eJournals unsere jugend 59/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Lebensraum Straße: Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendarbeit

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2007
Stefan Gillich
Die Orientierung am Sozialraum bietet der Kinder- und Jugendarbeit die Chance, in Kontakt zu kommen, am Bedarf und der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen anzuschließen und Selbsthilfeprozesse zu befördern. Dabei ist die Orientierung an handlungsleitenden Prinzipien unverzichtbar.
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Sozialräumlicher Ansatz und Lebensweltorientierung Für immer mehr Kinder und Jugendliche wird der öffentliche Raum zum überwiegenden Lebensort. Der öffentliche Raum wird häufig mit der Straße gleichgesetzt und als Gefährdungspotenzial interpretiert. Die an vielen Orten entstandenen Projekte zur Prävention zwischen Jugendhilfe, Polizei, Schule, Kirche und weiteren Partnern sind zu verstehen als Reaktion auf wahrgenommene Probleme im öffentlichen Raum. Anlässe können Gewalt an Schulen, Drogenproblematik, Ruhestörung o. Ä. sein. Zugrunde liegt ein Verständnis, das Kinder und Jugendliche als StörerInnen (der öffentlichen Ordnung) wahrnimmt und die Straße als Gefahrenraum, als „gefährlichen Ort“ versteht. Der öffentliche Raum wird unter den negativen Vorzeichen eines unkontrollierten Raums gesehen, in dem Verschmutzung und Verwahrlosung unter Kontrolle gebracht werden müssen. Angesiedelt zwischen Prävention und Kontrolle kann Hilfe - nach diesem Verständnis - nur bedeuten, Kinder und Jugendliche durch gezielte Angebote herauszuholen. Kinder- und Jugendarbeit muss sich in diesem Kontext grundsätzlich fragen (lassen), ob sie „nur“ die Kinder und Jugendlichen in den Blick nehmen will, die über herkömmliche Angebote erreichbar sind (dann kann sie weitermachen wie bisher), oder ob sie sich nicht grundsätzlich zunächst für alle Kinder und Jugendlichen (z. B. im Umfeld einer Einrichtung) als zuständig ansieht. Das bedingt, den öffentlichen Raum als „Aneignungsraum“ von Kindern und Jugendlichen zu verstehen, zu akzeptieren und gegebenenfalls Hilfen (wie die Bereitstellung von institutionellen Räumen) anzubieten. Sozialraumorientierte Kinder- und Jugendarbeit versteht den öffentlichen Raum nicht als „gefährliche Straße“ (ohne tatsächlich vorhandene Angst machende Räume zu 402 uj 10 (2007) lebensraum straße Unsere Jugend, 59. Jg., S. 402 - 408 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Lebensraum Straße: Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendarbeit Stefan Gillich Die Orientierung am Sozialraum bietet der Kinder- und Jugendarbeit die Chance, in Kontakt zu kommen, am Bedarf und der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen anzuschließen und Selbsthilfeprozesse zu befördern. Dabei ist die Orientierung an handlungsleitenden Prinzipien unverzichtbar. Stefan Gillich Jg. 1957; Dozent für Gemeinwesenarbeit, Soziale Stadtentwicklung, Streetwork und (Mobile) Jugendarbeit im Burckhardthaus, Evangelisches Fort- und Weiterbildungsinstitut für Jugend-, Kultur- und Sozialarbeit in Gelnhausen/ Hessen übersehen), sondern als Aneignungsraum für Kinder und Jugendliche. Räume, vor allem städtische Räume, sind von Menschen gestaltet und strukturiert. Kinder und Jugendliche müssen sich diese Räume genauso aneignen wie Gegenstände ihrer unmittelbaren Umgebung (vgl. Deinet 1999, 31). Der sozialräumliche Ansatz geht davon