eJournals unsere jugend 59/7+8

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2007
597+8

Persönliche Eignung zur Beschäftigung in der Kinder- und Jugendhilfe: §72a SGBVIII

71
2007
Roland Merten
Weitestgehend undiskutiert ist die Einführung des §72a SGBVIII im Zuge des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) verlaufen. Obwohl hier mit der ganz einsichtig und harmlos klingenden Formulierung „Persönliche Eignung“ ein wichtiger Sachverhalt angesprochen ist, hat es bisher kaum eine Auseinandersetzung mit den weitreichenden Folgen dieser besonderen Gesetzesnovelle gegeben. Hier soll dies in einem ersten Schritt erfolgen.
4_059_2007_7+8_0322
Eine Vorgeschichte Im letzten Sommer ist im SPIEGEL ein Beitrag erschienen, der Irritation hinterlassen hat. Dort wird der Fall eines jungen Deutschen geschildert, der 1972 seine Verlobte, auf die er kurz zuvor eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte, am Tag der Hochzeit in Edinburgh von einem Felsen gestürzt hat, um an die Versicherungssumme (rd. 3,5 Millionen Euro) heranzukommen. Dieser Mann ist wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Diese Strafe hat er 16 Jahre lang abgesessen. Im Verlaufe seiner Haftzeit hat er sich jedoch vollständig gewandelt und „… nicht nur Maler und Dekorateur gelernt, sondern auch, als Freigänger, ein komplettes Theologiestudium absolviert. Die University of Edinburgh verleiht dem verurteilten Mörder die ‚Licentiate of Theology‘, die akademische Voraussetzung für den Pfarrerberuf - ein wohl einmaliger Fall. Professoren raten dem Theologen, der hinter Gittern auch Griechisch und Hebräisch gelernt hat, dringend zur Promotion“ (Schrep 2006, 43f). Die Hannoveraner Zentrale der Evangelischen Kirche in Deutschland, bei der er sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland beworben hat, war erwartungsgemäß von der Bewerbung nicht angetan, nicht zuletzt weil man der Meinung war, dass ein wegen Mordes Verurteilter (trotz verbüßter Strafe) keiner Gemeinde als Pfarrer zuzumuten sei. „Bernhard D. wird zunächst als Leiter eines Jugendheims in Niedersachsen eingesetzt, kurz darauf, nach einer Zusatzausbildung, als Betreuer von Behinderten“ (ebd., 44). Und damit ist der Kreis zum § 72 a SGB VIII geschlossen - in einer nachgerade bizarren Form: Ein verurteilter Mörder ist zwar keiner Kirchengemeinde zuzumuten, als Leiter eines Jugendheims bzw. Betreuer für Behinderte aber tragbar! ? Um das Ende des Berichtes vorwegzunehmen: Der Mann ist später als Pfarrer eingesetzt worden, er hat geheiratet (die Frau wusste um seine Vergangenheit), und er hat 322 uj 7+8 (2007) kindeswohl Unsere Jugend, 59. Jg., S. 322 - 330 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Persönliche Eignung zur Beschäftigung in der Kinder- und Jugendhilfe: § 72 a SGB VIII 1 Roland Merten Weitestgehend undiskutiert ist die Einführung des § 72 a SGB VIII im Zuge des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) verlaufen. Obwohl hier mit der ganz einsichtig und harmlos klingenden Formulierung „Persönliche Eignung“ ein wichtiger Sachverhalt angesprochen ist, hat es bisher kaum eine Auseinandersetzung mit den weitreichenden Folgen dieser besonderen Gesetzesnovelle gegeben. Hier soll dies in einem ersten Schritt erfolgen. 