unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Kevins Tod - ein Beispiel für missratene Kindeswohlsicherung
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2007
Hans-Christoph Hoppensack
Im folgenden Beitrag wird die Chronologie der Ereignisse und Interventionen, die mit dem Tod des Jungen Kevin im Herbst 2006 endete, dargestellt und auf diesem Hintergrund eine Bewertung des Falles vorgenommen.
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Am 10. Oktober 2006 finden MitarbeiterInnen des Amtes für Soziale Dienste Bremen bei dem Versuch, mit Hilfe von Gerichtsvollzieherin und Polizei die Herausgabe des zweieinhalbjährigen Kindes Kevin bei seinem angeblichen Vater durchzusetzen, Kevins Leiche in einem Kühlschrank. Die Leiche weist zahlreiche alte Verletzungen auf. Der genaue Todeszeitpunkt steht bis heute nicht fest. Wahrscheinlich reicht er mehrere Monate zurück. Exkurs: Die Organisation der Jugendhilfe in Bremen In den 80er Jahren wurden die sozialen Dienste in Bremen nach langen Untersuchungen und Erprobungen an Haupt und Gliedern reformiert. Eine ganze Reihe auch der klassischen Ämter - darunter das Jugendamt - wurde zugunsten eines Amtes für Soziale Dienste (AfSD) mit regionaler (vier Stadtregionen) und zielgruppenorientierter Binnengliederung weiterentwickelt. Die Trennung von Innen- und Außendienst wurde aufgehoben. An die Stelle des Jugendamtes trat ein vertikaler Fachstrang für Kinder, Jugendliche und ihre Familien. Ab 1999 erfolgten im Zusammenhang mit dem sogenannten Neuen Steuerungsmodell (NSM) in der Bremer Verwaltung zwei weitere Veränderungen, von zunächst auf zwölf, dann - nach Verlagerung der Sozialhilfe für Arbeitsfähige zu einer Arbeitsgemeinschaft mit der Arbeitsagentur (Bagis) - auf heute sechs Sozialzentren, bei denen alle wesentlichen sozialen Aufgaben wahrgenommen werden, darunter die Jugendhilfe und die Bearbeitung der Sozialhilfebezüge. Amtsvormundschaften für Kinder werden für ganz Bremen (550.000 EinwohnerInnen) beim Sozialzentrum Mitte bearbeitet (knapp drei SachbearbeiterInnen für 620 Fälle). Die kommunalen Kindergärten (70) sind in einem Eigenbetrieb organisiert. Kevin und seine Eltern wurden vom Sozialzentrum Bremen-Gröpelingen-Walle betreut. In diesem Gebiet leben ca. 60.000 EinwohnerInnen, und es ist gekennzeichnet durch einen hohen Anteil von MigrantInnen und von Familien mit verschiedenen Problemlagen. Dort, im Sozialzentrum, war in der „Stadtteilgruppe Jugendhilfe“ (sie umfasst acht Case-ManagerInnen, einen Initiativberater, zwei Fachkräfte für die Jugendfreizeitheime, eine Leitungskraft, auch zuständig für die Feinsteuerung von Kindertagesbetreuung) auch Kevins Case-Manager tätig. Zum Sozialzentrum gehört auch eine Erziehungsberatungsstelle. An der Spitze des gesamtstädtischen Amtes für Soziale Dienste steht ein Amtsleiter, sein Vertreter ist der Leiter der Abteilung „Junge Menschen und Familien/ Jugendhilfe“. Seit Einführung der Neuen Steuerungsmodelle und der Budgetierung in Bremen gibt es auch in der Zentrale des Amtes für Soziale Dienste eine größere Controllingeinheit, die die Budgetvereinbarungen mit dem Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales (Landesbehörde und kommunale Dezernatsbehörde) einerseits und mit den sechs Sozialzentren andererseits vorbereitet und deren Einhaltung im Auge hat. 290 uj 7+8 (2007) kindeswohl Unsere Jugend, 59. Jg., S. 290 - 305 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kevins Tod - ein Beispiel für missratene Kindeswohlsicherung Hans-Christoph Hoppensack Im folgenden Beitrag wird die Chronologie der Ereignisse und Interventionen, die mit dem Tod des Jungen Kevin im Herbst 2006 endete, dargestellt und auf diesem Hintergrund eine Bewertung des Falles vorgenommen. Wichtig zu wissen ist, dass sich das Land und die Stadt Bremen in einer extremen Haushaltsnotlage befinden, besonders nach der Beendigung der Sanierungshilfen des Bundes. Seit Beginn der 80er Jahre steigern sich die Spar- und Sanierungsbemühungen, die seit 2001 noch einmal massiv verstärkt worden sind. Hintergrund sind u. a. Benchmarking-Vergleiche der Großstadtjugendämter, nach denen Bremen z. B. bei den Erziehungshilfe-Ausgaben weiterhin auf den oberen Plätzen liegt. So hat es nicht zuletzt in der Jugendhilfe bei den ambulanten Diensten erhebliche Personaleinsparungen gegeben. Viele klassische Aufgaben eines Jugendamtes sind aus der kommunalen öffentlichen Jugendhilfe auf freie Träger übertragen worden, in der Annahme, dass sie dort kostengünstiger wahrgenommen würden. Fakt ist auch, dass in den letzten Jahren die vereinbarten Budget-Richtwerte immer wieder erheblich überschritten worden sind. Insofern gab und gibt es ein spürbares Interesse, bei der Auswahl von notwendigen Maßnahmen, besonders auch der Erziehungs- und Eingliederungshilfe für junge Menschen, möglichst effizient vorzugehen, z. B. durch Vermeidung von Heimerziehung. Für die Jugendhilfe existieren im Amt für Soziale Dienste ein umfangreiches und aktuelles Handbuch (fachliche Weisung) der Erziehungshilfe und auch eine gesonderte fachliche Weisung zum Umgang mit Kindern substituierter drogenabhängiger Eltern. Seit Dezember 2006 tagt zum Tod des Kindes Kevin und dessen Hintergrund ein Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft (Landes- und Stadtparlament). Dieser Aufsatz verwertet Vorbereitungen dazu, z. B. den Bericht des Sonderermittlers Staatsrat Ulrich Mäurer vom 30. 10. 2006 und die öffentliche Verhandlung, nicht aber den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses. Weitere Quellen sind die Berichte der Innenrevision des Amtes und der senatorischen Behörde. Kevin und seine Eltern Kevin wird am 23. 1. 2004 im kommunalen Klinikum Bremen-Nord als „Frühchen mit Entzugsproblematik“ durch Kaiserschnitt geboren. Er muss eine Zeitlang intensiv behandelt, z. B. beatmet werden. Erst nach 47 Tagen kann er entlassen werden. Seine Mutter Sandra K., damals im 35. Lebensjahr, ist in einer Familie mit vielen Problemen aufgewachsen. Ihr Vater nahm sich das Leben, als Sandra K. 6 Jahre alt war. Mit 12 Jahren begann sie, Alkohol zu trinken und Cannabis zu rauchen. Mit 13 verließ sie den Haushalt ihrer Mutter. Mit 14 begann sie, Heroin zu spritzen. Insgesamt hat sie wegen Straftaten sieben Jahre im Freiheitsentzug verbracht. Die letzte Strafe wegen Diebstahls erhielt sie nach Kevins Geburt im September 2004. Sandra K. war HIV-positiv und litt an mehreren Formen von Hepatitis. Lange vor Kevins Geburt und bis zu ihrem Tod am 12. 11. 2005 wurde sie bei einem niedergelassenen Arzt mit Methadon substituiert und von zwei Diensten freier Träger im Drogenhilfe-Bereich begleitet. Seit 2003 lebte Sandra K. mit Bernd Kk. zusammen, hatte dabei auch sexuelle Beziehungen zu anderen Männern. Bernd Kk., geboren 1964, stammt ebenfalls aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Sein Vater wird als Alkoholiker beschrieben, und auch er nahm sich das Leben, als Bernd 13 Jahre alt war. In diesem Alter hat er mit Alkohol und Drogen angefangen. Nach der Hauptschule und einer Dachdeckerlehre hat er verschiedene berufliche Tätigkeiten ausgeübt. Mit 14 beginnt eine kindeswohl uj 7+8 (2007) 291 Dr. Hans-Christoph Hoppensack Jg. 1939; Dr. jur., Jurist mit sozialpädagogischem Zusatzstudium, Jugendstaatsanwalt, Referent beim Senator für Jugend, Soziales und Sport in Bremen, Sozialamtsleiter und von 1979 bis 2000 Staatsrat beim Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales der Freien Hansestadt Bremen Reihe von Straftaten. 