aus, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen - und damit der Situation, wie wir sie wahrnehmen - und den konkreten „Räumen“, in denen sie leben - von denen sie geprägt werden und die sie prägen. Sozialraumorientierte Soziale Arbeit folgt der Grundüberlegung, dass Menschen sich in überschaubaren Sozialräumen orientieren und die nutzen, die für ein erfülltes Leben hilfreich sind. Ziel pädagogischer bzw. Sozialer Arbeit ist es, das individuelle und gemeinsame Leben im Sozialraum zu bereichern, d. h. mit fehlenden Ressourcen auszustatten, den Gebrauch von Ressourcen zu verbessern und die Gesprächsorte und Gesprächsstrukturen zu gewährleisten, die das möglich machen. Der Sozialraum ist ein von Menschen individuell definierter Raum. Der soziale Raum des einzelnen Menschen • kann, muss jedoch nicht dem grafischen Raum (Stadtteil, Quartier) entsprechen, • ist der örtliche Raum, der dem Menschen die Möglichkeiten gibt, Beziehungen zu leben, und ihn darin einschränkt, behindert oder begrenzt, • ist der Raum, in dem der Mensch kommunikativ ist, also soziale Kontakte hat. Der Sozialraum eines Kindes kann z. B. das Zuhause sein, den Kindergarten, die Kirchengemeinde oder den Kontakt zu Freunden umfassen. Dieser soziale Raum wird jedoch enger und kleinräumiger sein als bei einem Jugendlichen, der sich mit seiner Clique außerhalb des Stadtteils trifft, die Schule außerhalb des Quartiers besucht oder in einem anderen Viertel arbeitet. Sein Sozialraum ist folglich großräumiger. Bei Cliquen oder Gruppen gibt es viele Überschneidungen ihres individuellen Sozialraums. Es gibt folglich einen geografischen Raum (Gemeindebezirk, Quartier) und einen (individuellen) Sozialraum. lebensraum straße uj 10 (2007) 403 Quelle: privat Mit dem Begriff der Sozialraumorientierung sind erstens Menschen gemeint, zweitens der Sozialraum und drittens handlungsleitende Prinzipien. • Für die Soziale Arbeit ist die sozialräumliche Orientierung von zentraler Bedeutung, weil auch soziale Probleme einen Raumbezug haben, z. B. als Jugendräume (Subkulturen, Gewalt, Vandalismus), als „störende“ Treffpunkte von Jugendlichen oder als Ausgrenzung der Armut in Wohnquartieren. • Daneben können Räume bei der Entstehung und Entwicklung sozialer Probleme eine Rolle spielen (z. B. fördern reizarmes Milieu und hohe Wohndichte soziale Konflikte). • Räume können Möglichkeiten und Behinderungen bei der Bewältigung sozialer Probleme darstellen: soziale Infrastruktur, Image eines Stadtteils, Räume, die die Kommunikation und den Aufbau sozialer Netze befördern. • Räume bieten die Möglichkeit, soziale Probleme zu thematisieren (z. B. Jugendtreffs, Räume der Kirchengemeinde, Stadtteilhäuser etc.). Wenn die Handlungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in einem Stadtteil erweitert werden soll, ist die sozialräumliche Perspektive unverzichtbar. Sozialräumliche Arbeit (das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit) beruht auf dem Prinzip der Lebensweltorientierung. Es ist auch das oberste Prinzip für Selbsthilfeprozesse. Selbsthilfeprozesse, die in Eigeninitiative erfolgen oder professionell begleitet oder unterstützt werden nach dem Motto „Mit den Kindern und Jugendlichen - nicht für sie“, können nur dort erfolgreich sein, wo es gelingt, an den zentralen Themen der Jugendlichen anzusetzen, egal, wie man dies dann benennt: Betroffenheit, Wille, Bedarf, Bedürfnis o. Ä. Die Herausforderung für Soziale Arbeit besteht darin, Lebenswelten zu erfassen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz mit seinem Auftrag an die Jugendhilfe, „positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten und zu schaffen“ (SGB VIII/ KJHG § 1 Abs. 3 Nr. 4), weist bereits darauf hin, dass es um den Einzelnen in seiner Lebenswelt geht. Die Lebenswelt ist der Ort, an dem das Individuum oder die Gesellschaft handelt. Sie ist der Raum täglicher Aktionen der Menschen und damit Schnittpunkt von Individuum und Gesellschaft. Die Lebenswelt stellt immer ein Verhältnis von Möglichkeiten und Behinderungen menschlichen Handelns dar. Wer Menschen befähigen will, ihren Handlungsspielraum zu erweitern, muss innerhalb ihrer Lebenswelt agieren. SozialarbeiterInnen gehen hier nicht belehrend und pädagogisierend mit Erkenntnissen aus ihrer eigenen Lebenswelt vor, sondern vermittelnd, klärend und organisierend. Es gilt, den Lebensalltag zu unterstützen, einerseits durch Beziehungsarbeit und andererseits durch Ressourcenarbeit. Der Blick auf die Lebenswelten zeigt, dass es vor allen Dingen die sozialen Räume sind, die unsere Erfahrungen und Beziehungen strukturieren, die Entfaltungsmöglichkeiten bieten oder behindern. Vor allem bei ökonomisch benachteiligten und wenig mobilen Bevölkerungsgruppen ist das direkte Wohnumfeld von großer Bedeutung. Der soziale Raum ist damit zentraler Ansatzpunkt für lebensweltorientierte Arbeit. I n der Jugendhilfe gibt es - grob vereinfacht - zwei wesentliche inhaltlich-methodische Arbeitsansätze: • Zur Behebung einer konkreten kritischen Lebenslage eines Jugendlichen werden Einzelhilfen angeboten, von konkreter 404 uj 10 (2007) lebensraum straße materieller Hilfe über Beratung bis hin zu Therapie. Im Mittelpunkt steht der Jugendliche in seiner konkreten Notsituation, der für einen (begrenzten) Zeitraum professioneller Unterstützung bedarf. Diese Notlage erscheint isoliert darstellbar und ist mit einem bestimmten Spektrum von Maßnahmen zu bearbeiten. • Demgegenüber steht ein Verständnis von Jugendlichen als integrierte Bestandteile eines ökologischen und sozialen Zusammenhangs. Nach diesem Verständnis ist der Jugendliche geprägt durch seine sozialen und materiellen Lebensbedingungen, seine Umwelt und die Wohnbedingungen, unter denen er lebt. Gleichzeitig ist er aber auch in der Lage, Einfluss auf diese Faktoren auszuüben, Entscheidungen zu treffen und das Leben selbst zu gestalten. Das Leben im Sozialraum (Gemeinwesen, Stadtteil, Quartier etc.) muss zu Bezugspunkten werden für das Verstehen der Belastungen, Krisen und Notlagen der hier lebenden Jugendlichen. Die traditionell individualisierende Sichtweise muss ergänzt - nicht ersetzt - werden durch eine sozialräumliche Sichtweise. Denn erst wenn wir lernen, die Menschen in ihren Verhältnissen zu verstehen, können wir auch den Einfluss der Verhältnisse auf das Verhalten begreifen. Lebensweltorientierung bedeutet, dass nach Belastungen - aber auch nach Ressourcen - im Sozialraum gefragt wird. Zunehmend wird der Sozialraum als eine Ressource zur Lebensbewältigung erkannt. Mit diesem Perspektivenwechsel erweitern sich die Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten Sozialer Arbeit von der „Behandlung“ Einzelner oder einzelner Gruppen hin zu Konzepten der Gestaltung von Lebensräumen. Diese Perspektive sieht Kinder und Jugendliche eingebettet in soziale Beziehungen, Institutionen, Wohnumfeld und Arbeitswelt. Bei dieser ganzheitlichen Sichtweise wird gefragt nach den Beziehungen zwischen den Jugendlichen und den Mitmenschen (sozialen