1 Es handelt sich bei vorliegendem Beitrag um einen gekürzten Auszug aus einem Buch des Autors, das in Bälde erscheinen wird. eigene Kinder. Er arbeitet heute immer noch als Pfarrer. Damit ist das Thema jedoch nicht beendet. Nachdem seine Vergangenheit öffentlich bekannt wurde, ist - wie nicht anders zu erwarten - eine heftige Debatte um die Geeignetheit dieses Mannes für ein solches kirchliches Amt entbrannt. Hier soll nicht entschieden werden, ob die Entscheidung, diesen Mann im Kirchendienst zu beschäftigen, richtig war und ist, der Fall macht vielmehr deutlich, dass trotz verbüßter Straftat Zweifel bleiben … Persönliche Eignung Wer mit Kindern und Jugendlichen beruflich zusammenarbeitet, an den werden - mit guten Gründen - erhöhte Anforderungen gestellt. Welche Anforderungen das konkret sind, ist dem § 72 SGB VIII zu entnehmen. Dort heißt es: „Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen bei den Jugendämtern nur Personen beschäftigen, die sich für die jeweilige Aufgabe nach ihrer Persönlichkeit eignen und eine dieser Aufgabe entsprechende Ausbildung erhalten haben (Fachkräfte) oder aufgrund besonderer Erfahrungen in der sozialen Arbeit in der Lage sind, die Aufgaben zu erfüllen.“ Hier ergibt sich also ein Dreischritt: Erstens „geeignete Persönlichkeit“, zweitens „entsprechende Ausbildung“ und drittens „besondere Erfahrungen“. Diese Formulierung stammt bereits aus dem Jahr 1961, als das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) novelliert und der Begriff der Fachkraft eingeführt worden ist. So problematisch die Reihenfolge „Persönlichkeit - Ausbildung - Erfahrung“ damals schon war (vgl. Pfaffenberger 1962), so merkwürdig mutet sie heute an. Nun geht es an dieser Stelle jedoch nicht um das Zweifelhafte, dass offensichtlich die Persönlichkeit immer noch stärker gewichtet wird als die Qualifikation, sondern um das Problem, wie man denn die „geeignete Persönlichkeit“ so bestimmt, dass man Entscheidungen für oder gegen einen Mitarbeiter auch sachlich begründen kann. Dies ist ganz offensichtlich sehr schwer, ja letztlich unmöglich. Da das Problem sich nicht ohne Weiteres auflösen lässt, hat der Gesetzgeber im vorletzten Jahr den umgekehrten Weg beschritten und bestimmt, wer definitiv nicht geeignet ist, um im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe (weiter-)beschäftigt zu werden. KICK und § 72 a SGB VIII Mit der Verabschiedung des sog. KICK (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz) ist im Jahr 2005 der § 72 a in das SGB VIII eingeführt worden. Er spezifiziert negativ, was mit „persönlicher Eignung“ im Zusammenhang mit Beschäftigten in der Kinder- und Jugendhilfe gemeint ist, d. h. welcher Personenkreis nicht in diesem Feld arbeiten soll („Negative Konkretisierung der persönlichen Eignung“ [Münder u. a. 2006, § 72 Rz 15]). Anhand eines eindeutigen Katalogs wird diese Bestimmung nunmehr geliefert. Ausgeschlossen von einer (Weiter-)Beschäftigung in diesem Bereich sind Personen, die rechtskräftig wegen folgender Delikte verurteilt sind: kindeswohl uj 7+8 (2007) 323 Prof. Dr. Roland Merten Jg. 1960; Dipl.-Sozialarbeiter, Lehrstuhl für Sozialpädagogik und außerschulische Bildung an der Universität Jena • Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht (§ 171 StGB), • Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB), • Sexueller Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen (§ 174 a StGB), • Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung (§ 174 b StGB), • Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses (§ 174 c StGB), • Sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB), • Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 a StGB), • Sexueller Missbrauch von Kindern mit Todesfolge (§ 176 b StGB), • Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung (§ 177 StGB), • Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung mit Todesfolge (§ 178 