22 Eintragungen finden sich im Bundeszentralregister, vor allem Eigentumsdelikte, Körperverletzungen, BTMG-Delikte. In verschiedenen Aktenvermerken wird er als jähzornig und gewalttätig geschildert. 13 Jahre hat er im Freiheitsentzug verbracht. Auch nach Kevins Geburt gab es weitere Verurteilungen u. a. wegen Diebstahl und Körperverletzungen. Etwa seit 1995 ist Bernd Kk. drogenabhängig. Er hat an fünf Therapiemaßnahmen teilgenommen, knapp drei Jahre in Therapieeinrichtungen verbracht. Seit 2003 wurde auch er mit Methadon bei demselben Arzt wie seine Lebensgefährtin Sandra substituiert. Ihm zur Seite standen außer dem substituierenden Arzt ein Rechtsanwalt (Verteidiger) und freiverbandliche DrogenhelferInnen. Bernd Kk. galt als Vater von Kevin. Sein späterer Amtsvormund hat übersehen, dass Sandra beim Standesamt keinen Vater benannt hatte. Eine Vaterschaftsfeststellungsklage wurde nicht erhoben. Erst eine DNA-Analyse nach Kevins Tod ergab, dass Bernd nicht Kevins Vater war. Kevins Mutter starb am 12. 11. 2005 - Kevin war da 22 Monate alt -, Todesursache unklar. Im Mai 2005 hatte sie eine Fehlgeburt. Ihren Lebensunterhalt bestritten Eltern und Kind mit Hilfe von ALG II, Sozialhilfe, eventuell auch durch Straftaten und Prostitution. Chronologie einer versäumten Sicherung von Kindeswohl 12. 12. 2003: Eine Familienhebamme des Gesundheitsamtes erhält eine Meldung über die bevorstehende Geburt eines Kindes drogenabhängiger Eltern. Sie macht zwei Hausbesuche und sucht mit der Mutter eine Geburtsklinik auf. Die Mutter lehnt diese aber ab, u. a. weil ihr die Behandlungsvorschläge der dort tätigen ÄrztInnen nicht gefallen, z. B. die regelmäßige Vorstellung des Kindes nach der Geburt bei einem Kinderarzt. Sie wählt das Klinikum Bremen-Nord. Die Hebamme schildert die Zusammenarbeit als schwierig, die Eltern fühlen sich kontrolliert. 23. 1. 2004: Kevin wird geboren und zunächst in der Intensivstation versorgt. Der Case-Manager des Amtes für Soziale Dienste erfährt an diesem Tag vom Sozialdienst der Klinik von der Geburt und legt eine Akte an. 5. 2. 2004: Fallbesprechung in der Kinderklinik, anwesend u. a. Eltern, Case-Manager, Hebamme, Sozialdienst der Klinik, Oberarzt, Krankenschwester und zwei Drogenberater (der Eltern). Die Klinik äußert sich sehr skeptisch zu einer Entlassung des Kindes zu den Eltern; der Case-Manager vermerkt eigene Zweifel, ob die Eltern das Kind versorgen können. 19. und 26. 2. 2004: Weitere Fallkonferenzen in der Kinderklinik. Es wird eine Entziehungskur der Familie in Heiligenhafen/ Schleswig-Holstein ins Auge gefasst. Ein Drogenberater empfiehlt für die Zeit danach eine engmaschige Betreuung durch Familienhebamme, Drogenberater und den Methadon-Arzt (u. a. auch Urinkontrollen wegen „Beigebrauch“). Der Case-Manager vermerkt, dass die Versorgung des Kindes noch nicht gewährleistet sei, die Mutter sei schläfrig und nicht konstant in der Versorgung. Der (vermutete) Vater hat Hausverbot in der Kinderklinik erhalten, weil er in angetrunkenem Zustand dort randaliert und MitarbeiterInnen bedroht und beschimpft habe. Eine Mitarbeiterin des sogenannten Ergänzenden Methadonprogramms (EMP) empfiehlt am 19. 2. 2004 dringend, auf den Einsatz einer Familienhebamme zu verzichten, weil zu viel Druck auf die KlientInnen ausgeübt werde. Die Familienhebamme vermerkt später, auch der Case-Manager habe gemeint, zu viele Termine und Kontrollen könnten die El- 292 uj 7+8 (2007) kindeswohl tern überlasten. Am 26. 2. 2004 wird die Hebamme nicht mehr zur Fallbesprechung eingeladen. Bei diesem Termin erscheinen dafür der Methadonarzt und ein Rechtsanwalt. Beide unterstützen vor allem die Behandlung bzw. Entziehungskur der Familie in Heiligenhafen. 9. 3. bis 10. 4. 2004: Die Familie wird in Heiligenhafen behandelt. In der Behördenakte findet sich kein Hinweis, wie die Vermittlung dorthin erfolgt ist, mit welchem Ziel genau, und es findet sich am Ende auch kein Ergebnisbericht. Unerwähnt bleibt in der Akte auch, dass Bernd Kk., der vermutete Vater, während des Klinikaufenthaltes eine Körperverletzung begangen hat, für die er im Jahr 2005 dann verurteilt wurde. 3. 5. 2004: Der Case-Manager erfährt von dem Methadonarzt am Telefon, dass die Familie zurück sei und „wohl ein wenig Hilfe benötige“. Vorbereitungen des Case-Managers für diese Situation ergeben sich aus der Akte nicht. Der Case-Manager bittet den Sozialdienst in der Kinderklinik Nord um einen Bericht über die Familie, weil er keine näheren Informationen besitze. Auch nach einer späteren Erinnerung trifft dieser Bericht nicht ein. 4. 5. 2004: Der Case-Manager schreibt den Eltern, bringt sich in Erinnerung und bittet sie, sich an ihn zu wenden, wenn sie Fragen haben. Bernd Kk. ruft beim Case- Manager an, und dieser vermerkt, dass er ihm in vorwurfsvollem Ton mitgeteilt habe, es ginge allen gut und man brauche keine Hilfe. Dieses Ergebnis teilt der Case-Manager am 6. 5. 2004 dem Methadonarzt schriftlich mit. 28. 5. 2004: Der Case-Manager telefoniert mit dem Sozialdienst der Kinderklinik, der wegen Arbeitsüberlastung noch nicht zu dem Bericht gekommen ist. Der Sozialdienst empfiehlt - wie erörtert - den Einsatz der Familienhebamme, außerdem eine serologische Kontrolle bei Kevin wegen ggf. drohender Anämie. Außerdem schickt der Sozialdienst die Kopie eines Briefes der Kinderklinik aus dem März 2004 an die Entgiftungsklinik in Heiligenhafen, in dem über die Schwierigkeiten der Mutter berichtet wird, in der Klinik Kevin angemessen zu versorgen. Man betrachte den Versuch in Heiligenhafen als einmalig. Bei weiterer Auffälligkeit erwäge man, das Kind den Eltern wegzunehmen. Der Case-Manager schreibt noch am selben Tag an den Methadonarzt und bittet diesen als Vertrauten der Familie, sie zu dem Einsatz der Familienhebamme zu motivieren. Eine Reaktion des Arztes ist nicht vermerkt. Eine Familienhebamme ist nicht tätig geworden. Bis zum 3. 8. 2004 ist in der Akte des Case- Managers nichts vermerkt. (In späteren Revisionsberichten wird die Aktenführung als unordentlich, unvollständig geschildert, viele lose Schreiben, keine Paginierung der Akte usw.). 4. 8. 2004: Der Case-Manager erhält einen sogenannten Notlagenbericht der Polizei, die die Mutter unter Alkoholeinfluss (0,93 mg/ l) am Vortag um 22.00 Uhr auf der Straße angetroffen hatte, alarmiert von AnwohnerInnen: Die Mutter habe das Kind aus dem Kinderwagen genommen, in die Luft geworfen, aufgefangen und mit der Hand geschlagen. Die Polizei äußert Zweifel, ob unter diesen Umständen eine adäquate Versorgung des Kindes gewährleistet sei. Der Case-Manager schreibt am selben Tag an den Methadonarzt, erinnert an sein Schreiben vom 28. 