unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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„Es wird etwas passieren - allerdings wird euch nichts passieren!“ Mobbing unter Jugendlichen und Stand-up-Kurse für Opfer
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Ute Lorenzen
Horst Schawohl
Unter dem Motto "Es wird etwas passieren - allerdings wird euch nichts passieren" sollen jugendliche Opfer, die wiederholt im Kontext von Schule der von anderen Jugendlichen ausgehenden Gewalt ausgesetzt sind, in Stand-up-Trainings Sicherheit und Stärkung erfahren.
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In den vergangenen Jahren ist das Angebot für gewaltbereite oder gewalttätige Jugendliche sowie junge Heranwachsende durch die Implementierung zahlreicher Coolness- oder Anti-Aggressivitäts-Trainings® erfreulich ausgedehnt worden (vgl. Weidner/ Kilb 2004; Schawohl 2004, 99ff). Die praktische Umsetzung dieser Gruppenarbeit erfolgt in der Regel durch zusatzqualifizierte SozialpädagogInnen oder SozialarbeiterInnen, die dann zu diesem Ausbildungsgang zugelassen werden, wenn sie „sowohl einen pädagogischen, soziologischen oder psychologischen Hochschulabschluss als auch eine mindestens dreijährige Berufspraxis in einem relevanten Arbeitsfeld besitzen“ (Kilb 2004, 109). Die intensive Auseinandersetzung mit der Klientel der jungen Straftäter lässt jedoch eine Gruppe hinsichtlich eines Angebotes zum Erleben von Anerkennung, Zugehörigkeit und Sicherheit unberücksichtigt: die Gruppe der Opfer, „gleichsam also diejenigen, die das Leid zu tragen haben“ (Schawohl 2006, 72). Opfer suchen nicht selten Schutz und Sicherheit in der Defensive, was sich auch zum Teil in der Darstellung in den Medien ausdrückt - spielt das Opferleid dort doch eher eine Statisten- oder gar „keine Rolle […]. Entscheidend ist nur die physische Überlegenheit der Sieger. Die Opfer […] sind als Mitmenschen nicht vorgesehen“ (Beuster 2006, 179). Zur Situation von Opfern Unter Umständen, die dem Ansinnen einer ernst genommenen Beachtung entgegenstehen, da die Bedrohlichkeit und das ein erträgliches Zusammenleben zerstörende Vorgehen Dritter ignoriert werden, leiden die Opfer still und fallen beispielsweise im Schulalltag nicht auf, weil die wiederholte Verletzung des Selbstwertgefühls sowie eine mangelnde Unterstützung zu Schweigen und Verschweigen führen können, das Schweigen also gleichsam als Schutzschild dient (vgl. Cyr 2003, 19ff). Bedauerlicherweise inkludiert das auch einen Schutz für den oder die Täter, denn „leider tragen viele Opfer auch lange zur Geheimhaltung von Straftaten bei. [Sie] reden selten mit ihren Eltern oder Lehrern darüber. Sie haben mobbing unter jugendlichen uj 9 (2007) 379 Unsere Jugend, 59. Jg., S. 379 - 385 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Es wird etwas passieren - allerdings wird euch nichts passieren! “ Mobbing unter Jugendlichen und Stand-up-Kurse für Opfer Ute Lorenzen/ Horst Schawohl Unter dem Motto „Es wird etwas passieren - allerdings wird euch nichts passieren“ sollen jugendliche Opfer, die wiederholt im Kontext von Schule der von anderen Jugendlichen ausgehenden Gewalt ausgesetzt sind, in Stand-up-Trainings Sicherheit und Stärkung erfahren. Angst vor den