StGB), • Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen (§ 179 StGB), • Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§ 180 StGB), • Ausbeutung von Prostituierten (§ 180 a StGB), • Zuhälterei (§ 181 a StGB), • Sexueller Missbrauch von Jugendlichen (§ 182 StGB), • Exhibitionistische Handlungen (§ 183 StGB), • Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183 a StGB), • Verbreitung pornografischer Schriften (§ 184 StGB), • Verbreitung gewalt- oder tierpornografischer Schriften (§ 184 a StGB), • Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Schriften (§ 184 b StGB), • Verbreitung pornografischer Darbietungen durch Rundfunk, Medien- oder Teledienste (§ 184 c StGB), • Ausübung der verbotenen Prostitution (§ 184 d StGB), • Jugendgefährdende Prostitution (§ 184 e StGB), • Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB). Diese Liste ist beachtlich und unter Gesichtspunkten des Kinder- und Jugendschutzes ohne Weiteres nachvollziehbar. Indes haben Negativlisten den Nachteil, dass sie offen lassen, warum Personen, die andere Straftaten begangen haben und deshalb verurteilt worden sind, geeigneter für eine Beschäftigung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sein sollten. § 221 StGB, der sich auf Aussetzung - auch des eigenen Kindes, das ihm zur Erziehung oder Betreuung anvertraut ist - bezieht, taucht so unverständlicherweise in dieser Liste nicht auf, obgleich doch gerade hier ein Mangel an persönlicher Eignung zur Beschäftigung ebenso unstrittig sein dürfte, wie dies bei den anderen Delikten der Fall ist. Wann immer solche Listen aufgestellt werden, sie produzieren theoretische und praktische Folgewirkungen, die sich im Vorfeld nicht immer abschätzen lassen. Zwar ist in § 72 a Satz 1 SGB VIII durch die Formulierung „insbesondere“ eine Öffnungsklausel eingeführt worden, die deutlich macht, dass es sich bei den hier genannten Straftatbeständen nicht um eine abschließende Aufzählung handelt (vgl. Münder u. a. 2006, § 72 a Rz 3; Kreft 2006). Das ändert jedoch nichts an einem anderen Problem, nämlich dass der Gesetzgeber in seinem Regelungsumfang an dieser Stelle hinter der Normierung im Jugendarbeitsschutzgesetz (§ 25 Abs. 1 JArbSchG) zurückgeblieben ist. Dieser Mangel kann letztlich nur durch richterliche Einzelentscheidungen ausgeglichen werden, aber dadurch wird genau der Regelungszweck, nämlich eine klare und allgemeinverbindliche Regelung herbeizuführen, unterlaufen. 324 uj 7+8 (2007) kindeswohl Ausgangspunkte Ausgangspunkt ist hier zunächst die empirische Frage, wie hoch der Regelungsbedarf denn tatsächlich ist: Mit welcher Auftretenswahrscheinlichkeit ist damit zu rechnen, dass sich Personen, die wegen der in § 72 a SGB VIII benannten Straftaten rechtskräftig verurteilt wurden, im Feld der Kinder- und Jugendhilfe aufhalten? Hierzu äußert sich der Gesetzgeber in seinem Gesetzentwurf eindeutig: „Praxisfälle belegen, dass beispielsweise Personen mit sog. pädophilen Neigungen sich ganz bewusst und zielgerichtet solche Arbeitsfelder suchen, die ihnen die Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu Kindern und Jugendlichen verschaffen (vgl. Enders, Ursula, „Das geplante Verbrechen - Sexuelle Ausbeutung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Institutionen“, Köln 2002)“ (BT-Drs. 15/ 3676, S. 39). Gerade weil es hier um ganz außerordentlich schädliche Übergriffe gegen Kinder geht, ist ein Höchstmaß an Solidität angesagt, um die eigene Glaubwürdigkeit und in der Folge die der betroffenen Kinder nicht zu erschüttern. Allerdings ist im Zusammenhang mit der Beratung und Verabschiedung des §72a SGB VIII