5. 2004 und teilt mit, dass ihn die Mitteilung der Polizei nachdenklich stimme. Ebenfalls schreibt er der Mutter und bietet ihr erneut seine Hilfe an. 17. 8. 2004: Die Eltern erscheinen unaufgefordert beim Case-Manager und erläutern den Vorfall vom 3. 8. 2004. Es gehe ihnen gut und sie benötigten keine Hilfe. Der Case-Manager vereinbart gleichwohl mit ihnen „in absehbarer Zeit“ einen Hausbesuch. kindeswohl uj 7+8 (2007) 293 8. 10. 2004: Hausbesuch. Der Case-Manager berichtet von einer gut eingerichteten und aufgeräumten Wohnung, das Kinderzimmer sei liebevoll eingerichtet, Stofftiere hingen frisch gewaschen im Badezimmer. Bei dem Hausbesuch sind Mutter und Kind nicht anwesend. Der Case-Manager erfährt, dass sie seit dem 27. 9. 2004 in der Kinderklinik Klinikum Mitte sind, mit Verdacht auf Rippen- und Beinfrakturen bei Kevin. Bernd Kk. erklärt, dass die Verletzungen durch das Kinderbett und durch zu heftiges Auf-den-Arm-Nehmen der angetrunkenen Nachbarin entstanden sein könnten. Sie als Eltern würden dem Kind niemals Leid zufügen. 11. 10. 2004: Der Case-Manager telefoniert mit der Stationsärztin und erfährt von mehreren alten Frakturen, auch am Schädel. Die Ärztin empfiehlt „eine ambulante Hilfe“, z. B. Krankengymnastik. Über die Mutter wird berichtet, dass sie sich vorbildlich in der Klinik verhalten habe. Der Case-Manager erklärt, er werde sich um entsprechende Hilfen bemühen. Er telefoniert am selben Tage mit Bernd Kk. und erreicht, dass dieser sich um einen Einsatz der „Frühen Hilfen“ (eine ambulante Frühförderungsmaßnahme u. a für behinderte Kinder) bemühen werde. Der Case-Manager informiert auch den Dienst „Aufsuchende Familienberatung“; dieser verspricht, den Fall zu beraten und zurückzurufen. 14.10.2004: Der Bericht der Kinderklinik Mitte erreicht den niedergelassenen Kinderarzt, der die Einweisung in die Klinik veranlasst hatte, und den Case-Manager. Der Bericht enthält als Diagnosen: multiple traumatische Frakturen, Kindesmisshandlung, Entwicklungsstörung. U. a. wird über eine deutliche Liegeglatze des Kindes berichtet und über eine Entwicklungsverzögerung um 4 Monate (Kevin ist 8 Monate alt). In Absprache mit dem Case-Manager wird zunächst kein Antrag auf Fremdunterbringung gestellt, weil man von stützenden ambulanten Diensten durch die „Frühen Hilfen“ und eine Familienhebamme ausgeht. Kevin wird am 14. 10. 2004 zu den Eltern entlassen. Zu einem Einsatz der „Aufsuchenden Familienberatung“ kommt es nicht, weil Bernd Kk. bittet, davon vorerst abzusehen. Die „Frühen Hilfen“ haben am 28. 10. 2004 auf Vermittlung des Case-Managers Kontakt mit den Eltern, berichten über eine zufriedenstellende Gesamtsituation und nehmen einen Einsatz in sechs Wochen in Aussicht. Bernd Kk. erklärt, Kevin werde wöchentlich der Kinderklinik wegen Blutuntersuchungen (Nierenschäden) vorgestellt, die Klinik nehme Kontakt mit dem niedergelassenen Kinderarzt auf. 23. 11. 2004: Strafanzeige der Polizei gegen die Mutter wegen Verletzung der Fürsorgepflicht: Man habe sie nach einem Anruf von Nachbarn schlafend, unter Alkoholeinfluss, im Hausflur angetroffen. Kevin lag bäuchlings schreiend auf dem Boden, habe eine rote Stelle an Stirn und Wange gehabt. Kevin wurde ins nächste Krankenhaus gebracht, sei schmutzig und viel zu dünn angezogen gewesen. Das Kind ist anschließend in das Kinderheim Hermann- Hildebrand-Haus gebracht worden, die Mutter in Polizeigewahrsam. 25. 11. 2004: Der Substitutionsarzt vermerkt „kein Beigebrauch“ bei Bernd Kk. und hält ihn für voll verantwortlich, sich um Kevin zu kümmern. Die Eltern haben sich nach dem Vorfall vom 23. 11. 2004 hilfesuchend an ihn gewandt. Das Amt erfährt das per Fax. Der Case-Manager vermerkt, der Arzt sehe keinen Grund, den Eltern das Kind vorzuenthalten. 30. 11. 2004: Im Rahmen der Wochenkonferenz der SachbearbeiterInnen für Kinder usw. des Sozialzentrums Gröpelingen wird über den Fall Kevin diskutiert. Man spricht sich für einen 6-Wochen-Ein- 294 uj 7+8 (2007) kindeswohl satz des ambulanten Dienstes „Familie im Mittelpunkt“ (FiM) eines freien Trägers in der Familie aus, mit dem Ziel der Stabilisierung der Familie, damit Kevin wieder aufgenommen werden kann. Die Eltern sind damit einverstanden. Kevin wird den Eltern wieder übergeben. 9. 12. 2004: Der FiM-Einsatzleiter berichtet nach einem Hausbesuch, dass er Bernd Kk. für den stabilisierenden Faktor in der Familie halte. 13. 12. 2004: Aus einer Akte des Gesundheitsamtes ergibt sich als Ergebnis eines Gespräches des dortigen Kinder(amts)arztes mit dem Case-Manager, dass der Arzt nach einem Hausbesuch (Wohnung chaotisch, aber nicht ungepflegt) Bernd Kk. noch genügend Kompetenzen für eine ordentliche Versorgung des Kindes einräume, bei der Mutter hingegen hat er Zweifel. Er weist darauf hin, dass die Eltern zwei vereinbarte Termine kurzfristig abgesagt hätten. Bei allem sei eine Frühförderung nicht die einzige Maßnahme in der Familie. In der Akte des Case-Managers findet sich darüber nichts. 4. 1. 2005: Fallkonferenz: zwei FiM-MitarbeiterInnen, Eltern, Case-Manager. Letzterer äußert sich, dass er das Kindeswohl in der Familie zu seiner Zufriedenheit als gewährleistet ansehe. In einem Schlussbericht des FiM-Dienstes vom 6. 1. 2005 wird den Eltern ein rundum gutes Zeugnis in puncto Zuwendung und Versorgung ausgestellt. „Wir hatten zu keiner Zeit Sorge, dass Kevins Wohl gefährdet sein könnte … Die Eltern gehen sehr liebevoll und fürsorglich mit ihrem Sohn um, und es wird eine stabile Bindung deutlich.“ 21. 1. 2005: Bernd Kk. spricht beim Case- Manager vor und hat Sorge, dass man ihm das Kind wegnehmen könne. Die Mutter trinke häufig Alkohol, und gegen sie werde wegen Hehlerei ermittelt. In der Akte findet sich kein Hinweis, ob und was der Case-Manager darauf unternommen hat. 4. 2./ 15. 2. 2005. Der niedergelassene Kinderarzt meldet dem Amt, dass Kevin 500 g abgenommen habe und extrem blutarm sei. Die Eltern hätten Termine abgesagt und halten Termine nicht ein. Der Kinderarzt sieht eine Kindeswohlgefährdung. 16. 2. 2005: Der Case-Manager vermerkt einen erneuten Anruf des Kinderarztes: Die Eltern seien nun doch erschienen, die Zusammenarbeit sei akzeptabel und die Entwicklung des Kindes positiv. 18. 2. 2005: Der Case-Manager schreibt den Eltern, die mehrfachen Absagen beim Kinderarzt machten ihn sehr nachdenklich, und bittet sie angesichts der Lage um umgehende Meldung. 22. 2. 2005: Die Staatsanwaltschaft Bremen meldet sich beim Case-Manager wegen des Vorfalls im Treppenhaus am 23. 11. 2004 und bittet um Bericht über die Situation in der Familie und ob die Betreuung des Kindes sichergestellt sei. 11. 3. 2005: Der Case-Manager antwortet, dass die FiM-Maßnahme erfolgreich abgeschlossen sei, und zitiert deren positive Stellungnahme. Nach Aussage des Kinderarztes sei Kevin gut versorgt. Die Eltern seien auch nach seinem Eindruck sehr um das Wohl des Kindes bemüht. Die Staatsanwaltschaft stellt daraufhin das Verfahren gegen die Mutter ein. 17. 3. 