unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Jugendliche und heranwachsende funktionale Analphabeten - eine nicht wahrgenommene Gruppe in der Jugendberufshilfe
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2007
Peter Jensen
Seit digitalisierte Technik die Produktionsprozesse steuert, verschwinden die dort vorhandenen Arbeitsplätze bzw. unterliegen einem rasanten Wandel. Diese Entwicklung - so die Prognose - wird weiterhin anhalten. Nur wer lebenslang lernt, hat eine Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt mitzuhalten. Es stellt sich die Frage, wie Jugendberufshilfe denjenigen der nachwachsenden Generation zu einer Berufsperspektive verhelfen kann, die nicht über ausreichende schriftsprachliche Kompetenzen verfügen.
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Die Ausgangssituation Das Thema funktionaler Analphabetismus von Jugendlichen und Heranwachsenden als sozialpolitisches Problemfeld wird in der Öffentlichkeit wie auch von Fachkräften der Jugendberufsarbeit bisher nicht angemessen wahrgenommen. Die Maßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes, die für Jugendliche und Heranwachsende zur Qualifizierung angeboten werden, setzen bereits Grundbildung als angeeigneten Kompetenzfundus voraus. Ein Teil der Zielgruppe erfüllt allerdings nicht die Mindestanforderungen an Grundbildung, welche die Gesellschaft gegenwärtig von der nachwachsenden Generation verlangt: Sie sind funktionale Analphabeten. Somit gibt es eine Unterstützungslücke in der Jugendberufshilfe. Jugendliche und Heranwachsende, die nicht über diese Eingangsvoraussetzungen verfügen, sind überfordert mit den Angeboten. Sie haben individuelle Bewältigungsformen entwickelt, um mit der für sie prekären Situation umzugehen, sie sitzen die Berufsbildungsmaßnahme beispielsweise aus oder verweigern sich. Die Nichtbeachtung des realen Förderbedarfs dieser Gruppe kann eine Erklärung für das Scheitern von beruflichen Bildungsmaßnahmen sein und eine mögliche Ursache für den Maßnahmeabbruch einzelner TeilnehmerInnen darstellen. Im Folgenden wird zunächst das Phänomen funktionaler Analphabetismus defianalphabetismus und jugendhilfe uj 10 (2007) 425 Unsere Jugend, 59. Jg., S. 425 - 433 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Jugendliche und heranwachsende funktionale Analphabeten - eine nicht wahrgenommene Gruppe in der Jugendberufshilfe Peter Jensen Seit digitalisierte Technik die Produktionsprozesse steuert, verschwinden die dort vorhandenen Arbeitsplätze bzw. unterliegen einem rasanten Wandel. Diese Entwicklung - so die Prognose - wird weiterhin anhalten. Nur wer lebenslang lernt, hat eine Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt mitzuhalten. Es stellt sich die Frage, wie Jugendberufshilfe denjenigen der nachwachsenden Generation zu einer Berufsperspektive verhelfen kann, die nicht über ausreichende schriftsprachliche Kompetenzen verfügen. Dr. Peter Jensen Diplompädagoge, Supervisor, Familientherapeut, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden, Mitglied der Forschungsgruppe PASS alpha des apfe Instituts an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden niert (vgl. Döbert/ Hubertus 2000), anschließend wird die Bedeutung von Grundbildung herausgearbeitet, um die Dringlichkeit nachholender Grundbildung für die Zielgruppe zu unterstreichen. Nach dieser Einführung in das Thema wird es um folgende Fragen gehen: Welche Kompetenzen brauchen Fachkräfte, um diese Gruppe der Heranwachsenden wirksam sozial zu unterstützen, und welchen Leitgedanken sollten Kurskonzepte für die nachhaltige Umsetzung dieser Ziele folgen? Das Phänomen des funktionalen Analphabetismus Als funktionale AnalphabetInnen gelten Menschen, die trotz