die notwendige Sorgfalt nicht gezeigt worden. So ist die in der Bundestagsdrucksache zitierte Publikation, die als einziger Beleg [sic! ] überhaupt angeführt wird, lediglich eine Broschüre, die weder über den offiziellen Buchhandel zu beziehen noch in der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet und auch nicht in der Bibliothek des Deutschen Bundestages vorhanden ist; sie findet sich in der Bundesrepublik lediglich in einer einzigen [sic! ] wissenschaftlichen Bibliothek (Evangelische Fachhochschule Hannover) und ist von dort nicht über Fernleihe beziehbar! 2 Dergleichen mag für das federführende Bundesministerium inhaltlich unbedenklich und für die Abgeordneten des Deutschen Bundestags mit Blick auf die Fundierung ihres Abstimmungsverhaltens hinreichend sein. Wissenschaftlichen Mindestanforderungen genügt ein solches Vorgehen indes in keiner Weise. Dies wird in geradezu grotesker Form sichtbar, wenn die empirische Grundlage, die im (inzwischen Gesetz gewordenen) Entwurf angeführt wird: „… Praxisfälle belegen …“ (BT- Drs. 15/ 3676, S. 39). Wenn ein solcher „Beleg“ sich als hinreichend erweist, um derart weitreichende rechtliche Regelungen vorzunehmen, dann verliert Politik ihren rationalen Kern und macht emotionalen Stimmungen als Entscheidungsgrundlage Platz. Behauptete Kriminalitätsbelastungen Lässt man einmal die eben angeführte Problematik außer Acht und fragt danach, wie hoch die Zahl derjenigen ist, die vor dem Hintergrund der neuen rechtlichen Regelung aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ausgeschlossen bzw. ferngehalten werden müssen, dann liest man dazu Folgendes: „Amerikanische Studien gehen davon aus, dass etwa 4 % der in der Sozialarbeit Tätigen sexuelle Kontakte mit ihrer Klientel (ersichtlich unter Einschluss der Erwachsenen) hatten (Tschan S. 72, 76)“ (Wiesner 2006, § 72 a Rz 4). Um nicht hinter der eingeforderten Solidität zurückzubleiben, ist es notwendig, die Quelle selbst zu sichten. Was sagt Tschan genau darüber aus, um welches Datenmaterial es sich handelt und vor allem wie es zustande gekommen ist? Hierzu soll er selbst zu Wort kommen. „Eine Arbeit über die Situation bei Sokindeswohl uj 7+8 (2007) 325 2 Indes finden sich große Teile der Broschüre als Wiederabdruck in Enders (2003, 31 - 66), allerdings ohne jeglichen Hinweis auf die ursprüngliche, in der Bundestagsdrucksache (15/ 3676, 39) zitierte Broschüre von Enders 2002 (jetzt: Enders 2004). zialarbeitern wurde 1985 durch Gechtman und Bouhoutsos veröffentlicht. In einer randomisierten Auswahl wurden 1000 von 97450 US-Sozialarbeitern mittels Fragebogen angefragt. 3,8 % der Teilnehmer gaben an, dass sie während oder nach Behandlungen mit ihren Klienten sexuellen Kontakt hatten. Weitere angegebene sexuelle Kontakte waren mit Vorgesetzten (3,6 %), Kollegen und Kolleginnen in Ausbildung (1,9 %) sowie Therapeuten oder Therapeutinnen und administrativen Vorgesetzten. 90 % der Antwortenden waren der Ansicht, dass sexuelle Kontakte mit Klienten nie mit einem guten Resultat für die Beteiligten verbunden seien“ (Tschan 2005, 72). Diese Ausführungen lassen Ratlosigkeit aufkommen, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Zunächst fällt auf, dass es sich nicht um mehrere, sondern um eine einzige Studie handelt (auf der erwähnten Seite 76 finden sich lediglich Hinweise zum PSM [„professional sexual misconduct“; sexuellen Missbrauch] in der Justiz, im Straf- und Maßnahmenvollzug sowie zum PSM im Militär, nicht aber in der Sozialarbeit). Die Zahlen sind auch insofern kaum aussagefähig, als sie keinerlei Rückschlüsse auf Altersgruppen