Tätern, befürchten, Einschränkungen hinnehmen zu müssen, und haben Sorge, nicht ernst genommen zu werden und Vorwürfen ausgesetzt zu werden“ (Gall 2006, 95f). Dieses Verschweigen kann - und das verdeutlicht die dramatische Wirksamkeit der Geheimhaltung - aus der Perspektive des Opfers leicht zu einem „Ausrasten“ werden. So schildert ein Elfjähriger, der seiner Mutter lange Zeit nichts von den täglichen Attacken erzählt, die er in der Schule erleidet: „Da bin ich dann richtig ausgerastet. […] Ich hab geschwiegen und mir gedacht, es nützt ja eh nichts, wenn ich was sage“ (Tramitz 2003, 120). Diese Situation beschreibt aus Sicht des Betroffenen das explizit benannte Schweigen, also ein für das Umfeld zunächst nur als passives Verhalten wahrzunehmendes Phänomen, das in diesem Fall jedoch für die Umwelt als aktives Ausrasten wahrzunehmen gewesen wäre, als er nach fortgesetzten Kränkungen ein Messer mit in die Schule nahm - sich vor einem Übergriff allerdings einem Mitschüler mit den Worten „Erfurt fand ich klasse, das kann ich auch“ (Tramitz 2003, 124), anvertraute, sodass eine mögliche Eskalation ausblieb. Retrospektiv formuliert der Junge seine Motivation zur Bewaffnung damit, dass ihm das Messer „Genugtuung und Sicherheit [verlieh]. [Und] von nun an hatte [er] einen weiteren Spottnamen: Messerstecher. Aber damit konnte er besser leben als mit Hurensohn, fette Sau und Wichser. Denn jetzt, so schien es, wurde er gefürchtet. Endlich“ (Tramitz 2003, 124). Ohne jegliche Dramatisierung wäre das verhinderte Szenario dann möglicherweise in seiner Bewertung analog zu dem Ausrasten eines 18-Jährigen im November 2006 in einer Schule in Emsdetten zu betrachten gewesen, der in einem Abschiedsbrief resignativ feststellt, „man habe sich über ihn ‚lustig gemacht‘, er sei immer nur ‚der Dumme‘ gewesen“ (Jacobs 2007, 8). Wird ein solcher Fall der Öffentlichkeit bekannt, wird in der Regel umgehend auf die Singularität dieser extremen Eskalation verwiesen - die Singularität kann jedoch lediglich auf eben diese Stufe der Eskalation bezogen sein, denn die potenzielle Gefährdung ist ungleich höher: „Mobbing gehört zum Schüleralltag. Zahl der Betroffenen in Deutschland pro Woche: 500.000 Kinder“ (Jacobs 2007, 9). Vor diesem Hintergrund ist es eher bemerkenswert, dass diese Schicksale nicht öfter mit einem für die Außenwelt spürbaren „Ausrasten“ enden, dessen Konsequenzen dann zwar Beachtung finden - gleichwohl erst am Ende und als Ende einer bis dato tragischen Entwicklung, wie beispielsweise - bezogen auf den oben erwähnten 18-Jährigen - „der angekündigte Amoklauf eines Besessenen“ (Terschüren 2006, 2f), der sich über Jahre unerträglich gedemütigt und missverstanden gefühlt hat (vgl. Gessner 2006, 2f). Jochen Korte, Rektor einer Förderschule, beklagt, dass die Erforderlichkeit der Hilfe für die Opfer schlichtweg übersehen 380 uj 9 (2007) mobbing unter jugendlichen Ute Lorenzen Jg. 1966; Diplom-Sozialpädagogin, Anti-Aggressivitätsu. Coolness- Trainerin® (ISS-zertifiziert), Konzeption und Leitung des Stand-up- Trainings® bei Nordlicht e.V. Horst Schawohl Jg. 1965; Diplom-Sozialpädagoge, Anti-Aggressivitäts-Trainer® (ISSzertifiziert), AAT-Kursleiter bei Nordlicht e.V. und der JVA Hahnöfersand, Dozent am ISS in Frankfurt und am Institut für