Netzen), zwischen den Jugendlichen und kulturellen, politischen sozialen, ökonomischen Institutionen sowie zwischen den Jugendlichen und der physikalischen-räumlichen bzw. der biologischen Umwelt. lebensraum straße uj 10 (2007) 405 Quelle: privat Diese Sichtweise möchte ich am Beispiel Straßensozialarbeit und sozialräumlicher Ansatz erläutern. Dabei steht Straßensozialarbeit für andere Formen zielgruppenorientierter Sozialer Arbeit. Es ist ein Dauerbrenner, dass in Öffentlichkeit und Politik bei neu auftretenden oder auch nur neu wahrgenommenen Problemen von Jugendlichen (deutliche Präsenz auf der Straße, Halbstarke, Trebegänger, Gewaltbereitschaft) diese Probleme immer auf eine bestimmte Art diskutiert und behandelt werden: nämlich aus jugendzentrierter Perspektive. Das hat zur Folge, dass verkürzte Erklärungen geliefert und bestimmte Probleme (z. B. Gewalt) ausschließlich als Jugendprobleme behandelt werden. Dies führt auch - ohne das zu bewerten - zu einem Begriff von Straßensozialarbeit, der sie weitgehend als Soziale Arbeit mit extrem auffälligen Jugendlichen in innerstädtischen Problemgebieten gleichsetzt. Die jeweilige Zielgruppe wird über spezifische Problemlagen definiert (Drogen, Prostitution, Wohnungslosigkeit etc.). Nicht wer hier wohnt und seine Lebenszusammenhänge hat - also auch Erwachsene -, sondern nur, wer der spezifischen Problemgruppe angehört, ist dann Adressat von Straßensozialarbeit. Ein sozialräumlicher Arbeitsansatz hingegen richtet sich auf das ganze Quartier, weil dieses als belastet gilt, wenn sich Problemlagen häufen. Ein solcher Ansatz reduziert nicht die Vielfalt der Probleme, sondern gibt die Fragen zurück an das Gemeinwesen - an die Politik, an die Öffentlichkeit, an andere BewohnerInnen etc. - und stellt z. B. die Frage nach Ausgrenzung oder Akzeptanz der Jugendlichen. Wenn Streetwork mit Jugendlichen nicht ausgrenzend arbeiten will, dann reicht es nicht aus, dass der/ die StraßensozialarbeiterIn die Jugendlichen akzeptiert. Vielmehr muss ein Prozess von Aushandlung, Dialog und Konfrontation mit den Institutionen, Gruppen und Menschen im Sozialraum in Gang gesetzt werden. Unter solchen Bedingungen wird nicht nach Streetwork als mobiler Eingreiftruppe der Sozialarbeit geschrien, sondern Lösungsstrategien richten sich auf das ganze Gemeinwesen. Ein Beispiel: Der Stadtteil einer mittelgroßen Stadt in Hessen ist geprägt durch seine Hochhaussiedlung. In den 60er Jahren als Schlafstätte für Berufstätige konzipiert, ist der Stadtteil nach und nach „heruntergekommen“. Die Infrastruktur gilt als nicht ausreichend. Wer es sich leisten kann, zieht weg, durch preiswerten Wohnraum ziehen einkommensschwache Bevölkerungsgruppen nach. Innerhalb weniger Jahre spitzt sich die soziale Lage zu: Die Sozialhilfedichte liegt bei knapp 20 Prozent, zwei Drittel aller SozialhilfeempfängerInnen sind MigrantInnen, jede/ r dritte Minderjährige im Stadtteil ist MigrantIn. Der Sozialstrukturatlas weist - bezogen auf Kinder und Jugendliche - ausreichend Angebote aus. Doch Angebote z. B. zum Freizeitaufenthalt werden von vielen nicht genutzt; Probleme häufen sich. Insbesondere eine größere Gruppe junger Spätaussiedler macht Probleme. Wochenweise treffen sie sich an unterschiedlichen Plätzen im Stadtteil. Wo sie sich aufhalten, gibt es Ärger mit den AnwohnerInnen. Die Lage spitzt sich weiter zu, die Polizei muss regelmäßig gerufen werden wegen nächtlicher Ruhestörung. Die Lösung schließlich ergibt sich aus der Stadtteilrunde