der von sexueller Gewalt Betroffenen zulassen - Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden hier alle zugleich erfasst (worauf auf Wiesner [2006, § 72 a Rz 4] hinweist). Gleichwohl verweist Tschan an anderer Stelle (2005, 73) auf die hier in besonderer Weise zur Untersuchung stehende Problematik des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen. Hierzu sagt er Folgendes: „Verlässliche Zahlen über das Ausmaß und die Häufigkeit sind nicht verfügbar, doch lassen Fallberichte Schlimmes befürchten“ (Tschan 2005, 73). Die Belegquelle für die Fallberichte, die er hier heranzieht, ist die bereits erwähnte Publikation von Enders (2004). Hier beginnt nun ein interner Verweiszirkel, innerhalb dessen immer auf dieselben AutorInnen Bezug genommen wird. Und weiter führt Tschan aus: „In einer Untersuchung gaben 64 % von behinderten Frauen an, dass sie Opfer sexueller Übergriffe wurden. Kinder und Jugendliche in Wohnheimen sind aus einer Vielzahl von Gründen ebenfalls gefährdet. Zahlen über das Ausmaß sind nicht verfügbar“ (Tschan 2005, 73). Hier wird deutlich, dass sich empirisch tragfähig bisher nichts über das Problem der sexuellen Gewalt durch professionelle Helfer sagen lässt. Es ist überdeutlich, dass dieser Mangel allein durch geeignete Untersuchungen beseitigt werden kann und dieses Forschungsdesiderat dringend einer Bearbeitung zugeführt werden muss. Wie verhält es sich nun mit der bruchlosen Übertragbarkeit der von Tschan herangezogenen US-amerikanischen Untersuchung von Gechtman zum sexuellen Missbrauch von KlientInnen durch Sozialarbeiter? Sind die in dieser Studie gewonnenen Daten auf die gänzlich andere Situation der Bundesrepublik überhaupt zu übertragen? Liegt hier jeweils ein gleiches Verständnis von Sozialarbeit - einschließlich ihrer jeweiligen organisatorischen Strukturen - zugrunde, oder fließen in diesem Zusammenhang auch Daten aus psychotherapeutischen Kontexten ein, die im amerikanischen Kontext durchaus auch der Sozialen Arbeit zugerechnet werden, in Deutschland indes nicht? Diese und ähnliche Fragen werden in der erwähnten Kommentierung zum § 72 a SGB VIII nicht diskutiert. Dort wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Übertragung der Ergebnisse auf den bundesdeutschen Kontext keinerlei Probleme aufwirft. Tschan selbst sieht indes Probleme und äußert sich zur Frage der Übertragung auf den hiesigen Kontext jedoch nicht. „Bei den Zahlen zu Sozialarbeitern muss man zwei Dinge bedenken. Erstens sind viele Sozialarbeiter selbst therapeutisch und beratend tätig, wo- 326 uj 7+8 (2007) kindeswohl mit sie möglicherweise bei entsprechenden Untersuchungen in einer anderen Kategorie (Psychotherapie, Gesundheitswesen, Kirche) erfasst werden. Zweitens kann es zu Übergriffen an Kindern und Jugendlichen kommen, wenn Sozialarbeiter bzw. Sozialpädagogen in entsprechenden Institutionen tätig sind“ (Tschan 2005, 72f). Jetzt wird nochmals deutlicher, warum der Bezug auf die referierte Quelle als empirischer Beleg wissenschaftlich nicht haltbar ist. Nicht nur, dass die notwendigen Altersdifferenzierungen bei den vorgestellten Belastungsziffern fehlen, auch das andere Grundverständnis von Sozialarbeit, das die dortige Arbeitssituation prägt, lässt eine Übertragung der Daten nicht zu. Für die deutsche Situation bleibt nur festzustellen, dass ein Forschungsdesiderat benannt ist und unverändert seiner Bearbeitung harrt. Dies ist zweifellos ein wesentliches Verdienst derjenigen AutorInnen, die sich dem Tabu-Thema „Sexueller Missbrauch durch Professionelle in Helferbeziehungen“ zugewandt und in die fachöffentliche