2005: Der Case-Manager vermerkt, dass nach Eindruck der „Frühen Hilfen“ die Familie liebevoll mit dem Kind umgehe und es gut versorge. 7. 4. 2005: Die „Frühen Hilfen“ berichten dem Case-Manager, dass man die Hilfe einstellen müsse, weil der Vater im Krankenhaus sei und die Mutter mit Kevin nach Alfeld fahren werde, um dort ihr zweites Kind zu entbinden (von der Schwangerschaft hatte der Case-Manager bereits am 25. 2. 2005 vom Anwalt der Eltern erfahren). Ob die „Frühen Hilfen“ auch später noch in der Familie tätig waren, bleibt nach den Unterlagen unklar. kindeswohl uj 7+8 (2007) 295 1. 6. 2005: Der Case-Manager erfährt von einer Mitarbeiterin von FiM, dass Kevins Mutter am 29. 5. 2005 eine Fehlgeburt hatte. Eine namentlich nicht bekannte Frau kümmere sich um Kevin. Bernd Kk. hält weitere Hilfe für nicht nötig. 14. 6. 2005: Der Case-Manager vermerkt die Mitteilung des Methadonarztes, dass für die Familie eine erneute Entgiftung in Heiligenhafen vorbereitet werde, voraussichtlich für den 18. 7. 2005. Am selben Tag wird Bernd Kk. wegen räuberischen Diebstahls und Körperverletzung zu 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Im Verfahren ist davon die Rede, dass Bernd Kk. vor der Tat Heroin gespritzt und Alkohol getrunken hatte. Es wird berichtet, dass Kevin mit in der Verhandlung dabei war. 18. 7. 2005: Die Polizei berichtet dem Sozialzentrum über einen Einsatz in der Familie auf Bitten von Bernd Kk.: Bernd Kk. und vor allem die Mutter sind betrunken gewesen. Die Mutter ist angeblich ausgerastet. Bernd Kk. hat ihr vorgeworfen, auf der Suche nach Alkohol den Jungen allein gelassen zu haben. Sie sei eine Schlampe und mache für Alkohol „für jeden die Beine breit“. Bernd Kk. gibt zu, die Mutter geohrfeigt zu haben. Die Polizei berichtet von einem desolaten Gesamtzustand der Wohnung. Kevin sei völlig verdreckt und durchnässt gewesen. Die Polizei bezweifelt, dass unter diesen Umständen eine ordentliche Versorgung des Kindes möglich sei, zumal immer einer der Eltern alkoholisiert sei. 19. 7. 2005: Zwei MitarbeiterInnen des Sozialzentrums machen einen Hausbesuch. Bei Kevin können sie nichts Auffälliges feststellen. Die Mutter habe irgendwie zugedröhnt gewirkt, Bernd Kk. dagegen nicht. Man vermutet, dass er für das Kind sorge. Kevin habe einen Blumentopf an die Wange geworfen bekommen, eine Spur sei noch sichtbar gewesen, leider sei der Kinderarzt in Urlaub. Die Eltern warten auf den Beginn der Behandlung in Heiligenhafen. Einen Grund für eine Inobhutnahme sehen die MitarbeiterInnen nicht. 25. 7. 2005: Der Case-Manager erhält einen weiteren Polizeibericht. Eine Mitbewohnerin hatte über die Trunkenheit der Mutter und Auseinandersetzungen mit Bernd Kk. in der Wohnung berichtet, weil die Mutter sich nicht um Kevin kümmere. Die Polizei nimmt die Mutter in Polizeigewahrsam, weil sie den Eindruck teilt. Später am Abend sieht die Polizei noch mal nach dem Rechten in der Wohnung. Bernd Kk. hat Kevin ordentlich versorgt. Er berichtet der Polizei von seinen Drogenproblemen, von der ständigen Trunkenheit der Mutter aus Kummer über ihre Fehlgeburt. Er denke daran, sich von der Mutter zu trennen. Die Polizei schließt mit dem Hinweis, Bernd Kk. neige zu aggressivem Verhalten, und wenn die Mutter betrunken sei, schlage er sie. Er sei 190 cm groß und wiege 110 bis 120 kg. Noch am selben Tag meldet sich Bernd Kk. beim Case-Manager und teilt mit, dass der Konflikt mit der Mutter behoben sei und dass man am 26. 7. 2005 die Kur in Heiligenhafen antrete. 10. 8. 2005: Der Case-Manager erfährt durch einen Anruf von Bernd Kk., dass man die Kur angetreten habe. Er denke an einen Umzug zu seiner Mutter in Alfeld. 24. 8. 2005: Der Case-Manager vermerkt einen Anruf von Bernd Kk., man sei seit 22. 8. 2005 wieder in Bremen. Er verfolge weiter einen Umzug nach Alfeld; der Methadonarzt helfe dabei. 28. 10. 2005: Bernd Kk. teilt dem Case- Manager mit, dass der Umzugsgedanke weiter aktuell sei und dass er wieder Kontakt zu den „Frühen Hilfen“ aufnehmen wolle. Kevin werde zur Zeit in einer Tageseinrichtung betreut. 13. 11. 2005: Der Case-Manager erhält einen Polizeibericht, dass die Mutter am 296 uj 7+8 (2007) kindeswohl Vortag verstorben sei, Todesursache unklar. Bernd Kk. soll sich während des Einsatzes von Polizei und Notarzt aggressiv verhalten und die Rettungsversuche behindert haben. Er wird deshalb vom Sozialpsychiatrischen (Not-)Dienst in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen. Kevin wird mit auf die Wache genommen und dann in das Kinderheim Hermann Hildebrand gebracht. 14. 11. 2005: Das Kinderheim teilt dem Case-Manager mit, Bernd Kk. habe Kevin am Vortag im Heim besucht und mit ihm gespielt. Bernd Kk. beabsichtige, Kevin in den nächsten Tagen abzuholen und zu seiner Mutter nach Alfeld zu fahren. In einem vertraulichen Bericht des Heimes heißt es, dass das Kind in vielfacher Hinsicht retardiert sei, es habe einen maskenhaften Ausdruck, weine still vor sich hin, zeige auch keine Reaktion, als der „Vater“ es begrüßt. Dieser habe erkennbar unter Drogen/ Medikamenten gestanden. Der Case-Manager rät dem Kinderheim, Kevin nicht herauszugeben. Der Case-Manager wendet sich an den Abschnitt Amtsvormundschaft. Dieser rät ihm, umgehend einen Antrag auf Einrichtung einer Vormundschaft beim Familiengericht zu stellen. Das tut der Case-Manager noch am selben Tag. Am 17. 11. 2005 wird das Jugendamt zum Amtsvormund bestellt. 21. 11. 2005 ff: Bernd Kk. ist wieder zu Hause und will sein Kind wieder haben, vermerkt der Case-Manager. Es erfolgt eine Reihe von Konsultationen durch den Case- Manager: Der Methadonarzt und der Klinikarzt der psychiatrischen Klinik plädieren für eine Übergabe an den „Vater“, der Amtsvormund hat nichts dagegen. Auch der Leiter des Sozialzentrums plädiert in diese Richtung, eingedenk, dass Bernd Kk. ja mit dem Kind zu seiner Mutter nahe Hildesheim ziehen will. Gegen die Überlassung an Bernd Kk. sprechen sich vehement das Kinderheim und der niedergelassene Kinderarzt aus. Der Case-Manager versichert sich durch ein Telefonat mit der Mutter von Bernd Kk., dass ihr Sohn mit dem Enkel am 29. 11. 2005 zu ihr kommen könne und aus Bremen abgeholt werde. Mit Zustimmung des Amtsvormunds wird Kevin am 28. 11. 2007 zum „Vater“ entlassen. 7. 12. 2005: Der Case-Manager vermerkt, dass „Vater und Sohn“ noch in Bremen sind, aber weiter am Umzug arbeiten. Bernd Kk. beantragt bei der Wirtschaftlichen Hilfe (Sozialhilfe) eine Beihilfe für Winterkleidung für Kevin und den Ersatz von Reisekosten nach Hildesheim. Der Antrag wird noch im Dezember 2005 abgelehnt, weil Bernd Kk. anspruchsberechtigt nach ALG II bei der Bagis sei. Es folgt ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen Bagis und dem Amt für Soziale Dienste, der Bernd Kk. und Kevin über längere Zeit wirtschaftlich unter Druck setzt. 20. 12. 2005: Der Case-Manager erhält von Bernd Kk. eine Weihnachtskarte vom Wohnort seiner Mutter, in der er u. a. den Wunsch äußert, dass der Ärger mit der Bagis im alten Jahr bleibe. 22. 12. 2005: Die Familienrichterin erkundigt sich bei dem Case-Manager nach der Lage in der Familie. Dieser antwortet ihr am 23. 