Schulbesuch und durchschnittlicher Intelligenz die Mindestanforderungen an schriftsprachliche Kompetenz nicht erfüllen. Dieser Aspekt der Definition, der den relationalen Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen an die Menschen herstellt, ist defizitorientiert. Er stellt heraus, was aus Sicht relevanter Anderer an Kompetenzen fehlt. Funktionaler Analphabetismus kennzeichnet aber auch eine problematische Lerngeschichte eines Individuums. Diese Sichtweise nimmt die individuell entwickelten Lösungsmuster in den Blick. Sie hebt die Stärken des/ der Einzelnen hervor und erkennt, dass es sich grundsätzlich um eine Bewältigung handelt, wenngleich sie den Betroffenen hohe psychosoziale „Kosten“ abverlangt. In der Gruppe junger funktionaler AnalphabetInnen finden wir Mütter, Menschen mit Migrationshintergrund, Heranwachsende in der Erwerbsarbeit, Arbeitslose, behinderte Menschen und Straffällige (vgl. Kretschmann u. a. 1990). Um das Phänomen Analphabetismus zu verstehen, ist es hilfreich, zwischen primärem, funktionalem sowie sekundärem Analphabetismus zu unterscheiden. Primärer Analphabetismus: Von primärem Analphabetismus spricht man, wenn Menschen keinerlei Schriftsprachkenntnisse haben. Das kommt in dieser Gesellschaft nach dem Schulbesuch kaum vor. Funktionaler Analphabetismus: Das Phänomen des funktionalen Analphabetismus ist die entscheidende Grundlage für die Alphabetisierungsarbeit. Das zugrunde liegende Begriffsverständnis wurde oben dargelegt. Sekundärer Analphabetismus: Von sekundärem Analphabetismus spricht man, wenn man davon ausgeht, dass Menschen ihre erworbenen Lese- und Schreibkenntnisse wieder verlernt haben. „Sekundärer Analphabetismus liegt vor, wenn nach mehr oder weniger erfolgreichem Erwerb der Schriftsprache während der Schulzeit in späteren Jahren ein Prozess des Verlernens einsetzt und Kenntnisse und Fähigkeiten verloren gehen, wodurch ein Unterschreiten des gesellschaftlich bestimmten Mindeststandards eintritt. Damit ist der sekundäre Analphabetismus ein Sonderfall des funktionalen Analphabetismus“ (Hubertus 1995, 251). Nachholende Alphabetisierung mit Jugendlichen und Heranwachsenden Jugendliche und Heranwachsende mit gravierenden Grundbildungsdefiziten gelten als Gruppe, die besonders schwer für eine nachholende Alphabetisierung zu gewinnen sind. Sie fallen in das sogenannte Nachschulloch - wie die schicksalhaft klingende Formel lautet. SozialarbeiterInnen aus dem Arbeitsfeld Jugendberufshilfe berichten von distanzierten Haltungen der Betroffenen, zum Teil kann das eine „Null-Bock“- Haltung bezogen auf schulisch eingefärbte Lernangebote sein, oder die Jugendlichen gehen den SozialarbeiterInnen gegenüber offensiv mit ihrem Handicap um, verdrehen es in das Gegenteil und sagen: „Ich kann das nicht, aber ich brauch das nicht, füll du mir das Formular aus! “ Sie versuchen, das Defizit in eine Lebenshaltung umzuwandeln: ein Bestreben, dem Stigma durch Umdeutung zu entgehen; ein Versuch, die Situationen zu beherrschen, aus der Abhängigkeit, dem Ausgeliefertsein herauszukommen; eine Form, die erlebten Ver- 426 uj 10 (2007) analphabetismus und jugendhilfe letzungen und Beschämungen an sich abprallen zu lassen. Es ist zumindest die nach außen hin gerichtete Botschaft: Ihr könnt mich nicht erniedrigen. Die negativen Lernerfahrungen aus der Schulzeit sind den Betroffenen noch hautnah gegenwärtig. Lernaufforderung bedeutet für sie, sich erneut schutzlos diesen eingebrannten Erinnerungen stellen zu müssen. Eine Grundbildungsarbeit, die diese Gruppe erreichen will, muss ein Konzept entwickeln, diese blockierende Koppelung aufzuheben. Ausgehend von diesem doppelten Verständnis des Phänomens funktionaler Analphabetismus, als relationales - zu