Diskussion gebracht haben. Aber eine tragfähige Grundlage für weitreichende rechtliche Änderungen im SGB VIII ist es nicht! Feststellbare Kriminalitätsbelastungen Lassen sich überhaupt begründete Aussagen über feststellbare Kriminalitätsbelastungen für den Bereich der Straftaten ausweisen, die in § 72 a SGB VIII genannt werden? Dies ist möglich und soll eben dargestellt werden. So wird in den folgenden Überlegungen ausschließlich die Zahl der rechtskräftig Verurteilten herangezogen, weil nur die Verurteilung als das entscheidende Ausschlusskriterium im § 72 a SGB VIII ausgewiesen wird: „… dass sie keine Personen beschäftigen oder vermitteln, die rechtskräftig wegen einer Straftat nach den §§ 171, 174 bis 174 c, 176 bis 181 a, 182 bis 184 e oder § 225 des Strafgesetzbuches verurteilt worden sind“. Denn auch für Tatverdächtige im Bereich dieser im § 72 a SGB VIII aufgezählten Straftaten gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung das (rechtsstaatliche) Prinzip der Unschuldsvermutung. Die offiziellen Verurteiltenziffern, die vom Statistischen Bundesamt erhoben werden, beziehen sich jedoch nur auf die alten Bundesländer - Hintergrund dieser Einschränkung ist das Fehlen eines bundeseinheitlichen Statistikgesetzes (vgl. Statistisches Bundesamt 2006, 7) -, sodass differenzierte Auskünfte über die Situation in den neuen Bundesländern empirisch zuverlässig nicht gegeben werden können. Die Tabelle 1 zeigt in einer komprimierten Form die Kriminalitätsbelastung für die im § 72 a SGB VIII ausgewiesenen Straftatbestände. Wie zu erkennen ist, hat es im Jahr 2005 insgesamt 8.092 einschlägige Verurteilungen gegeben. Berücksichtigt man nunmehr, dass sich § 72 a SGB VIII auf Beschäftigte bzw. auf vom öffentlichen Träger vermittelte Personen bezieht, dann ist es begründet, den Personenkreis aus der Gesamtziffer herauszurechnen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht (mehr) für die einschlägige rechtliche Regelung in Betracht kommt. So werden alle Kinder, Jugendlichen sowie Heranwachsenden nicht berücksichtigt, weil davon auszugehen ist, dass sie aufgrund ihres Alters bzw. wegen (noch) fehlender Qualifikation nicht zum Personenkreis der Beschäftigten zählen. Mit Blick auf diesen Personenkreis ist insofern mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er bei (späteren) Bewerbungen durch das (auch heute schon [sic! ]) eingeforderte polizeiliche Führungszeugnis nicht in den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe hauptberuflich wird eintreten können. kindeswohl uj 7+8 (2007) 327 Zudem kann der Personenkreis ab dem vollendeten 60. Lebensjahr unberücksichtigt bleiben, weil dieser entweder bereits aufgrund der faktischen Verrentungsgrenze nicht mehr im aktiven Berufsleben ist oder aber wegen der alterstypischen Karriereverlaufsmuster mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr im unmittelbaren Klientenkontakt steht. Somit ergibt sich eine absolute Ziffer von Verurteilten für die gesamte (westdeutsche) Bevölkerung und für das Jahr 2005 von 6.415. Setzt man die verbleibende Gruppe der 21bis 60-Jährigen ins Verhältnis zum entsprechenden Bevölkerungsanteil in der deutschen Bevölkerung, dann wird die einschlägige Kriminalitätsbelastung - der Gesamtbevölkerung - berechenbar (Tabelle 2 weist den entsprechenden Bevölkerungsanteil aus). Die Kriminalitätsbelastung bezüglich aller im § 72 a SGV III angesprochenen Delikte beträgt 0,0178 % - bezogen auf die westdeutsche Gesamtbevölkerung im Alter von 20 bis 60 Jahren und bezogen auf das Jahr 2005! Angesichts dieser allgemeinen Kriminalitätsbelastung in