispiele aus meiner Praxis Zum Standardinhalt gehören Buntpapiere und Stifte. Sie werden bevorzugt für gemalte Familienbilder benutzt, die wiederum einen guten Gesprächseinstieg in die veränderte Familiensituation bieten. Eine „Erste-Hilfe-Ausstattung“ hat ebenso großen Aufforderungscharakter (symbolisch werden gleich die wichtigen „Weggefährten“ - Schmusetiere - versorgt) wie Biegepüppchen, Gefühlekärtchen, Matchboxautos. Sie regen die Kinder zum Spielen und Mitteilen an. Eine „Spezialbrille“ ist im Koffer, durch die das Kind eigene „Wunschbilder“ sehen und mitteilen kann. Erlebniskärtchen, auf denen allerlei Aktivitäten abgebildet sind, ermuntern das Kind zu erzählen, was es gerne unternimmt oder unternommen hat und mit wem es diese Aktivitäten gerne tut oder tun würde. Dies ermöglicht den Kindern leichter, mit mir als noch fremder Person in Beziehung zu treten und sich dann den Themen, die sie bewegen und ihnen geschehen sind, behutsam zu nähern. Später kommen noch weitere Utensilien dazu, wenn das Thema der zukünftigen Sicherheit im Vordergrund steht. Es ist eine Realität, dass Kinder häufig eine aktive Rolle als Schützende einnehmen. Je nach Alter und Fähigkeiten müssen sie auch aktiv in eine Sicherheitsplanung einbezogen werden. Da gibt es Trillerpfeifen als kleines Geschenk, um eventuell in erneuten Krisensituationen den unterstützenden Nachbarn rufen zu können, Info- Büchlein „Wenn der Papa die Mama haut“, eine Liste, wohin sich das Kind wenden kann, oder ein Handy, an dem spielerisch geübt wird, wie wichtige Nummern eingegeben oder gespeichert werden können, um Hilfe zu holen. Schnell fällt auf, welch großes Bedürfnis die Kinder gleich welchen Alters haben, sich auf ihre individuelle Weise auszudrücken. Die Kinder sind zwar beim ersten Kontakt unterschiedlich mitteilsam. Allen gemeinsam ist aber, dass sie ein weiteres Treffen bei sich zu Hause wünschen. Sie signalisieren deutlich, dass sie nicht übersehen werden wollen, sie haben mitzuteilen, wie sie ihren momentanen Zustand erleben. Sie spüren, sie werden ernst genommen, und hören, dass ich auch zu anderen Kindern gehe, die Ähnliches erlebt haben. Sie sind jetzt wichtig! Gewisse Erleichterung zeigt sich, wenn sie auch erfahren, dass sie nicht die Einzigen sind, die ich besuche. Ich höre ihnen zu, kenne mich aus und nehme mir verlässlich Zeit für sie. Ihre Geschichte, ihre Nöte, aber auch ihre Stärken interessieren mich. Sie spüren, ihre Fragen dürfen im Mittelpunkt stehen. Teilweise werden sehr differenziert die eigenen Wahrnehmungen der Vorfälle geschildert. Sie fragen, wie es wohl weitergeht, 272 uj 6 (2007) häusliche gewalt Quelle: Hafenbrak erzählen, was sie getan haben, zeigen, wo sie sich versteckt, wie sie sich in angstvollen Situationen geschützt haben, wohin sie sich schon einmal gewandt haben. Die Kinder kennen sich zu Hause bestens aus und geben aufschlussreiche Informationen zum Ort des Geschehens. So können ergänzende Sicherheitsaspekte vor Ort mit den Kindern durchgespielt oder -gesprochen werden und weitere Überlegungen eines individuellen Notfallplanes entstehen. Sie bekommen vermittelt, dass es bei akuten Gewaltsituationen nicht ihre Verantwortung und zu gefährlich ist, selbst dazwischenzugehen. Sie erfahren aber eine Wertschätzung der Besorgnis und aller