12. 2005, dass Bernd Kk. und Kevin bei der Mutter in Hildesheim seien, und verspricht, sich bald wieder zu melden. 27. 12. 2005: Der Case-Manager erhält vom Jugendamt Hannover eine Polizeimeldung, wonach Bernd Kk. in Begleitung von Kevin sich in angetrunkenem Zustand mit Türken angelegt habe. Das Kind habe einen guten Eindruck gemacht, daher habe man es nicht in Obhut genommen. 13. 1. 2006: Der Präsident des Bremer Senats, Bürgermeister Jens Böhrnsen, wird als ehrenamtliches Mitglied des Vorstands des Heimträgers vom Leiter des Kinderheims auf den Fall Kevin aufmerksam gemacht. Grund scheint auch der für den Heimleiter kindeswohl uj 7+8 (2007) 297 besorgniserregende Rückgang von Belegungen durch die örtliche Jugendhilfe gewesen zu sein. Er informiert seinerseits die u. a. für Jugendhilfe zuständige Senatorin Karin Röpke, die den Leiter des Amtes für Soziale Dienste um Aufklärung bittet. Das löst im Amt eine Reihe von Überprüfungen und Stellungnahmen aus. Unter anderem beschäftigt sich die Innenprüfung des Amtes mit dem Fall. In ihrem Bericht vom 10. 2. 2006 weist sie u. a. auf die am 1. 2. 2005 in Kraft getretene fachliche Weisung zum Umgang mit Kindern drogenabhängiger Eltern hin und vermerkt eine Reihe von Unterlassungen in der Sachbearbeitung, vor allem die unterschiedlichen Einschätzungen der tätigen Fachleute. Es wird eine eindeutige Positionierung des Sozialzentrums Gröpelingen vorgeschlagen. Der Bericht wird mit einer Stellungnahme des Abteilungsleiters auch dem Amtsleiter vorgelegt. Auch der Amtsvormund äußert sich, u. a. gibt er in einer Vorbemerkung zu bedenken, dass Herr Kk. im Mai ein Kind und im November 2005 seine Freundin verloren habe. In dieser Situation komme die Wegnahme von Kevin einem K. o. gleich; eine Herausnahme des Kindes sei zur Zeit bei den getroffenen Vorkehrungen (Fallkonferenz vom 6. 2. 2006, siehe unten) überflüssig. Der Amtsleiter bittet auf dem Dienstweg nach unten den Leiter des Sozialzentrums um Einberufung einer Fallkonferenz, u. a. um die differierenden Einschätzungen aufzulösen, und notiert eine Wiedervorlage für den 24. 2. 2006. Am 22. 2. 2006 unterrichtet er die Senatorin, u. a. unter Beifügung des Berichts des Heimleiters, der Innenprüfung und seines Abteilungsleiters „Junge Menschen“. Fazit: Der Fall werde aufmerksam verfolgt, eine Fallkonferenz zur Klärung und Vervollständigung der Hilfen sei anberaumt. Die Senatorin informiert ihrerseits den Bürgermeister in diesem Sinne. 20. 1. 2006: Der Case-Manager informiert die Familienrichterin auf deren Mahnung, dass Bernd Kk. mit dem Kind mehrere Wochen bei seiner Mutter gewesen sei und auch dorthin ziehen wolle. Die Richterin antwortet prompt und warnt vor Täuschungen von Drogenabhängigen, auf die Urinkontrollen könne man gerade bei dem bekannten Methadonarzt nicht bauen. Sie bittet den Case-Manager eindringlich, ein Auge auf Bernd Kk. zu haben. 6. 2. 2006: Fallkonferenz, anwesend sind Case-Manager, Amtsvormund, Methadonarzt, Bernd Kk. Letzterer will nun doch nicht zu seiner Mutter ziehen. Eine Lösung in Bremen soll eine Tagespflegestelle bringen. Bernd Kk. nimmt an einer Trauergruppe teil. Außerdem wird eine Vater- Kind-Kur angestrebt. Der Case-Manager vermittelt eine Tagesmutter, eine Syrerin. Bernd Kk. lehnt eine „Türkin“ ab, will aber dennoch in Kontakt mit ihr bleiben. 6. 3. 2006: Fallkonferenz auf Veranlassung des Amtsleiters, drei Wochen nach dessen Anweisung. Anwesend sind Case- Manager, Sozialzentrumsleiter, Stadtteilleiterin Jugendhilfe, Amtsvormund, AfSD- Referatsleiter Erziehungshilfe, Methadonarzt, Bernd Kk. ohne Kevin: Kevin soll in Tagespflege, auch damit er unter Kindern ist. Die Tagespflege soll aufmerksam beobachtet werden, vorgeschlagen wird die Vorstellung Kevins im (sozialpädiatrischen) Kinderzentrum. Alle halten das für eine geeignete Lösung, „Vater und Sohn eine gemeinsame Zukunft zu ermöglichen“. 14. 3. 2006: Die Tagesmutter berichtet dem Case-Manager, dass Kevin nur dreimal zu ihr gebracht worden sei. Es gäbe auch Probleme mit der Kostenübernahme im Amt für Soziale Dienste. Zur Zeit kümmere sich die Schwester der verstorbenen Mutter um Kevin. Es wird eine andere Tagespflegestelle „angedacht“, die aber zu der Zeit nicht sofort zur Verfügung steht. Der 298 uj 7+8 (2007) kindeswohl Case-Manager bittet den Methadonarzt um nähere Aufklärung und Unterstützung und informiert den Amtsvormund. 21. 3. 2006: Der Case-Manager berichtet dem Amtsvormund von einem Bericht der Tagesmutter, die einen Verband an Kevins Fuß und blaue Flecke am Körper festgestellt hat. In einem Telefonat des Case-Managers mit Bernd Kk. erklärt dieser aufgebracht, dass Kevin sich beim Toben den Fuß verletzt habe, und lehnt eine weitere Betreuung durch die Tagesmutter ab. Er will seinen Anwalt einschalten. Später ruft Bernd Kk. kleinlaut beim Case-Manager an, entschuldigt sich, lehnt aber die Tagesmutter weiterhin ab. Der Case-Manager weist ihn auf die Absprachen hin und trägt ihm auf, Kevin beim Kinderarzt und im Kinderzentrum vorzustellen. Der Case-Manager will sich weiter um eine Kindergruppe kümmern. Schlussbemerkung: „Ich glaube, wir müssen in der Sache Kk. weiter sehr aufmerksam sein.“ In der Folge ergeben die Unterlagen nicht, ob die Vorgaben an Bernd Kk. umgesetzt worden sind. Am 23. 3. 2006 berichtet der Case-Manager dem Amtsvormund, dass Bernd Kk. „angeblich“ Kontakt zu den „Frühen Hilfen“ aufgenommen habe, wo das Kind zehn Stunden pro Woche (! ) betreut werden könne. 6. 4. 2006: Der Sozialzentrumsleiter berichtet dem Amtsleiter über die am 8. 3. geplanten, teilweise misslungenen Lösungsversuche. Eine neue Fallkonferenz (12. 4. 2006) soll stattfinden, wird aber kurzfristig vom Methadonarzt abgesagt (wegen Urlaub). Kevin ist im Kinderzentrum angemeldet - Wartezeit drei Monate -, der Methadonarzt will sich aber weiter kümmern. 20. 4. 2006: Fallkonferenz, anwesend sind Case-Manager, Amtsvormund, Sachgebietsleiterin, Bernd Kk. mit Kevin. Ergebnis: Kevin nimmt dreimal pro Woche an einem sozialpädagogischen Spielkreis der „Lebenshilfe“ teil, erhält außerdem Krankengymnastik bei den „Frühen Hilfen“; die Anmeldung beim Kinderzentrum läuft. Bernd Kk. nimmt an einer Trauergruppe teil und ist auf der Suche nach einer anderen Wohnung. 25. 4. 2006: Der Case-Manager erfährt vom Kinderarzt des Gesundheitsamtes, dass Bernd Kk. mehrfach Termine nicht eingehalten bzw. abgesagt habe. 26. 4. 2006: Das Sozialzentrum berichtet dem Amtsleiter, was die Fallkonferenz vom 20. 4. 2006 ergeben hat. Der Hinweis des Kinder(amts)arztes fließt nicht ein. Hausbesuche hätten eine ordentliche Wohnung gezeigt. Bernd Kk. habe eine hilfsbereite Nachbarin und neuerdings Kontakt zu einer jungen Frau (ebenfalls substituiert) mit Tochter. Der Amtsvormund verfolge weitere Untersuchungen von Bernd Kk. auf Beigebrauch. Bernd Kk. habe die Förderung bei den „Frühen Hilfen“ usw. selbst initiiert. Fazit: „Das Leben der beiden nimmt allmählich normalere Züge an.“ Über Kontrollen zu den angesprochenen verschiedenen Maßnahmen findet sich in der Akte nichts. 