Konfrontative Pädagogik in Hamburg wird. Oftmals werden die Leidtragenden lediglich als ZeugInnen in eigener Sache betrachtet und behandelt; dabei wäre es für die Angegriffenen und Bedrohten wichtig, erkennen zu können, dass sie mit ihrem Problem nicht allein gelassen werden, sondern seitens der Schulleitung erfahren: „Dein Problem ist auch mein Problem. Ich bin dein Verbündeter“ (Korte 1994, 69f). Sollte diese Unterstützung fehlen, können leidende SchülerInnen in seltenen Fällen, wie oben geschildert, zu „RächerInnen“ an ihren Lehrkräften oder MitschülerInnen werden, weil sie irgendwann an einen unerträglichen Punkt des Leidens gelangen, oder sie werden zu SchulversagerInnen, da niemand das Leiden hört oder wahrnimmt. Andererseits können sie LehrerInnen „nerven“ oder provozieren, weil sie ständig Aufmerksamkeit beanspruchen, ohne die Aussicht auf eine langfristige gelungene Konfliktlösung. Ein weiterer Aspekt ist eine eventuelle Fragmentierung der Wahrnehmung, wenn lediglich bestimmte, überwiegend negative oder destruktive Hinweise beachtet und für die eigene Person als gültig angenommen werden, was wiederum eine Lähmung der kognitiven Fähigkeiten nach sich ziehen kann, da der Glaube an durchaus vorhandene Fähigkeiten „wie Sand zwischen den Fingern zerfließt“ (Kraemer 2003, 49). Als eine mögliche Folge ist „die Angst vor den MitschülerInnen [...] bei manchen Kindern weit größer [...] als die Angst vor schlechten Noten“ (Niederle 2002, 28f). Diese Angst schildert Gardner in dem Buch Im Schatten der Wächter bewegend und nachdrücklich. Es wird die Geschichte des Neuntklässlers Elliot erzählt, der, nachdem ein Mitschüler, der ihn zusammengeschlagen hat, eine Verwarnung erhält, von seinem Peiniger anhaltend drangsaliert wird - für den Neuntklässler wird das „Leben die Hölle. Es fanden keine Prügeleien mehr statt […]. Aber was ihn stattdessen erwartete, war fast noch schlimmer. Zunächst versuchten sie, ihn mit Anschuldigungen, die unter der Hand weitergetragen wurden, fertig zu machen. Elliot stinkt. Elliot pisst ins Bett. Elliot ist schwul. Blödsinnige, kindische Behauptungen, die niemand nur eine Sekunde lang hätte glauben sollen. Aber die Gerüchte machten die Runde, breiteten sich aus, wurden ausgeschmückt und erweitert. Die anderen Schüler fingen an, ihn verächtlich anzustarren, ihn schadenfroh auszulachen. Ging er an ihnen vorbei, vollführten sie obszöne Gesten und stießen Drohungen aus. […]. Andere Dinge passierten, viel schrecklichere Dinge. […]. Er glaubte, dass er seine Lage nur verschlimmern würde, wenn er sich wehrte, also tat er es nicht. Stattdessen versuchte er, unsichtbar zu werden […]. Aber es half nichts. Sie wollten ihn bemerken, es bereitete ihnen Vergnügen, ihn zu bemerken. Sie hielten bewusst Ausschau nach ihm. […] Einmal suchte er in der Pause Zuflucht in der Bibliothek, aber sie kamen und zerrten ihn nach draußen. Der Lehrer, der die Aufsicht hatte, schaute nur kurz auf und sagte gelangweilt: ‚Wenn ihr euch prügeln wollt, dann macht das draußen‘“ (Gardner 2004, 29f). Die Passage beschreibt eine Dilemmasituation, wie sie von der hier fokussierten Klientel nicht selten erlebt wird. Im realen Schulalltag bedeutet das zum Beispiel, dass ein 14-Jähriger von mehreren Schülern festgehalten