den gesellschaftlichen Mindestanforderungen ins Verhältnis gesetztes - Problem und als unzureichend bewältigte biografische Lernerfahrung, wird die nachholende Alphabetisierung von Heranwachsenden als Arbeitsfeld betrachtet, das auf drei Grundpfeilern ruht: nachholende Grundbildung, berufliche Praxis und soziale Problembewältigung. Die Grundbildung ist durch AlphabetisierungspädagogInnen, die berufliche Praxis durch PraxisanleiterInnen und die Hilfe bei der sozialen Problembewältigung durch SozialarbeiterInnen zu leisten. Bedeutung der Grundbildung für junge Menschen Welche Bedeutung hat Grundbildung für junge Menschen? Grundbildung ist die Basis für eine individuelle Entfaltung der Persönlichkeit sowie für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Zentrale Elemente einer Grundbildung sind Lesen, Schreiben und Rechnen. Darüber hinaus werden „Kenntnisse, Fertigkeiten, personale und soziale Kompetenzen (als wichtige Aspekte der Grundbildung) bezeichnet, die für Orientierung und aktives Handeln in der Gesellschaft notwendig sind“ (LISUM Bbg. 2005, 6). Im Einzelnen tangiert sie folgende Bereiche: • Existenzsicherung • Identität • Sinn • Soziale Zugehörigkeit • Sozialer Status • Zugang zur Erwerbsarbeit und Bewältigung der Statuspassage Existenzsicherung Noch nie war der Anteil der Menschen, die ihre Existenz durch unselbstständige Arbeit sichern müssen, so hoch wie gegenwärtig. Gleichzeitig werden die Bedingungen der Erwerbsarbeit prekärer. Der Verdienst der unteren Lohngruppen reicht oftmals nicht aus als Existenzgrundlage, viele Menschen nehmen einen Zweitjob an. Jugendliche und heranwachsende funktionale AnalphabetInnen, deren personale Kompetenzen weit hinter den Anforderungen der Erwerbsarbeit zurückbleiben, haben keine Chance auf eigenständige Existenzsicherung, wenn sie keine Unterstützung für ihre Entfaltung bekommen. AnalphabetInnen sind jedoch nicht nur ökonomischer Armut (z.B. durch Arbeitslosigkeit) ausgesetzt, sondern haben soziale Armut, kommunikative Defizite und pädagogischen Mangel erfahren (vgl. Genuneit 1996, 4ff). Sie stellen in dieser voraussetzungsreichen Wissensgesellschaft keine ansprechbare Adresse dar. Viele Betroffene berichten zudem von schwerwiegenden problematischen Erfahrungen in der Kindheit wie emotionale Kälte, Bildungsferne der Familien und traumatische Erfahrungen (vgl. Döbert 1997). Identität Identität - das Selbstbild des Individuums - bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Veränderung und Bewahrung. Angesichts einer Welt, die in rascher Veränderung beanalphabetismus und jugendhilfe uj 10 (2007) 427 griffen ist, muss der Einzelne sich zu dem Wandel verhalten, will er aktiv Handelnder bleiben. Identität ist die Schnittstelle des Menschen zur Außenwelt und zu seiner Innenwelt. Sie kommuniziert über Sprache. Das Geschehen der Außenwelt wird (schrift-)sprachlich vermittelt, und die inneren Dialoge, die wir mit uns führen, bedürfen auch des sprachlichen Ausdrucks. Sprache ist Medium, ist Mittler und bildet eine eigene (Sinn-)Welt. Menschen, die dieses Medium nicht nutzen und pflegen, nicht als elementar wichtigen Teil ihres Seins - in der Welt und bei sich - begreifen, sind nicht nur von der Umwelt ausgegrenzt, sondern finden auch zu sich selbst nur begrenzten Zugang. Sie drohen von anderen abschätzig beiseitegeschoben zu werden, ohne sich in ihren Stärken und Schwächen annehmend einschätzen zu können. Sinn Sinn speist sich aus Gemeinschaftsquellen. Sinn ist eine zwischenmenschliche Kategorie. Sinnerleben ist die Zusammenfassung dessen, wie sich der Einzelne innerhalb einer Kultur erlebt und verwirklichen kann. Sinn ist der Reim, den sich eine Person aus dem macht, wie sie ihre eigenen Bedürfnisse und die