der deutschen Bevölkerung werden die von Wiesner im Anschluss an Tschan zitierten 4 % der in der Sozialarbeit Tätigen, die sexuelle Kontakte mit ihrer Klientel unterhalten haben (unter Einschluss von Erwachsenen), empirisch begründungsbedürftig! Nunmehr kommt es darauf an, die allgemeine Kriminalitätsbelastung (Verurteilungen wegen der in § 72 a SGB VIII aufgezählten Straftaten) auf in der öffentlichen 328 uj 7+8 (2007) kindeswohl 1 2 3 4 5 6 7 8 StGB Straftat Ver- Erwachsene Jugend- Heranw. ΣΣ urteilte liche § Ins- 60 - 70 70 Sp gesamt u. mehr 4 - 7 171 Verletzung der Fürsorge- 58 1 1 1 3 und Erziehungspflicht 174ff Delikte gegen die sex. 7882 386 98 678 491 1653 Selbstbestimmung 225 Misshandlung von 152 2 5 14 21 Schutzbefohlenen Σ 8092 389 98 684 506 1677 abzüglich Spalten 4 bis 7 1677 Σ 6415 Tabelle 1: Verurteilte nach den in § 72 a SGB VIII aufgelisteten Straftaten (2004) (Datenbasis: Statistisches Bundesamt 2007, S. 24ff) Bevölkerungsstand 2004 im Durchschnitt 65.698.000 abzüglich Population 0 bis 20 13.645.000 60 und älter 16.070.000 ΣΣ 35.983.000 Tabelle 2: Westdeutsche Population zwischen 20 und 60 Jahren (31. 12. 2004) (Datenbasis: Statistisches Bundesamt 2006, Tab. 1.3) und freien Jugendhilfe beschäftigten Personen zu übertragen, um zu halbwegs nachvollziehbaren Zahlen zu gelangen. Denn die vom Statistischen Bundesamt geführte Verurteiltenstatistik lässt selbst keine Rückschlüsse auf bestimmte Tätergruppen, z. B. bezüglich ihrer beruflichen Qualifikation etc., zu (so die persönliche Auskunft auf eine entsprechende telefonische Rückfrage). Nach dem vorliegenden empirischen Datenmaterial kann für den 31. 12. 2002 folgender Personalbestand (Beschäftigte) in der Kinder- und Jugendhilfe festgestellt werden: 573.802. Legt man nunmehr die ermittelte Kriminalitätsbelastungsziffer zugrunde (0,0178%), dann lässt sich heute - immer unter der Voraussetzung, dass die Belastungsziffer der (sozial-)pädagogischen Berufsangehörigen der Belastungsziffer der Gesamtbevölkerung entspräche 3 - von rund 103 einschlägig Verurteilten (bei 573.802 Beschäftigten) im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ausgehen. Unterstellt man indes die 4% der Beschäftigten, die sexuelle Kontakte mit ihrer Klientel unterhalten, dann wären dies in der Kinder- und Jugendhilfe 22.849 Personen. Offensichtlich ist man bereit, die sich daraus ergebende Differenz von 22.848 beschäftigten Personen in der Kinder- und Jugendhilfe, denen Vergehen im Sinne des § 72 a SGB VIII unterstellt werden, ohne größeren Diskussionsbedarf hinzunehmen. Konsequenzen Wie hier in einem ersten Schritt gezeigt werden konnte, wird ein unbestreitbar guter Regelungszweck, nämlich Personen, von denen man begründet annehmen muss, dass sie für eine Beschäftigung in der Kinder- und Jugendhilfe ungeeignet sind, zu identifizieren, dadurch konterkariert, dass alle angeführten Begründungsleistungen sich als außerordentlich problematisch erweisen. Auf diese Weise wird dem berechtigten Anliegen erheblicher Abbruch getan. Dies ist jedoch nur eine Seite der ohnehin schon problematischen Medaille. Die andere Seite ist darin zu sehen, dass ganz unreflektiert eine einzige (pädagogische) Berufsgruppe herausgegriffen wird und durch die Aufforderung, wiederholt ein polizeiliches Führungszeugnis vorzulegen, mit dem Generalverdacht des sexuellen kindeswohl uj 7+8 (2007) 329 3 Für diese Prämisse gibt es jedoch keinerlei Bestätigung oder Widerlegung. Sie muss als Arbeitshypothese so lange dienen, bis bessere bzw. gesicherte Erkenntnisse in diesem Bereich vorliegen. Einrichtung insgesamt öffentliche freie Träger Träger Kindertageseinrichtung 379.723 155.920 223.803 andere Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe 194.079 62.670 131.409 Insgesamt 573.802 218.950 355.212 Tabelle 3: Beschäftigte im Bereich Kinder- und Jugendhilfe (31. 