und auf seine Stirn mit einem Filzstift das Wort Bimbo geschrieben wird - der Hilferuf des Schülers an den Lehrer bleibt ohne Reaktion (vgl. Schäfer 2006, 16). Bleibt die erwartete Reaktion, also Unterstützung sowie Hilfe, aus, verweigern sich manche SchülerInnen, entscheiden sich zum Schwänzen, und „das ist ein Teufelskreis, da kommt man schwer wieder raus. Bei mir fing das in der siebten Klasse an. Die anderen nannten mich ‚Scheißitaker‘ und ‚Hurensohn‘. Ich konnte mich nicht wehren, ich war der Kleinste und Dünnste in der Klasse“ (Hanselmann 2006, 54). Ohne die Aussicht auf Gegenwehr, möglichst durch professionelle PädagogInnen, kann das Gefühl der Ohnmacht in den Wunsch nach exzessimobbing unter jugendlichen uj 9 (2007) 381 ver Macht gewandelt werden. „Ich wollte doch nur auch mal wichtig sein. [...]. Wenn ich schlage, das ist wie ein Porsche auf der Überholspur, so fühlste dich dann“ (Zöller 2004, 72) - so reflektiert ein junges Opfer schulischer Mobbingattacken seine Reaktionen. Die Entwicklung von Mobbingprozessen unterliegt einer Dynamik, die oftmals unbemerkt oder unbeachtet bleibt. Erfolgt keine konsequente sowie unterstützende Intervention für das oder die Mobbingopfer, resultiert daraus eine Stärkung der Täter und entsprechend „schutzloser werden die Opfer. Wird dieser Prozess nicht von außen gestoppt, droht eine Eskalation in weitere Bereiche der Schule hinein“ (Großmann 2006, 6). Inhalte und Ablauf des Stand-up-Trainings Um hier Abhilfe zu schaffen, ist das Standup-Training konzipiert worden, das seit September 2006 erstmalig durchgeführt wird (Lorenzen/ Nordlicht e.V. 2006). Dieses Angebot erfolgt gem. § 29 KJHG, da „die Teilnahme an sozialer Gruppenarbeit älteren Kindern und Jugendlichen bei der Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensproblemen helfen [soll]“ (SGB VIII). Das Stand-up-Training ist für männliche oder weibliche Kinder und Jugendliche konzipiert, die im Kontext Schule wiederholt Opfer von Gewalttaten ihrer MitschülerInnen wurden oder werden. Das Training richtet sich an jene SchülerInnen, die ihren Lehrkräften oder in anderen Institutionen aufgefallen sind, weil sie vergleichsweise häufig gehänselt, bedroht, beraubt, erpresst oder geschlagen werden, auffällig zurückgezogen, einsam und depressiv wirken (vgl. Lorenzen 2005, 50). „Die betroffene Person sieht sich aufgrund sozialer, wirtschaftlicher, körperlicher oder psychischer Eigenschaften außerstande, sich zu wehren oder dieser Situation zu entkommen“ (Spitczok von Brisinski 2003, 60). Das Stand-up-Training offeriert daher das Angebot „einer zeitlich befristeten […] pädagogischen Betreuung von Minderjährigen in Krisen ihrer Entwicklung, bei denen über konkrete inhaltliche Angebote unter Einbeziehung des sozialen Umfelds Chancen zur Entwicklung und Stärkung der sozialen Kompetenzen“ (Münder u. a. 2003, 301) aktiviert werden sollen. Die zeitliche Befristung meint hier den Zeitraum eines Schulhalbjahres, etwa 24 Wochen mit einem wöchentlichen Treffen von ca. 2,5 Stunden Dauer. Die „Soziale Gruppenarbeit“ im Sinne der Methoden Sozialer Arbeit (vgl. Schmidt- Grunert 2002) bietet zum einen die Möglichkeit der Interaktionserfahrungen mit Gleichaltrigen, zum anderen können Opfererfahrungen geteilt werden. Es kann verdeutlicht werden, dass niemand ein isoliertes, also einziges Opfer ist, sodass Verständnis für selbst Erlebtes entwickelt und gefunden werden kann. Somit wird über die ebenso bedeutsame Möglichkeit einer ersten Kontaktaufnahme mit Anlaufstellen für Opfer (vgl. Gesicht zeigen! 