gesellschaftlichen Erwartungen und Ansprüche umsetzt. Sinn entwickelt sich entlang des dualen Codes von Aktualität und Möglichkeit. Haben die Menschen das Gefühl, dass es keine Bewegung in ihrem Leben gibt, dass sie in ihrer Gegenwart beispielsweise als Arbeitslose verharren müssen, stirbt Hoffnung, und ihnen geht die Erfahrung von Sinn verloren. Sinn ist eingelagert in die Möglichkeiten, in die Versprechungen vielfältiger Rollen, die wir im privaten und beruflichen Bereich einnehmen. Werden die Sinnressourcen wie Anerkennung und Selbstverwirklichung durch Arbeit den Menschen vorenthalten, fällt es ihnen schwer, ihr Leben als sinnvoll zu erleben. Zudem können diese Menschen in entscheidenden Lebensmomenten auf der Verliererseite stehen. Ein Heranwachsender hat beispielsweise eine junge Frau kennengelernt. Sie schickt ihm eine SMS: „Ich möchte dich heute Abend treffen. Melde dich! “ Er kann die Nachricht nicht lesen. Soll er seinen Freund fragen? Wird dieser noch sein Freund sein, wenn er ihm seinen Makel offenbart, oder wird er zum Gespött seiner Peergroup? Soziale Zugehörigkeit Menschen mit gravierenden Lese- und Schreibproblemen haben sehr schmerzhaft erfahren, was es bedeutet, jenseits von sozialer Zugehörigkeit, Anerkennung, Akzeptanz zu leben. Sie wissen, was es heißt, stigmatisiert und ausgegrenzt zu sein. Im Alltag unternehmen sie massive Anstrengungen, um der Ausgrenzung zu entgehen. Ein Minimum ausreichender Grundbildung ist die lange Zeit unsichtbare und auch unausgesprochene Grenze zwischen gesellschaftlicher Inklusion und Ausschluss. Sozialer Status Zumeist ist funktionaler Analphabetismus mit einem geringen gesellschaftlichen Status verknüpft. Nur wenige schaffen es, die engmaschigen schriftsprachlichen Hürden zu überwinden und Schulabschluss, Berufsausbildung, Führerschein zu erlangen. Wenn ihnen das dennoch gelungen ist, sind sie in ständiger Sorge, enttarnt und bloßgestellt zu werden und damit ihren erreichten Status einzubüßen. Funktionaler Analphabetismus ist zumeist mit ökonomischer, sozialer und kommunikativer Armut verkettet. 428 uj 10 (2007) analphabetismus und jugendhilfe Zugang zur Erwerbsarbeit und unzureichende Bewältigung der Statuspassage Ökonomische Eigenständigkeit gilt als ein entscheidendes Merkmal für den Erwachsenenstatus. Die Statuspassage vom Schulbesuch zum Einstieg in die Erwerbsarbeit hat sich labilisiert. Für nicht wenige Jugendliche zieht sie sich über ein Jahrzehnt hin. Funktionale AnalphabetInnen haben jedoch angesichts ihres Kompetenzdefizits kaum eine Chance, Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, d. h. sie können nie den gesellschaftlich definierten Erwachsenenstatus erreichen.Wenn sie keine zweite Chance auf nachholende Bildung bekommen, sind sie potenziell ihr gesamtes Leben auf staatliche Alimentierung angewiesen, oder aber sie bewegen sich im Graubereich einer ungesicherten Erwerbsarbeit mit niedrigem Lohn und zum Teil ohne Sozialversicherungsabgaben. Konsequenzen unzureichender Grundbildung Die oben aufgeführten Punkte zeigen die zentrale Bedeutung der Grundbildung für den einzelnen Menschen und kennzeichnen in dramatischer Weise, was denen droht, deren Grundbildungsdefizite so erheblich sind, dass sie aus allen bisherigen nachholenden Bildungsangeboten herausfallen. Grundbildung ermöglicht persönliches Wachstum als „gezielt herstellbare Möglichkeit der Selbststeuerung komplexer Systeme“ (Willke 2001, 82). Angesichts des rasanten Wandels der Gesellschaft sind die Menschen mit dem Zwang zur Veränderung, zur Auseinandersetzung mit diesem Wandel konfrontiert. Wollen sie die Steuerungsfähigkeit für ihre Lebensgeschichte behalten oder zurückgewinnen, müssen sie mitwachsen. Der Zwangscharakter, welcher