7. 6. 2006: Der Amtsvormund vermerkt, dass Bernd Kk. auch den dritten Termin beim Gesundheitsamt versäumt habe. Der Amtsarzt will keinen neuen Termin anberaumen. Der Platz im Spielkreis für Kevin sei unter diesen Umständen nicht zu halten. Der Amtsvormund vermerkt gegenüber Case-Manager und Sozialzentrumsleiter, dass nun die Grenze überschritten sei, und bittet um ein neues Gespräch. Das wird erschwert, weil die Behörde gerade umzieht und durch einen schon seit Dezember 2005 schwelenden negativen Kompetenzkonflikt zwischen Bagis und Sozialzentrum um die wirtschaftliche Sicherung von Bernd Kk. und Kevin. Hier wird letztlich die Bagis für zuständig erklärt. 28. 6. 2006: Die Sachgebietsleiterin aus dem Sozialzentrum berichtet dem Amtsleiter - in Kopie an den Case-Manager - von den Problemen, den wirtschaftlichen Lekindeswohl uj 7+8 (2007) 299 bensunterhalt der Familie zu sichern, und klagt über die andere Behörde (Bagis). Bernd Kk. soll weiter Familienpate - eine in Bremen eingeführte Form ehrenamtlicher Hilfe für Familien - für Kevin werden, auch wenn er drogenkrank sei. Kevin nehme an den „Frühen Hilfen“ teil, der Haus-Kinderarzt habe Kontakt. Der Amtsvormund sehe keinen weiteren Besprechungsbedarf. Sie gibt der Hoffnung Ausdruck, dass sie den Amtsleiter mit diesem Bericht beruhigen könne. Fakt ist andererseits: Die „Frühen Hilfen“ haben noch nicht begonnen, Kevin hat auch den Spielkreis noch nicht erreicht. Am 7. 7. 2006 findet eine Mitarbeiterin der „Frühen Hilfen“ einen Zettel an der Wohnungstür, dass Bernd Kk. verreist sei wegen eines „Unfalls im Verwandtenkreis“. 11. 7. 2006: Der Case-Manager wendet sich an Bernd Kk. und erklärt, dass die Kostenübernahme klar und der Platz für Kevin bei den „Frühen Hilfen“ nach den Sommerferien frei sei. 18. 7. 2006: Der Case-Manager unterrichtet den Amtsleiter: Die finanzielle Lage sei geklärt, der „Vater“ mache einen ausgeglichenen Eindruck, er habe Kontakt zum Methadonarzt, die Lage „den Umständen entsprechend zufriedenstellend“. 31. 7. 2006: Die „Frühen Hilfen“ berichten, dass es mehrfach nicht gelungen sei, zu Bernd Kk. bzw. Kevin Kontakt aufzunehmen. Man mache sich Sorgen wegen Kevin; am 24. 3. 2006 habe man ihn zuletzt gesehen. Der Case-Manager antwortet, dass es mit dem „Vater“ nicht so einfach sei. Alle Zuständigen im Amt seien aber im Bilde, auch bestehe ständig Kontakt zu dem Methadonarzt, der das Kind regelmäßig sehe. Bernd Kk. habe gerade angerufen, dass er mit Kevin auf dem Wege zu seiner Mutter sei, der Stiefvater sei verstorben. 4. 8. 2006: Bericht der Sachgebietsleiterin an den Amtsleiter: Alles sei im Wesentlichen in Ordnung. 7. 8. 2006: Die „Frühen Hilfen“ teilen mit, dass Bernd Kk. alle Termine abgesagt habe. Eine Förderung könne nicht erfolgen, man sei aber offen für einen neuen Anlauf. Das Sozialzentrum hebt den Bescheid über die „Frühen Hilfen“ auf. 21. 8. 2006: Die Familienrichterin erkundigt sich nach dem Wohl des Kindes. Der Case-Manager antwortet, dass Kevin weiter bei Bernd Kk. wohne, regelmäßiger Kontakt bestehe, der Amtsvormund informiert und auch der Methadonarzt eingebunden sei. Bernd Kk. sei gerade bei seiner Mutter und denke erneut über einen Ortswechsel nach. Die Familienrichterin mailt umgehend zurück und erwähnt erneut ihre schlechten Erfahrungen mit dem Methadonarzt. Der Case-Manager bedankt sich und verabschiedet sich in den Urlaub. 5.9.2006 ff: Der Amtsvormund versucht mehrfach, Bernd Kk. zu Hause anzutreffen. Vor einer Fallkonferenz am 7. 9. 2006 sagt Bernd Kk. kurzfristig ab. Ein Anruf bei Bernd Kk.s Mutter ergibt, dass ihr Mann lebt und sie ihren Sohn seit Weihnachten nicht gesehen hat, alles in Richtung Besuche dort und Umzug also gelogen gewesen ist. Der Amtsvormund berichtet das der Familienrichterin. Sie versucht eine Anhörung von Bernd Kk., dieser kommt aber nicht. Am 2. 10. 2006 erfolgt dann ein Herausgabebeschluss. Für Kevin ist eine Pflegestelle vorbereitet. Am 10. 10. 2006 versucht die Sachgebietsleiterin (in Vertretung des erkrankten Case-Managers) mit Gerichtsvollzieherin und Polizei, Kevin aus der Wohnung zu holen. Sie finden seinen Leichnam im Kühlschrank. Sachverständige vermuten, dass das Kind schon vor Monaten zu Tode gekommen ist. Bernd Kk. wird festgenommen, sitzt seitdem in U-Haft und verweigert die Aussage. Der Amtsleiter beantragt ein Disziplinarverfahren gegen sich und wird vom Dienst beurlaubt. Senatorin Röpke tritt von ihrem Amt als Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales zurück. 300 uj 7+8 (2007) kindeswohl Warum Kevin nicht zu seinem Wohl gekommen ist und was man daraus lernen muss Der Case-Manager Die Fallschilderung zeigt einen langjährigen Sachbearbeiter/ Sozialarbeiter, dem in diesem Fall jegliche Orientierung an fachlichen Standards abhanden gekommen zu sein scheint. Sein Vorgehen ist unsystematisch, ohne Methode, sprunghaft, inkonsequent, in seinen Wahrnehmungen und Bewertungen oberflächlich und unkritisch. So fehlt z. B. am Beginn des Falles eine ordentliche Darstellung des Problemhintergrundes, geschweige denn dass eine Analyse der Verhältnisse zusammen mit anderen Fachkräften zur Grundlage einer tragfähigen Hilfeplanung im Sinne von § 36 SGB VIII gemacht worden wäre. Und spätestens mit Einführung des § 8 a SGB VIII im Oktober 2005 wäre ein gemeinsames und systematisches Verfahren, beginnend mit der Prüfung „gewichtiger Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdung“, in die Wege zu leiten gewesen. Wäre eine solche Darstellung gemacht worden, hätten in der Rückschau zumindest ab Herbst 2005 alle gängigen Arbeitshilfen (wie etwa Indikatorenlisten für Kindeswohlgefährdung) zu § 8 a SGB VIII für eine Inobhutnahme des Kindes gesprochen. Aber auch schon zu Beginn des Jahres 2004 nach der Entlassung der Mutter aus der Geburtsklinik gab es das staatliche Wächteramt und die Verantwortung der öffentlichen Jugendhilfe zur Wahrung des Kindeswohls. Und wenn schon nicht zu dieser Zeit eine Inobhutnahme hätte erfolgen müssen, so spätestens nach dem Polizeibericht von August 2004 oder nach dem Bericht der Kinderklinik von Oktober 2004. Und so weiter. Für einen Sachbearbeiter zur Sicherung des Kindeswohls in leitender Einzelfallverantwortung - was den Begriff des Case-Managers charakterisiert - erscheint es vor allem unverständlich, in welchem Umfang und dazu noch ausschlaggebend für ihn das Wohl anderer Menschen war, wenngleich von Mutter und (angeblichem) Vater des Kindes. Auch wenn mit deren Stabilisierung auch das Wohlergehen des Kindes hätte gefördert werden können, so zeigen sich doch quer durch den Fallverlauf zu dieser Variante fast ausnahmslos unbegründete Hoffnungen, ausgelöst von den suchtkranken Eltern in höchst unsicheren Lebensverhältnissen und ihren parteiischen BeraterInnen - Annahmen, die sich in der Regel unmittelbar danach in Luft auflösen. An Stelle eines Kurswechsels entsteht jedoch erneut eine vage Hoffnungsperspektive. Durchgängig ist eine Einzelfallhilfeplanung und deren systematische Fortschreibung zu vermissen. Auffällig sind die langen dokumentierten Zeiträume