heraus. Offenkundig ist, dass niemand weiß, was die Jugendlichen wirklich wollen und brauchen. Durch den sich entwickelnden Kontakt des Jugendarbeiters zeigt sich, dass die Jugendlichen Angebote des Jugendhauses deshalb nicht annehmen (können), da das Haus bereits von anderen Gruppen „besetzt“ ist, mit denen man sich nicht verträgt. Doch sie sind im Stadtteil heimisch und wünschen sich einen Platz, an dem sie sich ungestört treffen können. In einem Aushandlungsprozess mit AnwohnerInnen, moderiert vom Jugendarbeiter, werden die Wünsche und Sichtweisen der unterschiedlichen Gruppen thematisiert. Verständnis für die jeweils andere Seite nach einem ungestörten Treffpunkt (Jugendliche) und nach Ruhe (AnwohnerInnen) wird geweckt und gemeinsam nach einer Lösung gesucht. Im Ergebnis werden die Jugendlichen nicht in einen anderen Stadtteil verwiesen, sondern ein am Rande des 406 uj 10 (2007) lebensraum straße Stadtteils gelegener Spielplatz, der wenig genutzt wird und einen wetterfesten Unterstand hat, wird von allen Beteiligten befürwortet. Unterstützt durch die Stadtteilrunde wird der Platz an die Bedürfnisse der Jugendlichen angepasst und ihnen schließlich „übergeben“. Handlungsleitende Grundsätze von sozialraumorientierter Arbeit Präventiv handeln und Ressourcen nutzen Soziale Arbeit tritt in der Regel erst dann in Erscheinung, wenn die Jugendlichen auffällig geworden sind. Sie muss dann mit erhöhtem Aufwand Problemlagen bearbeiten, die zumeist in anderen Bereichen als dem Jugendhilfebereich verursacht wurden (z. B. Folgeprobleme von Arbeitslosigkeit). Sozialraumorientierte und präventiv handelnde Jugendhilfe ist demgegenüber bemüht, Ressourcen zu nutzen und Geld für Hilfen nicht erst dann zur Verfügung zu stellen, wenn etwa Hilfeplanverfahren bereits angelaufen sind. Von zentraler Bedeutung sind die Einbeziehung und Stärkung von Ressourcen, welche Einzelne zur Verfügung haben, und nicht selten bilden sich Stärken der Kinder und Jugendlichen in den vermeintlichen Defiziten ab. Ressortübergreifend mitmischen Sozialraumbezogene Jugendhilfe mischt sich offensiv und aktiv in die Politikfelder ein, mit denen Jugendliche zu tun haben: Beschäftigungspolitik, Wirtschaftsförderung, Wohnungspolitik, Stadtentwicklung usw. Gelingende Veränderung braucht Partner in Politik und Verwaltung sowie Kompetenzen anderer Sektoren. Durch offensives Agieren im sozialen Raum wird das Stigma einer nur reagierenden Sozialen Arbeit aufgeweicht. Notwendig ist das Einklinken in das Leben des Wohnquartiers, dort, wo sich der Lebensalltag der Menschen abspielt: wo sie sich treffen, feiern, zur Schule gehen, wo aber auch soziale Probleme entstehen. Zugehen: von der Komm-Struktur zur Geh-Struktur Es reicht nicht aus, nur im Stadtteil zu sitzen. Vielmehr geht es darum, in den Stadtteil hineinzuwirken, sich im Milieu auszukennen und dort verwurzelt zu sein. Veränderungen im Umfeld ziehen auch Veränderungen der dort lebenden Jugendlichen nach sich. Veränderungen können nur gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen umgesetzt werden. Neben der Beziehungsarbeit gewinnen hier Ressourcenarbeit und die Arbeit an Strukturen erheblich an Bedeutung. Aktivieren und unterstützen von Selbstorganisation Sozialraumorientierte Jugendhilfe will nicht Jugendliche bedienen, sondern sie aktivieren und auffordern, selbst für ihre Belange einzutreten. So werden eigene Lern- und Kompetenzerfahrungen gemacht. Sozialraumorientierte Arbeit bedeutet „Restearbeit“ - nämlich lediglich