der Veränderung innewohnt, zeigt den Druck, der von außen auf das Individuum ausgeübt wird, zeigt die Konkurrenz, in der es steht. Die Gesellschaft verlangt der nachwachsenden Generation diese Veränderungsbereitschaft ab. Sie muss sich permanent auf neue technische, ökonomische und gesellschaftliche Gegebenheiten einstellen. Dieses drückt sich in der Formel der Sozialpolitik „Fördern und Fordern“ aus. Ein Teil der jungen Menschen ist mit dem Forderaspekt dieser Formel überfordert, weil diese Heranwachsenden ein Förderungsdefizit bereits aus ihrer Kindheit mitbringen. Sie tragen nicht die Ressourcen in sich, um die Forderungen der Gesellschaft an sie erfüllen zu können; sie brauchen nachholende, auf ihren individuellen Entwicklungsstand angepasste Förderung. Spezifische Förderung von funktionalen Analphabeten in der Jugendberufshilfe Im Folgenden stelle ich drei zentrale Anforderungen des Handlungsfeldes nachholender Grundbildung für Jugendliche und Heranwachsende dar: Es geht darum, Fachkräfte zu qualifizieren, adäquate Bildungskonzepte bzw. -angebote zu schaffen und die Bildungsforschung in diesem Bereich zu verstärken. Qualifizierung der Fachkräfte Die Fachkräfte der Jugendberufshilfe müssen die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung des Themas des funktionalen Analphabetismus erkennen. Es geht dabei um die Frage, wie mehr Jugendliche und analphabetismus und jugendhilfe uj 10 (2007) 429 Heranwachsende zu Lernern werden können. Wie eingangs bereits erwähnt, gehe ich davon aus, dass sich die Zielgruppe der funktionalen AnalphabetInnen zwar überwiegend in Maßnahmen beruflicher Bildung befindet, jedoch als solche nicht erkannt wird und die unbeachtete Problematik vermutlich eine relevante Ursache für den Abbruch von Maßnahmen nachholender beruflicher Bildung ist. Als Fachkräfte sind SozialarbeiterInnen, LehrerInnen und AusbilderInnen angesprochen. Diese Fachkräfte sind Träger eines umfassenden Konzeptes nachholender Bildung, dessen Module sich auf drei Felder konzentrieren: erstens nachholende Grundbildung, zweitens sozialarbeiterische Beratung (Lern- und Lebensberatung) und drittens Begleitung sowie praktische Tätigkeit in einem Berufsfeld. Die Bausteine der Weiterbildung für Fachkräfte Über welches Wissen und über welche Kompetenzen müssen Fachkräfte verfügen? Die einzelnen Bausteine eines Weiterbildungskonzeptes sind: • Aneignung eines fachlich fundierten Wissens über das Thema des funktionalen Analphabetismus, • Verbindung des Phänomens des funktionalen Analphabetismus mit Personen, • sensible, hilfreiche Konfrontation mit dem Thema Lese- und Schreibdefizite, • Lernberatung: motivieren, Anknüpfungspunkte für Lernen finden, über Perspektiven sprechen, ein passgenaues Lernangebot mit dem/ der Betroffenen entwerfen, Lernvertrag schließen, • Verweisungs- und Netzwerkwissen, • formative und summative Evaluation: Evaluation strebt nach Antworten auf die fachlich selbstkritische Frage, was der Hilfeprozess bewirkt hat. Die Bedeutung der Erstansprache- Beratung Funktionaler Analphabetismus ist ein doppeltes Tabu. Die Gesellschaft kann sich dieses Phänomen nur schwer eingestehen, und die Betroffenen verheimlichen ihren Makel selbst vor PartnerInnen und FreundInnen angesichts der Furcht vor Ausgrenzung. Daher kommt Fachkräften, die potenziell mit der Zielgruppe Kontakt haben, in der Jugendberufsarbeit, in den verschiedenen Beratungseinrichtungen, in Schulen und Jugendämtern eine besondere Verantwortung zu. Bei Verdacht müssen sie das Thema hilfreich und sensibel ansprechen können, um eine Brücke zu bauen. Diese Erstansprache-Beratung ist eine Schlüsselsituation im Hilfeprozess. Sie markiert den Beginn eines Hilfeprozesses oder ist eine vergebene