Maßnahmen, die sie zum Schutz unternommen haben. Überlegt wird, wohin geflüchtet, wer zu Hilfe geholt werden kann und wo sie eventuell unterkommen. Kinder sind sehr aufmerksam, wenn es um altersgemäße Erklärungen zum Platzverweis, Näherungsverbot oder Begriffe wie Wohnungszuweisungen geht. Einzelne bringen dabei deutlich zum Ausdruck, dass sie den Vater vermissen, dass sie ihn sehen wollen, dass sie wünschen, wieder zusammen zu sein. Ihre Loyalitätskonflikte kommen zur Sprache, ebenso (vielleicht zum ersten Mal) eine Stellungnahme zur Gewalt. Sie hören, dass sie keine Schuld trifft. Es sind Kinder dabei, die bereits selbst unmittelbar von Gewalt (Schläge, Bedrohungen, Isolierungen) betroffen waren. Oder ältere Kinder, die wieder einmal die Polizei riefen und das jüngere Geschwisterkind in Schutz nahmen. Deutlich ist, in welcher ambivalenten Gefühlslage sich die Kinder befinden: Einerseits spüren sie Erleichterung, dass mit dem Einsatz der Polizei erst einmal Ruhe eingekehrt ist, andererseits ängstigen sie die momentane Situation und die nahe Zukunft. Eine Ersteinschätzung erfolgt zum physisch/ psychischen Zustand. Es wird geprüft, ob die Grundversorgung momentan ausreichend gewährleistet ist, ob medizinische Hilfen sofort nötig sind. Bei fast allen Kindern fallen starke Extreme im Nahrungs- und Schlafverhalten auf. Sind Auffälligkeiten in der Entwicklung zu beobachten? Welche Beeinträchtigungen sind zu erwarten? Kann die Schule/ der Kindergarten besucht werden, und wer sollte notwendigerweise über die (aktuellen) Vorfälle benachrichtigt werden? Mitunter sind bereits viele Fehltage in Schule und Kindergarten festzustellen. Selten sind die Einrichtungen über die häuslichen Probleme informiert. Gemeinsam wird erörtert, welche sozialen Netze das Kind bereits kennt und nutzt. In einigen Familien sind Nachbarn eingeweiht (bzw. haben selbst schon die Polizei gerufen), und manche unterstützen die Kinder bei den Hausuj 6 (2007) 273 häusliche gewalt aufgaben. Wie kann dazu hilfreich ergänzt werden? Wo braucht es mittelbzw. langfristige Maßnahmen? Sind diese Kinder vor Ort in Vereinen etc. integriert? Örtliche Angebote könnten rasch für spürbare Entlastung auch in schulbzw. kindergartenfreien Zeiten sorgen. Erkenntnisse und Optimierung der Arbeit Die aufsuchende Krisenberatung scheint besonders geeignet zu sein, den vielfältigen Unterstützungsbedarf abzuklären. Wege werden aufgezeigt, und Brücken zu notwendigen Hilfemaßnahmen gelingen eher. Insbesondere durch eine im Anschluss nachfolgende Unterstützung eines/ r FamilienhelferIn können wirkungsvoll angefangene Schritte weitergeführt werden. Eine nachhaltige Veränderung erreichen jedoch nur Unterstützungen, die über einen längeren Zeitraum mit dem vor Ort zur Verfügung stehenden Hilfenetz geplant werden. Der unmittelbare Kontakt muss zeitnah hergestellt werden. Viele betroffene Kinder erhalten derzeit noch keine ausreichende Hilfe und haben selten Gelegenheit, mit einer Vertrauensperson über Erlebtes zu sprechen. Für die Einbindung der von Gewalt betroffenen Mutter braucht es mehr Raum, z. B. zur Stärkung ihrer Erziehungskompetenz und zur Erhaltung der Kontakte zum Kind. Insbesondere in der Kooperation mit der zuständigen Mitarbeiterin für Frauen müssen in regelmäßigen Abständen Absprachen zu weiteren Vorgehensweisen getroffen werden. Unterstützungsangebote müssten Kinder erreichen, unabhängig davon, ob ein Platzverweis ausgesprochen wurde. Väter müssen für ausgeübte Gewalt Verantwortung übernehmen, damit Gewaltkreisläufe unterbrochen und Kinder von Schuldgefühlen und Loyalitätskonflikten entlastet werden. 