das anzupacken, was die Jugendlichen selbst zu tun nicht in der Lage sind. Von einer bislang überwiegend defizitorientierten Herangehensweise verändert sich der Blickwinkel zu einer Stärkenorientierung und zur Suche nach Potenzialen der Kinder und Jugendlichen. Zielgruppenübergreifendes Handeln Aktivitäten werden aus einem Bedarf heraus bzw. um ein Thema herum organisiert. Da ein Thema nicht nur Kinder und Jugendliche betrifft, werden Zusammenhänge zwischen Gruppen im Wohnquartier hergestellt und Kooperationen ermöglicht. Orientieren an den Interessen und Themen von Kindern und Jugendlichen Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe denken nicht darüber nach, was Kinder und Jugendliche interessieren könnte, sondern fragen direkt nach ihren Wünschen und Bedürfnissen. Der Ausgangspunkt ist nicht, was sie (vermeintlich) brauchen, sondern was sie wollen. Wer Jugendhilfe bedarfsorientiert ausrichtet, muss situativ reagieren können. Nicht der Jugendliche muss sich den Hilfeformen anpassen, sondern die Einrichtungen der Jugendhilfe sind so lern- und wandlungsfähig zu organisieren, dass sie schnell in der Lage sind, bedarfsorientiert Hilfe anzubieten. lebensraum straße uj 10 (2007) 407 Vernetzen und kooperieren Vernetzung hat das Ziel, die Verbesserung der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen zu erreichen. Dabei zielt Vernetzung in zwei Richtungen, nämlich die Vernetzung der Menschen untereinander und die Vernetzung der „Professionellen“ im Sozialraum. Für die Menschen im Sozialraum gilt es, psychosoziale und sozialkulturelle Ressourcen zu entdecken. So entstehen Räume, wo Menschen an eigenen Netzen stricken können. Das Gemeinwesen gewinnt an Bedeutung - es wird zum Netzwerk formeller und informeller Beziehungen. 1 Literatur Deinet, U., 1999: Sozialräumliche Jugendarbeit. Eine praxisbezogene Anleitung zur Konzeptentwicklung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Opladen Gillich, S., (Hrsg.), 2004: Gemeinwesenarbeit: Die Saat geht auf. Grundlagen und neue sozialraumorientierte Handlungsfelder. Beiträge aus der Arbeit des Burckhardthauses, Band 10. Gelnhausen Der Autor Stefan Gillich Burckhardthaus Herzbachweg 2 63571 Gelnhausen Tel.: (0 60 51) 89-2 58 s.gillich@burckhardthaus.de www.burckhardthaus.de 408 uj 10 (2007) lebensraum straße 1 Die Fort- und Weiterbildung im Bereich der Sozialraumorientierung resp. Gemeinwesenarbeit erfährt seit über drei Jahrzehnten eine herausragende Bedeutung im Burckhardthaus, das als das bundesweit anerkannte Fort- und Weiterbildungsinstitut für dieses Arbeitsfeld gelten kann. Infos unter www.burckhardthaus.de Mit Zeichnungen von Christopher Oberhuemer. (erleben & lernen; 7) 2005. 129 Seiten. (978-3-497-01732-4) kt € [D] 16,90 / € [A] 17,40 / SFr 29,70 Ob in der Jugendarbeit oder im Training für Manager, der städtische Raum bietet vielfältige Möglichkeiten für soziales Lernen: mit dem Rollstuhl durch die Stadt, eine Übernachtung im botanischen Garten, als Bedürftiger um Almosen bitten, Interviews bei der Müllabfuhr führen oder gesichert an Wolkenkratzern klettern. Jede Aktion wird detailliert beschrieben, mit Informationen zu Planung, Dauer der Aktivität, Ausrüstung, Aspekten für die Reflexion. Welche Kompetenzen Leiterin oder Leiter mitbringen sollten und welche Sicherheitstandards auch oder gerade in der Stadt beachtet werden müssen, spart die Autorin nicht aus. Nur so führen die Erlebnisse im Großstadtdschungel auch zu Ergebnissen. a www.reinhardt-verlag.de