des Nichthandelns trotz höchster Gefahr. Und nicht zuletzt fällt auf, dass hier ein Sozialarbeiter tätig war, der die in der Tat reichlich vorhandenen unterschiedlichen Sichtweisen sektoraler Fachleute und die damit verbundenen Konflikte gescheut und sie jedenfalls nicht zum Wohle des Kindes durchgehalten und konstruktiv einer Lösung zugeführt hat. Dass das alles andere als eine leichte Übung war, soll nicht unterschlagen werden. Der Fall zeigt, dass es nicht ausreicht, SachbearbeiterInnen ein durchaus brauchbares aktuelles Regelwerk an Dienstanweisungen, z. B. auch zum Verhalten bei Kindern von drogenabhängigen Eltern, an die Hand zu geben. Dienstanweisungen gehören zur Sicherung der Strukturqualität einer Hilfeleistung. Zu einer gesicherten Verlaufsqualität gehört es, ihre Gültigkeit am praktischen Fall zu messen und ggf. fortzuschreiben. Dieses ist in erster Linie eine Aufgabe der Fachaufsicht. kindeswohl uj 7+8 (2007) 301 Der Amtsvormund Er ist Ende 2005 nach dem Tod von Kevins Mutter auf den Plan getreten. Erst zu diesem Zeitpunkt war aufgefallen, dass die Mutter in der Geburtsurkunde keinen Vater angegeben hatte. Eine Vaterschaftsfeststellungsklage unterblieb. Diese Fehlleistung führte bei dem Case-Manager zur Annahme eines mutmaßlichen Elternrechts von Bernd Kk., und sie wurde somit zur Grundlage einer maßlosen Überschätzung dieses angeblichen Rechts in der Abwägung mit dem Kindeswohl. Auffällig ist auf den ersten Blick die prekäre Organisation einer zentralen Amtsvormundschaft mit drei SachbearbeiterInnen und eigenen 620 Fällen, denkt man an die anspruchsvollen Anforderungen in §§ 53ff SGB VIII. Eine solche Konstruktion mag allenfalls dann hinreichen, wenn der Amtsvormund sich auf die nötigsten rechtlichen und verwaltungsmäßigen Dinge konzentriert und das Wohl eines Kindes objektiv gut bei einem Case-Manager und seinem Umfeld aufgehoben ist. Dazu gehört eine ordentliche Kommunikation zwischen beiden. Will man Case-Manager und Amtsvormund weiter trennen, wird man im Zweifel beide Funktionen bei den Arbeitsbedingungen so ausstatten müssen, dass jede Funktion für sich den Anforderungen des Gesetzes zum Kindeswohl gerecht werden kann. Der Fall Kevin zeigt, wie verhängnisvoll es ist, wenn an allen Stellen die Voraussetzungen fehlen. Die Fachaufsicht Aus den Unterlagen ergeben sich keine nachhaltig korrigierenden Handlungen der für Kinder und Jugendliche zuständigen Leiterin der Stadtteilgruppe oder anderer Aufsichtsinstanzen. Bei den wöchentlichen Fallkonferenzen sind die Fehlleistungen des Case-Managers nicht aufgefallen. Die Vorgabe in der Dienstanweisung „Erziehungshilfe“, dass neue und problematische Fälle vorzutragen sind, wurde vom Case-Manager und von der Vorgesetzten wie von den anderen Case-ManagerInnen nicht als Mangel entdeckt. Die Situation in der Stadtteilgruppe deutet auf einen gewissen fachlichen Autismus zumindest dieses Case- Managers hin, selbst da, wo z. B. durch § 36 SGB VIII und später auch durch § 8 a SGB VIII eine differenzierte Kooperation vorgegeben war. Der Fall zeigt, dass derartige Regelungen nicht hinreichen, sondern ergänzt werden müssen durch prüfende Stichproben - auch in Bremen vorgeschrieben - und z. B. die Verpflichtung aller SachbearbeiterInnen, regelmäßig auch fehlgeschlagene Fallentwicklungen zum Gegenstand einer Fachdiskussion in der Wochenkonferenz zu machen. Auch dem Leiter des Sozialzentrums hätte auffallen müssen, dass der Fall Anlass zur gründlichen fachlichen Überprüfung bot. Spätestens nachdem die Senatorin und der Amtsleiter Anfang 2006 um Überprüfung gebeten hatten, hätte auch ihm z. B. aufgrund der unordentlichen Aktenführung auffallen müssen, dass die normale Vertrauensgrundlage in fachliches Handeln an der Basis entfallen war. Ähnliches gilt auch für den stadtübergreifenden Abteilungsleiter. Der Fall zeigt, dass die fachliche Qualität von Kindeswohlsicherung - Struktur-, Verlaufs- und Ergebnisqualität - an der Basis der Dienstleistung gesichert werden muss. Das ist in Bremen die „Stadtteilgruppe Jugendhilfe“. Und hier reicht eine Leitung der Stadtteilgruppe mit der derzeitigen breiten Aufgabenspanne in keiner Weise aus, wie man überhaupt den Eindruck gewinnt, dass Leitungsaufgaben zumindest im Sozialzentrum eher technisch verstanden und kaum unter fachlichen Ansprüchen gehandhabt wurden. Ein solches Leitungsverständnis ist fachlich nicht zu verant- 302 uj 7+8 (2007) kindeswohl worten. Grund dafür mag sein, dass nicht nur in Bremen Kontrollen von Vorgesetzten gegenüber sozialpädagogischen Fachkräften an der Basis als „unanständig“ gelten. Der Fall zeigt, dass bei allem grundsätzlichen Vertrauen zumindest Stichproben nötig sind, die das Vertrauen zeitnah rechtfertigen können. Art und Umfang solcher Kontrollen können zwischen Vorgesetzten und MitarbeiterInnen ausgehandelt werden. Unbedingt nötig erscheint ferner die zusätzliche Möglichkeit zu regelmäßiger (externer) Supervision oder/ und interner Fachberatung der Case-ManagerInnen. Zur Qualitätssicherung gehört zudem in jedem Fall eine laufende, auch verpflichtende Fortbildung. Wenn man die profunden „Fachlichen Weisungen“ in Bremen betrachtet, hat das Problem - um ein Bild zu gebrauchen - nicht im Drehbuch gelegen, sondern in den Proben und den AkteurInnen der Aufführung. Kevins Case-Manager hätte zur Fortbildung verpflichtet oder aus der Aufgabe herausgenommen werden müssen. So hat die Verwahrlosung des Sachbearbeiters nicht nur die Verwahrlosung des Kindes nach sich gezogen. Erziehungshilfe als verantwortungsentlastende Arbeitsteilung Im Fall Kevin sind etwa 25 verschiedene Institutionen und Dienste mit einer nicht genau zu ermittelnden Zahl von Fachleuten tätig geworden: im Amt für Soziale Dienste, in der Bagis, in verschiedenen öffentlichen und privaten Diensten/ Einrichtungen im Gesundheitsbereich, im Suchtbereich (z. B. der Methadonarzt), in verschiedenen familiennahen Diensten freier Träger und nicht zuletzt im Bereich von Polizei, Staatsanwaltschaft und Familiengericht. An einer geordneten durchgehenden systematischen Zusammenarbeit hat es im Allgemeinen gefehlt. Hier handelt es sich um einen Organisationsmangel. Eine seit 2005 durch § 8 a Abs. 2 SGB VIII geforderte Vereinbarung zur Zusammenarbeit der vorhandenen und möglicherweise noch anzureichernden Vielfalt an Fachkräften, Maßnahmen und Angeboten zur Gewährleistung von Kindeswohl befindet sich in Bremen noch in der Trägerabstimmung. Zur Erkenntnis der Notwendigkeit solcher Vereinbarungen bedurfte es eigentlich nicht erst eines Gesetzes. Sie ergibt sich schon aus der Natur der Sache, wenn man die Diversifizierung der Erziehungshilfe so weit treibt und dabei Verlagerungen von (öffentlichen) Aufgaben wie z. B. Hausbesuchen oder familienstützenden Funktionen vornimmt. Eine solche Struktur unterliegt zumindest schleichend einer horizontalen wie vertikalen verantwortungsentlastenden und dann auch gewissensentlastenden Arbeitsteilung. Das zeigen auch die Einlassungen der ZeugInnen vor dem Untersuchungsausschuss: Alle haben im Grunde das Ihre getan und