Chance. Nur wenn Betroffene mit dem Thema konfrontiert werden, nur wenn das Thema angesprochen wird, eröffnet sich die Möglichkeit für eine zweite Chance, für eine Kursteilnahme. Die Erstansprache-Beratung enthält fünf kritische Wendepunkte, die für die Betroffenen und den Verlauf der Beratung entscheidend sind: • Erkennen des Problems: die Fachkraft hat ein fachlich angemessenes Bild von dem Phänomen des funktionalen Analphabetismus, d. h. Begriffsbestimmung, Dimension, gesellschaftliche und persönliche Hintergründe. • Verbindung des Phänomens des funktionalen Analphabetismus mit einer Person: Die Fachkraft ist sensibilisiert auf Verdachtsmomente und kann eine/ n AdressatIn aufgrund von Verhaltensweisen mit dem Problem in Verbindung bringen. • Benennen des Themas: Die Fachkraft vermag einem Anfangsverdacht nachzugehen und in angemessener, hilfreicher Weise das Thema anzusprechen (Konfrontation). 430 uj 10 (2007) analphabetismus und jugendhilfe • Lernmotivation ergründen und herausbilden. • Die Haltung des/ der BeraterIn: Die dreifache Wahrnehmungsrichtung des/ der BeraterIn ist auf das Thema, auf den/ die AdressatIn und auf die eigene Person gerichtet. Um junge Menschen zu einer erneuten Lernanstrengung zu motivieren, ist eine Zusammenarbeit der Fachkräfte notwendig. Angelehnt an die Prototypen lokaler Bündnisse für Alphabetisierung in Sachsen durch das Forschungsprojekt PASS alpha sind Netzwerke zu etablieren, in denen potenzielle Erstanspracheinstitutionen sowie Träger von Kursen zusammenarbeiten. Diese Netzwerke können das Verweisungswissen der Fachkräfte präzisieren, die Öffentlichkeitsarbeit verstärken und passgenaue Angebote für verschiedene Untergruppen funktionaler AnalphabetInnen untereinander abstimmen. Trotz Konkurrenz der Träger verspricht für die Etablierung dieses neuen Handlungsfeldes nachholender Alphabetisierung eine vernetzte Koordination der Aktivitäten Gewinn für alle. Entwicklung innovativer Bildungsangebote für funktionale Analphabeten Ergänzend zu den jeweiligen Bildungskonzepten in den Maßnahmen und Einrichtungen wird es darum gehen, für diese Zielgruppe spezifische Angebote zu entwickeln und zu erproben, die ein erfolgreiches Erlernen der Schriftsprache so weit ermöglichen, dass die allgemeinen Anforderungen der Bildungsmaßnahme erfüllt werden können. Dies macht besondere Konzepte der Förderung im Gesamtkontext der Bildungseinrichtung erforderlich. Im Folgenden werden einige Arbeitsgrundsätze zusammenfassend dargestellt, die auch insgesamt auf die Benachteiligtenbildung zutreffen, in welche die Arbeit mit jungen funktionalen AnalphabetInnen eingebettet sein muss (vgl. Stark/ Fitzner/ Schubert 1999). Arbeit mit funktionalen AnalphabetInnen beruht auf drei Säulen: Sie hat wie die Berufsförderung für benachteiligte junge Menschen eine sozialpädagogische, eine (Grund-)Bildungs- und eine Praxissäule. Die Praxis ist als Projekt konzipiert. Die Jugendlichen können selber wählen, was für sie angebracht ist. Sie sollten allerdings bei diesem Prozess nicht alleine gelassen werden, sondern eng begleitet werden. Von daher ist das Grundbildungskonzept der Alphabetisierung hoch kompatibel mit anderen Bildungskonzepten der Jugendberufshilfe. Die Lernorganisation und die Planung und Begleitung der individuellen Lernschritte müssen spezifisch auf die Zielgruppe ausgerichtet sein. Personenzentrierte Konzeptlogik: Leitgedanke des Bildungskonzeptes ist, dass die Angebote personenzentriert und nicht maßnahmeorientiert sind. Das meint, dass die Grundbildungsangebote nicht starr der vorgegebenen Konzeptlogik der Maßnahme folgen, sondern sich offen und flexibel der einzelnen Person zuwenden. Dieses setzt eine intensive Lernbegleitung und Lernkontrolle