12. 2002) (Datenbasis: Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik, pers. Mitteilung Dr. Jens Pothmann, 23. 5. 2006) Missbrauchs von Schutzbefohlenen überzogen wird. Warum, so lässt sich fragen, fordert der Gesetzgeber von der wesentlich größeren Gruppe pädagogischen Personals in den Schulen nicht wiederkehrend ein polizeiliches Führungszeugnis ein? Oder warum bleiben (Kinder-)ÄrztInnen außen vor? Geht von diesen Berufsgruppen keine oder eine geringere Gefahr aus als von SozialpädagogInnen? Hier konnte auch nicht thematisiert werden, ob denn das vorgeschlagene Instrument, nämlich ein polizeiliches Führungszeugnis, überhaupt zielführend ist. Auch hieran bestehen ganz erhebliche Zweifel (vgl. Kreft 2006). Wer aber eine derart weitreichende rechtliche Neuregelung einführt, der ist begründungs- und nachweispflichtig dafür, dass die Instrumente wirksam sind. Dies ist bisher nicht ausreichend geschehen. Um noch einmal zur eingangs dargestellten Vorgeschichte zurückzukommen. Der § 72 a SGB VIII hätte einer Beschäftigung des wegen Mordes Verurteilten sicherlich entgegengestanden. Heute hätte er keine Chance mehr, als Leiter eines Kinderheims beschäftigt zu werden. Ob dies eine richtige Entscheidung wäre, kann hier undiskutiert bleiben, der Fall liegt lange zurück… Literatur BT-Drs. 15/ 3676 [Deutscher Bundestag, Drucksache vom 6. 9. 2004]: Entwurf eines Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Tagesbetreuungsgesetz - TAG) (5 Seiten) Enders, U., 2003: Das geplante Verbrechen. Sexuelle Ausbeutung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Institutionen. In: Ulsonka, H./ Rainer, M. J. (Hrsg.): Sexualisierte Gewalt im Schutz von Kirchenmauern. Anstöße zur differenzierten (Selbst-)Wahrnehmung. Münster/ Hamburg/ London, S. 31 - 66 Enders, U., 2004: Das geplante Verbrechen. Sexuelle Ausbeutung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Institutionen. Köln Kreft, D., 2006: § 72 a SGB VIII: Schutz bei Kindeswohlgefährdung durch Verfahren? In: Das Jugendamt, 79. Jg., H. 2, S. 66 - 70 Münder, J. u. a., 5 2006: Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim/ München Pfaffenberger, H., 1962: Zum Begriff der Fachkraft in der Sozial- und Jugendhilfe. In: Recht der Jugend, 10. Jg., H. 13, S. 193 - 195 Schrep, B., 2006: „Einmal Mörder, immer Mörder“. Obwohl er als junger Mann einen Menschen tötete, wurde ein evangelischer Theologe von der Nordelbischen Kirche als Seelsorger eingestellt. Die Kirchenoberen halten trotz massiver Kritik an dem reuigen Sünder fest. In: Der Spiegel, H. 30, S. 42 - 45 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), 2006: Bevölkerungsfortschreibung 2005. Fachserie 1/ Reihe 1.3. Wiesbaden 28. 11. 2006, geändert am 27. 2. 2007 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), 2007: Rechtspflege. Strafverfolgung 2005. Fachserie 10/ Reihe 3. Wiesbaden 18. 5. 2007 Tschan, W., 2 2005: Missbrauchtes Vertrauen. Sexuelle Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen. Ursachen und Folgen. Basel u. a. Wiesner, R. (Hrsg.), 3 2006: SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe. Kommentar. München Der Autor Prof. Dr. Roland Merten Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehrstuhl für Sozialpädagogik und außerschulische Bildung Am Planetarium 4 07737 Jena www.uni-jena.de/ team.html 330 uj 7+8 (2007) kindeswohl