sind davon ausgegangen, dass andere „den Rest“ erledigen würden. Selbstkritische Töne sind selten. Die in der Tat widrigen Umstände und die Strukturen werden zur Entlastung herangezogen. Kevins Case-Manager hat bisher öffentlich geschwiegen. Die Frage wird sein, wie hoch das Maß der Überforderung für seine Funktion und die aller anderen Case-ManagerInnen in Bremen am Ende einzuschätzen ist. Denn ihm war im „Drehbuch der Kindeswohlsicherung“ die tragende und verantwortlich entscheidende Rolle zugeschrieben, sein Heil bzw. Kevins Wohl in der komplexen Vielfalt der Hilfeanbieter zu suchen und durchzusetzen. Seine Aufgabe war es, unter all den Dienstanweisungen, Stellungnahmen, Ratschlägen, Vorhaltungen und Einflüsterungen der ihn umgebenden (sektoralen) ExpertInnen, zumal aus dem Drogenhilfebereich, seinen Weg zu finden. Man ist fast versucht, an „gute alte Zeiten“ zu denken, als eine Familienfürsorkindeswohl uj 7+8 (2007) 303 gerin aus einer Hand, gestützt von einem Amtsvormund und der wirtschaftlichen Jugendhilfe, mit begrenzten Mitteln und Wirkungen das damals Mögliche tat. In dieser Zeit war Fallmanagement nicht nötig, weil die Verhältnisse klar und überschaubar waren. Doch die Verhältnisse sind heute nicht mehr so. Die Jugendhilfe ist allein schon vom Gesetz her in die Breite geraten nach dem Motto: für jede denkbare Hilfeform ein Paragraf und möglichst noch eine eigene Organisationseinheit im Jugendamt oder in freier Trägerschaft. Netzerweiterung ist Trumpf. Freie Träger sollen weitgehend Vorfahrt haben. Finanziell schwache öffentliche Jugendhilfeträger unterliegen zudem der Verlockung der Ausgliederung von Diensten, in der Erwartung von Kosteneinsparungen. Die Frage, was all das für Kinder und ihre Familien wirklich nachhaltig bringt, wird selten gestellt, noch seltener beantwortet. Auch an dieser Stelle kann das nicht geschehen. Immerhin sei die These gewagt, dass es an der Zeit ist, die verantwortungs- und gewissensentlastende Komplexität und Vielfalt der Dienstleistungen (im Kontext des Schutzauftrages gemäß § 8 a SGB VIII) zu reduzieren nach dem Motto: mehr kompakte Hilfe durch weniger Beteiligte, z. B. indem ein freier Träger für einen Stadtteil alle gängigen Hilfen für Familien mit Kindern übernimmt. Zumal in einer Großstadt sollte es möglich sein, dass zwischen Jugendamt und freien Trägern ausgehandelt wird, wer was wo wie macht, und zwar ordentlich nach den Regeln der Kunst und mit einem auskömmlichen Budget. Bliebe hinzuzufügen, dass Bremen zunächst der gegebenen Vielfalt und Komplexität noch „einen drauf“ gesetzt hat, indem ein Nottelefon und ein allzeit erreichbarer Krisendienst für Kindeswohlgefährdung neu eingerichtet wurden. Als Erste- Hilfe-Maßnahme mag das angehen. Eine tragfähige langfristige Lösung wird daraus erst, wenn das komplizierte Hinterland neu geordnet ist. Zur Bremer Ehrenrettung sei ergänzt, dass der Fall Kevin keineswegs typisch für die Jugendhilfe in Bremen ist. Eine Adhoc-Untersuchung (Hausbesuche und ergänzende Befragungen von Kindergärten usw.) in rund 1000 Fällen von prekären Familiensituationen und potenziellen Kindeswohlgefährdungen hat keinen weiteren Handlungsbedarf im Einzelfall ergeben. Das ändert nichts an der Notwendigkeit zu strukturellen Veränderungen z. B. bei der Fachaufsicht. Kindeswohl versus Geld Besonders in den Stellungnahmen von Personalräten und Gewerkschaften ist auf den fiskalischen und organisatorischen Druck, unter dem die Fallhandelnden stehen, hingewiesen worden. Nicht dargetan ist allerdings, dass fiskalischer Druck zu dem tragischen Ergebnis geführt hat. Wer sich die Mühe macht, den Fallverlauf nachzuzeichnen, wird eher zu dem Ergebnis kommen, dass durch unfachliches, unabgestimmtes Handeln ohne Nutzen viel Geld ausgegeben wurde. Man denke nur an die Entziehungskuren der „Eltern“, die vermeidbaren Krankenhausbehandlungen, und selbst der kostenträchtige Heimaufenthalt des Kindes wäre vermeidbar gewesen. Wenn nun - nicht nur in Bremen - im politischen Raum deklamiert wird, das Kindeswohl dürfe nicht am Geld scheitern, so erscheint das so richtig wie fadenscheinig. Richtig, weil das Kindeswohl schon von Rechts wegen nicht an Budgets seine Grenze finden darf. Fadenscheinig, weil so getan wird, als spiele Geld beim Schutz und bei der Förderung von Kindern keine Rolle. Ansprüche auf Erziehungshilfe nach den §§ 2 7ff SGB VIII sind Ansprüche dem 304 uj 7+8 (2007) kindeswohl Grunde nach. Auch die Garantenstellung des Jugendamtes nach § 1 SGB VIII gebietet nicht alles Mögliche. Durch fachliche Beurteilung und fachliches Ermessen ist zu ermitteln, welche Maßnahme notwendig ist und am geeignetsten, weil sie am wirkungsvollsten zu sein verspricht. Und in diesem Zusammenhang spielen spätestens nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch wirtschaftliche Gesichtspunkte eine Rolle (vgl. dazu z. B. Wiesner, SGB VIII, Rd. Nr. 61f). Eine sparsame Mittelverwendung ist also überall und nicht nur in Bremen geboten und alles andere als anstößig. Das Problem, besser die Lösung, steckt vielmehr in einer qualitätsgesicherten Erziehungshilfe, für die die beteiligten Fachkräfte entschieden mit guten Argumenten eintreten und Verantwortung übernehmen können. Kein Rechnungshof wird ihnen dann Vorwürfe machen können. Nicht nur in Bremen wird man dazu mit sehr langem Atem und intensiv in das „Humankapital“ der sozialen Dienste investieren müssen. Kevins Tod muss nicht nur in Bremen eine Warnung bleiben! Literatur/ verwendetes Material Mäurer, U., 2006: Dokumentation über Abläufe und Zusammenhänge im Todesfall Kevin K. Veröffentlichung des Senators für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen. Bremen Revisionsbericht 13/ 2006 des Senators für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales der Freien Hansestadt Bremen, nicht veröffentlicht Amt für Soziale Dienste Bremen, 2005ff: Handbuch der Hilfen zur Erziehung - Leitfaden zur Qualitätsentwicklung, nicht veröffentlicht Wiesner, R. (Hrsg.), 3 2006: SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe. München Der Autor Dr. Hans-Christoph Hoppensack Herzberger Straße 24 28205 Bremen christoph.h@nord-com.net kindeswohl uj 7+8 (2007) 305 2007. 182 Seiten. 3 Tab. Mit 62 Übersichten, 14 Fallbeispielen und Musterlösungen UTB-S (978-3-8252-2878-1) kt € [D] 14,90 | € [A] 15,40 | SFr 26,30 Der „Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit“ gibt einen Überblick über die rechtlichen Regelungen im SGB VIII, die Leistungen und anderen Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe sowie über deren Trägerstrukturen und Behörden. Behandelt werden die vielfältigen Hilfs- und Förderangebote, u. a. Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit, KiTas, Hilfen zur Erziehung, Beratungsdienste und Schutzaufgaben zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen. Die zahlreichen Übersichten fassen Inhalte prägnant zusammen, anhand von Fallbeispielen und Prüfungsfragen kann das Wissen geübt und vertieft werden. So lässt sich die Klausur spielend meistern! a www.reinhardt-verlag.de