voraus. Eingangsdiagnostik und Lernberatung: Um einen passgenauen, auf den Einzelnen ausgerichteten Lernweg konzeptionell entwerfen zu können, ist es notwendig, den jeweiligen Kompetenzstand zu kennen. Das Stärke-Schwäche-Profil ist Grundlage für die Lernberatung. Netzwerkarbeit: Persönliche und professionelle Netzwerke als Quellen möglicher Ressourcen sollten für den Bildungsprozess beachtet und genutzt werden. Eine weitgehend stabile und lernfördernde soziale Umwelt ist eine der zentralen Grundlagen der Alphabetisierung. Der junge Mensch muss sich sozial verorten können, um ausanalphabetismus und jugendhilfe uj 10 (2007) 431 432 uj 10 (2007) analphabetismus und jugendhilfe reichend lernen zu können und die Versagens- und Stigmatisierungsängste zu überwinden. Bezogen auf das persönliche Netzwerk ist auch Elternarbeit anzustreben. Zu vermuten ist, dass die jungen Menschen aus Herkunftsfamilien kommen, die Multiprobleme zu bewältigen haben. Um sie in die Arbeit einzubinden, ist es wichtig, nach Unterstützungsangeboten zu suchen, welche die Eltern bewegen könnten mitzuwirken. Bildungsmaßnahme als initiierte Lebenswelt: Die Bildungsmaßnahme soll ein Element der Lebenswelt der Jugendlichen sein. Sie sollte als solche von den Fachkräften wahrgenommen und mitgestaltet werden. Sie kann auch alternative Lebenswelt sein, alternativ zu problematischen Milieus. Sie sollte Möglichkeiten der Entfaltung außerhalb von Arbeit und Lernen bieten, beispielsweise in einem Freizeitbereich oder in erlebnispädagogischen Projekten. Lernbegleitung: Lernbegleitung kann in unterschiedlichen - auch alternierenden - Settings stattfinden: in Einzelgesprächen sowie in Gruppenrunden mit den Fachkräften. In Lerngemeinschaften sollte erprobt werden, inwieweit die TeilnehmerInnen sich gegenseitig motivieren, bei Schwierigkeiten und Konflikten unterstützen und auch kontrollieren können. Voraussetzung dafür ist ein Arbeitsprojekt, hinter dem die Jugendlichen stehen, das sie anspornt, das für sie Sinn macht. Das Arbeitsprojekt erzeugt Selbstvertrauen und Vertrauen zur Gruppe; aus der Logik der Arbeitsaufgaben heraus entwickeln sich auch die Anforderungen wie z. B. Verbindlichkeit, Verlässlichkeit (Sekundärtugenden), aber auch die kognitiven Anforderungen Lesen, Schreiben, Rechnen. Diese skizzierten Leitideen für ein Bildungskonzept basieren auf zusammengetragenen Erfahrungen aus unterschiedlichen Praxisfeldern mit benachteiligten LernerInnen allgemein sowie mit funktionalen AnalphabetInnen speziell. Sie können als Ausgangspunkte für ein Grundbildungskonzept für Jugendliche und Heranwachsende gelten. Sie müssen in der Projektpraxis auf ihre Brauchbarkeit und Umsetzbarkeit überprüft werden. Ziel ist es, ihre Valenz zu unterstreichen, sie zu modifizieren und weiterzuentwickeln. Bedarf an Bildungsforschung Etwa 80.000 SchülerInnen eines Jahrgangs verlassen die Schule ohne Schulabschluss. Aus der PISA-Studie abgeleitete Ergebnisse belegen, dass unter den 16bis 19-jährigen nicht Erwerbstätigen 15,9 % über unzureichende Mindestqualifikationen verfügen. Die Leiterin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Jutta Allmendinger, sieht innerhalb der Kohorte der Jugendlichen eine 20 % starke Risikogruppe. Die PASS alpha Forschungsgruppe hat für Sachsen eine Quote von 5,45 % AnalphabetInnen errechnet (vgl. Eulenberger u. a. 2006). Die Größendimensionen des Problems des funktionalen Analphabetismus ist bisher nicht geklärt (vgl. Döbert/ Hubertus 2000). Offen bleibt die Anzahl der Jugendlichen und Heranwachsenden, die der Gruppe der funktionalen AnalphabetInnen zuzurechnen sind. Unabdingbar für eine sozialpolitische Einordnung und daraus folgend für die Maßnahmenplanung ist eine abgesicherte Datenbasis. Daher ist