2001) hinaus ein Angebot offeriert, das regelmäßige Kontakte über einen längeren Zeitraum gestattet. Das Training intendiert also, durch den Austausch und die Gesprächsmöglichkeit über das erlittene Opferleid ein Plenum für die Betroffenen zu schaffen. Eine Gruppe besteht aus 6 bis 10 Personen im Alter von 12 bis 18 Jahren, wobei die Altersbegrenzung im Einzelfall variiert werden kann. Das Training wird von drei TrainerInnen - Diplom-SozialpädagogInnen mit Erfahrungen im Bereich Sozialer Gruppenarbeit und möglichst im Umgang mit Opfern - geleitet. 382 uj 9 (2007) mobbing unter jugendlichen D as Stand-up-Training ist in vier Sequenzen unterteilt: Integrationsphase (1), Motivations- oder Stand-up-Phase (2), Kompetenzphase (3) und Nachbetreuungsphase (4). (1): Diese Phase dient sowohl dem Kennenlernen aller Beteiligten als auch dem Vertrauensaufbau mit der zentralen Mitteilung an die TeilnehmerInnen: „Es wird viel passieren beim Stand-up-Training und durch das Stand-up-Training, allerdings wird euch nichts passieren! “ Zudem werden verbindliche Regeln erarbeitet und die der Teilnahmemotivation zugrunde liegende/ n Opfererfahrung/ en thematisiert. Zu Beginn einer Sitzung erfolgt ein Wochenrückblick, um jedem Jugendlichen die Möglichkeit zu eröffnen, über Ereignisse, die für bedeutsam gehalten werden, zu berichten. Diese Wochenrückschau wird im Laufe des Kurses zu einem verlässlichen Ritual. Den Jugendlichen werden „Ich-Mappen“ ausgehändigt, in denen alle Unterlagen des Trainings gesammelt werden können. Im Vordergrund steht in dieser Phase die Selbstwirksamkeit der TeilnehmerInnen, da ihre Aufmerksamkeit auf diese fokussiert werden soll, um dadurch langfristig die Kontrolle für soziale Interaktionen entwickeln zu können. (2): Auf der Grundlage von Selbst- und Fremdwahrnehmung wird der Fokus in dieser Phase auf jeweils eine Person gerichtet. Jedes Gruppenmitglied wird in dieser Phase zum Mittelpunkt eines Treffens. Ganz entscheidend: Das thematisierte Verhalten wird von jeder Form der Schuldzuweisung oder Mitschuld an der Viktimisierung getrennt. Vielmehr geht es um bewusste oder unbewusste passive Verhaltensweisen, Unsicherheiten und Ängste sowie um den individuellen Sozialisationshintergrund. Dadurch soll zum einen das Interesse an der Person zum Ausdruck gebracht werden und zum anderen eine Klärung der Gesamtsituation über den schulischen Kontext hinaus bewirkt werden. Kinder und Jugendliche, die wiederholt Opfer geworden sind, spüren ihr „Anderssein“ im Vergleich mit anderen, wissen häufig nur nicht, worin genau dieses „Anderssein“ besteht. In dieser Phase haben sie die Möglichkeit, dies durch die anderen im vertrauten Gruppenrahmen zu erfahren. (3): Verhaltensalternativen werden erarbeitet, vorgestellt und erprobt. Die TeilnehmerInnen können mit anderen sozialen Rollen „spielen“, indem beispielsweise ein Video-Casting durchgeführt wird, um verbale und non-verbale Fähigkeiten zu üben sowie Blickkontakte zu halten und