274 uj 6 (2007) häusliche gewalt Bearbeitet von M. Busch, D. Fehlhaber, G. Fieseler, E. Fricke, P. Hartleben- Baildon, W. Möller, C. Müller, C. Nix, R. Witte 2006. 475 Seiten. UTB-S (978-3-8252-2859-0) kt € [D] 24,90 / € [A] 25,60 / SFr 42,70 Das „SGB VIII“ regelt u. a. die Bereiche Jugendarbeit, Kinder- und Jugendschutz, Beratung in Trennungs- und Scheidungsangelegenheiten. Im Buch werden alle Vorschriften kurz und bündig kommentiert, besonderen Wert haben die Autorinnen und Autoren auf eine sozialpädagogische Perspektive gelegt. Aktuelle Änderungen des Gesetzes wie TAG (Tagesbetreuungsausbaugesetz) und KICK (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz) wurden berücksichtigt. Die knappe und übersichtliche Form der Beiträge ist gerade für Studierende der Sozialen Arbeit und für Praktiker im Alltag sehr hilfreich. a www.reinhardt-verlag.de Unterstützung, Entlastung und Vermeidung neuerlicher Gewaltübergriffe wird nur im Verbund mit am Platzverweisverfahren beteiligten Institutionen gelingen. Interventionen bei häuslicher Gewalt dürfen natürlich nicht nur auf die aktuellen Vorfälle beschränkt sein. Sie müssen vielmehr langfristig geplant und koordiniert werden. Zwingend ist die Etablierung bereits bestehender Maßnahmen durch eine (sichere) langfristige finanzielle Absicherung. Notwendig ist ebenso die Offenheit und Bereitschaft zur Weiterentwicklung und zu dem Ausbau bestehender Angebote. Literatur Kavemann, B./ Kreyssig, U. (Hrsg.), 2006: Handbuch Kinder und häusliche Gewalt. Wiesbaden Kindler, H./ Werner, A., 2005: Auswirkungen von Partnerschaftsgewalt auf Kinder: Forschungsstand und Folgerungen für die Praxis. In: Deegener, G./ Körner, W. (Hrsg.): Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Ein Handbuch. Göttingen, S. 104 - 127 Kavemann, B., 2003: Kinder und häusliche Gewalt. In: Sozial extra, 27. Jg., H. 4, S. 12 - 17 Kindler, H., 2002: Partnerschaftsgewalt und Kindeswohl. Eine meta-analytisch orientierte Zusammenschau und Diskussion der Effekte von Partnerschaftsgewalt auf die Entwicklung von Kindern: Folgerungen für die Praxis. München Heynen, G., 2001: Partnergewalt in Lebensgemeinschaften: direkte und indirekte Auswirkungen auf die Kinder. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 24. Jg., Bd. 56/ 57, S. 83 - 100 Knölker, U., 2000: Kinder und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie systematisch. Bremen Interessante Internetlinks www.paritaet-bw.de und www.projekt-kinder@paritaet-bw.de: Vorstellung der Projekte „Kinder als Zeugen und Opfer häuslicher Gewalt“ und Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung der Projekte durch Kavemann/ Seith www.wibig.uni-osnabrueck.de: Informationen, Texte und Literaturhinweise zum Thema Die Autorin Ingrid Hafenbrak Verein Frauen und Kinder in Not e.V. Hilfe bei Gewalt und Krisen Römerstraße 4 88214 Ravensburg Tel. (07 51) 1 63 65 kontakt@frauenhaus-ravensburg.de www.frauen-und-kinder-in-not.de häusliche gewalt uj 6 (2007) 275