ein Forschungsziel, genaue Daten über die Größe der Gruppe sowie die geschlechtsspezifische und regionale Verteilung zu präsentieren. Mit den Mitteln qualitativer Sozialforschung sollten zudem die Lernbiografien der jungen Menschen nachgezeichnet werden. Dadurch wird das Bild der (Fach-)Öffentlichkeit von der Zielgruppe zutreffender, die Hilfepläne für die Arbeit mit den Betroffenen erhalten eine sozialwissenschaftlich abstützte Grundlage, und eine Erforschung der (Lern-)Biografien ist auch der Schlüssel für eine wirksamere Prävention. Schlussbemerkungen Seit Ende der 70er Jahre in der alten Bundesrepublik und seit der Wende in den neuen Bundesländern drängt die Erkenntnis in das gesellschaftliche Bewusstsein, dass es eine zunehmende Gruppe von Menschen gibt, die aufgrund unzureichender Schriftsprachefähigkeiten keine Chance auf Teilhabe hat. Besonders zerstörerisch kann dies für Jugendliche und Heranwachsende sein. Sie sehen sich von vornherein einer unüberwindlichen Mauer gegenüber. Ihnen fehlt die Chance, den Status eines Erwachsenen einzunehmen, denn dieser ist gekoppelt an ökonomische Unabhängigkeit. Dank kluger Öffentlichkeitsarbeit des Bundesverbandes für Alphabetisierung und Grundbildung sowie einzelner AlphabetisierungspädagogInnen wird das Thema von Politik und Öffentlichkeit mittlerweile zur Kenntnis genommen. Blickt man zurück auf beinahe 30 Jahre Grundbildungsarbeit, so sieht man ein Auf und Ab aufgrund prekärer Strukturen. Teilweise wird die Arbeit engagiert ehrenamtlich geleistet, viele Kräfte kommen über den zweiten Arbeitsmarkt, andere arbeiten auf Honorarbasis. Diese Strukturen erzeugen Unsicherheit und Fluktuation. Alphabetisierungsarbeit verlangt aber die Entwicklung von Vertrauen. Die jungen Menschen suchen Verlässlichkeit, Kontinuität und Sicherheit. Um Bildung als Menschenrecht wie auch als Standortfaktor den aktuellen Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft anzupassen, ist eine angemessene Finanzierung notwendig. Die politische Entscheidung dafür steht noch aus. Anmerkung Ich bedanke mich sehr bei meinem Kollegen Ullrich Gintzel für seine klugen und hartnäckigen Fragen und Einwände sowie seine Ideen. Ohne die Diskussionen mit ihm gäbe es dieses vorgelegte Ergebnis nicht. Literatur Aderhold, J., 2004: Form und Funktion sozialer Netzwerke in Wirtschaft und Gesellschaft. Wiesbaden Allmendinger, J., 2006: Vorteil Studium. In: Die Zeit Nr. 16 vom 12. 4. 2006 Döbert, M., 1997: BASIC: Berufsorientierte Grundbildung in der Alphabetisierung. Ergebnisse eines europäischen Projektes zur Alphabetisierung. In: ALFA-FORUM, H. 42, S. 12 Döbert, M./ Hubertus, P., 2000: Ihr Kreuz ist die Schrift. Münster Eulenberger, J./ Gintzel,U./ Hannich, K./ Jensen, P./ Schneider, J./ Stange, D./ Wagner, H., 2006: PASS alpha. Herausforderung Analphabetismus. Alphabetisierung funktionaler Analphabeten in Sachsen. Unveröffentlichter Abschlussbericht Genuneit, J., 1996: Analphabeten in Deutschland - ein Armutszeugnis. In: Gewerkschaftliche Bildungspolitik, H. 6 - 7, S. 4 - 6 Hubertus, P., 1995: Wo steht die Alphabetisierungsarbeit heute? In: Brügelmann, H./ Balhorn, H./ Füssenich, I. (Hrsg.): Am Rande der Schrift. Zwischen Sprachenvielfalt und Analphabetismus. Lengwil Kretschmann, R. u. a., 1990: Analphabetismus bei Jugendlichen. Ursachen, Erscheinungsformen, Hilfen. Stuttgart/ Berlin/ Köln Stark, W./ Fitzner, T./ Schubert, C. (Hrsg.), 1999: Junge Menschen in der berufsorientierten Alphabetisierung. Eine Fachtagung. Bad Boll/ Stuttgart Willke, H., 2001: Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Stuttgart Der Autor Dr. Peter Jensen Wilhelmshöher Straße 15 12161 Berlin peter.jensen@ehs-dresden.de analphabetismus und jugendhilfe uj 10 (2007) 433