auszuhalten. In dieser Phase wird ressourcenorientiert mit dem Schwerpunkt der Selbstwertstärkung gearbeitet, um den verlorenen Spaß am Leben wiederzuentdecken und neue Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung zu proben. Die während der Motivationsphase erarbeiteten individuellen positiven Aspekte werden verstärkt, und sozial unsicheres Verhalten wird perpetuierlich angesprochen, sodass mögliche Alternativen durch Rollenspielsequenzen geprobt werden können. Bei jedem noch so kleinen Entwicklungsschritt erfolgt eine positive Rückmeldung - so gibt es für die Anstrengung zur Veränderungsbereitschaft Lob und Anerkennung. Zu spezifischen Themenbereichen werden externe ReferentInnen eingeladen, zum Beispiel PräventionsbeamtInnen oder Jugendbeauftragte der Polizei. Langfristig soll dadurch die Frage beantwortet werden: „Wie und wo hole und bekomme ich Hilfe für mich? “ (4): Während des Kurses ist das Team der TrainerInnen nach jeder Sitzung ansprechbar. Ein Viertel- oder halbes Jahr nach Beendigung des Stand-up-Trainings erfolgt ein weiteres Treffen, um die aktuelle Situation der Jugendlichen zu betrachten. Zudem kann der Kontakt zum Trainerteam in akuten Krisen als „Notrufnummer“ genutzt werden. mobbing unter jugendlichen uj 9 (2007) 383 Mittelsowie langfristig zielt dieses Training darauf ab, Opfer nicht zu Tätern werden zu lassen. In Kooperation mit den Eltern und den LehrerInnen möchte das Stand-up-Training im Rahmen der Methode der Sozialen Gruppenarbeit als langfristiges Angebot der Opferbetreuung die Einzelfallhilfe ergänzen und zur Entlastung dieser beiden wichtigen Sozialisationskomponenten beitragen. Die Intention des Trainings ist es, die folgenden Ziele zu erreichen: • Austausch und Gespräch über erlittenes Opferleid, • Erlernen von Selbstwirksamkeit durch angemessenes Abgrenzungsverhalten, • Wiedererlangung der Handlungskompetenz, • Entwicklung von Verhaltensalternativen, • Selbst- und Fremdwahrnehmung einschätzen lernen, • Verlernen erlernter Hilflosigkeit, • Beendigung einer eventuell schon begonnenen Opferkarriere, • Stärkung des Selbstwertes. Das Stand-up-Training will vermeiden, dass negative Reaktionen des sozialen Umfeldes virulent werden (sekundäreViktimisierung), und vor allem, dass die Übernahme der Opferrolle in das Selbstbild der Jugendlichen erfolgt (tertiäre Viktimisierung). Eine Vernetzung zwischen Eltern, Lehrkräften und Instanzen der sozialen Kontrolle dient zur Unterstützung eines Transfers des in der Gruppe Gelernten. In der Übergangsphase vom Jugendlichen zum Erwachsenen möchte das Stand-up- Training die „Weichen“ in Richtung eines Gleichgewichts stellen, das einer gelungenen Interaktion der inneren und äußeren Realität entspricht und den Weg einer weiteren Opferkarriere verhindert. Die Gruppe bietet gerade im Jugendalter den idealen Rahmen, interaktionistisches Rollenhandeln zu erlernen, weil die Meinung der Peers einen hohen Stellenwert besitzt und zur Selbsteinschätzung genutzt werden kann. Die TeilnehmerInnen sollen ein eigenes „Standing“ entwickeln, um sich selbst inmitten einer Gruppe von Gleichaltrigen und anderen InteraktionspartnerInnen behaupten zu können. Mit den Worten eines fünfzehnjährigen Stand-up-Teilnehmers hört sich dieses Anliegen so an: „Das ist hier in der Gruppe genauso wie in meiner neuen Schule: Ich kann meine Maske ablegen. Sonst haben mich immer alle nur mit der Verkleidung gekannt, und die Maske muss ich hier in der Gruppe nicht tragen.“ Der Junge erwartet und verlässt sich darauf, dass etwas passieren wird - allerdings weiß er ebenso, dass ihm nichts passieren wird. Literatur Beck-Texte/ Familienrecht, 1998: Sozialgesetzbuch (SGB), Achtes Buch (VIII): Kinder- und Jugendhilfe. München Beuster, F., 2006: Die Jungenkatastrophe. Das überforderte Geschlecht. Reinbek bei Hamburg Cyr, M.-F., 2003: Jetzt sag schon, was los ist! Landsberg/ München Gall, R., 2006: Ziele und Methoden des Coolness- Trainings (CT) für Schulen. In: Kilb, R./ Weidner, J./ Gall, R. (Hrsg.): Konfrontative Pädagogik in der Schule. Weinheim/ München, S. 93 - 106 Gardner, G., 2004: Im Schatten der Wächter. Stuttgart Gesicht zeigen! (Hrsg.)/ Frohloff, S. (Redaktion), 2001: Handbuch für Zivilcourage. Frankfurt am Main Gessner, N., 2006: Mordgelüste beim Computerspiel. In: Hamburger Morgenpost vom 21. 11. 2006, S. 2 - 3 Großmann, C., 2006: Mobbing unter Schülerinnen und Schülern. Hamburg Hanselmann, U., 2006: Er war ein Schulschwänzer. In: chrismon, 7. Jg., H. 8, S. 54ff Jacobs, C., 2007: „… und raus bist du! “. In: FO- CUS Schule, H. 1, S. 8 - 18 384 uj 9 (2007) mobbing unter jugendlichen Kilb, R., 2004: „Konfrontative Pädagogik“ - aus der Ausbildungsperspektive betrachtet. In: Unsere Jugend, 56. Jg., H. 3, S. 107 - 115 Kilb, R./ Weidner, J./ Gall, R. (Hrsg.), 2006: Konfrontative Pädagogik in der Schule. Weinheim/ München Korte, J., 1994: Lernziel Friedfertigkeit. Weinheim/ Basel Kraemer, H., 2003: Das Trauma der Gewalt. München Lorenzen, U., 2006: „Stand-up-Training“. Soziale Gruppenarbeit mit Opfern. Hilfe für Kinder und Jugendliche, die im Kontext Schule wiederholt Opfer von Gewalttaten ihrer Mitschüler werden. Konzept für Nordlicht e. V. Hamburg Lorenzen, U., 2005: Hilfe für Kinder und Jugendliche bei wiederholter Peer-Viktimisierung im Kontext Schule. Hamburg Münder u. a., 2003: Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim/ Berlin/ Basel Niederle, M., 2002: Schulangst. Freiburg im Breisgau Schäfer, S., 2006: Mobbing im Unterricht - und der Lehrer sah zu. In: Hamburger Morgenpost vom 13. 6. 2006, S. 16 Schawohl, H., 2006: Opfer werden ist nicht schwer, Opfer sein dagegen sehr. In: standpunkt: sozial, H. 1, S. 72 - 78 Schawohl, H., 2004: Sprich mit ihnen - von Mensch zu Mensch! In: Unsere Jugend, 56. Jg., H. 3, S. 99 - 106 Schmidt-Grunert, M., 2002: Soziale Arbeit mit Gruppen. Freiburg im Breisgau Spitczok von Brisinski, I., 2003: Dazugehören. Wie Kinder ihren Platz in der Klasse finden. Berlin Terschüren, S., 2006: Der angekündigte Amoklauf eines Besessenen. In: Welt Kompakt vom 21. 11. 2006, S. 2f Tramitz, C., 2003: Kindergeheimnisse. Die verborgenen Welten der Elfbis Achtzehnjährigen. München Weidner, J./ Kilb, R. (Hrsg.), 2004: Konfrontative Pädagogik. Konfliktbearbeitung in Sozialer Arbeit und Erziehung. Wiesbaden Zöller, E., 2004: Und wenn ich zurückhaue? Hamburg Die AutorInnen Ute Lorenzen Bie de Meere 12 25938 Nieblum Horst Schawohl Nordlicht e.V. Rahlstedter Straße 68 22049 Hamburg SchawohlHorst@aol.com mobbing unter jugendlichen uj 9 (2007) 385
