eJournals unsere jugend 59/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
597+8

Fragwürdige Indikatoren bei der Beurteilung des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen

71
2007
Hans-Peter Heekerens
Maria Ohling
Im Jahre 2007 erschienen gleich zwei Berichte, die anhand verschiedener Indikatoren aufzeigen wollen, wie es um das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland und anderen Ländern bestellt ist: der Bericht von UNICEF (2007), der vergleichend die OECD-Staaten ins Auge fasst, und die Studie von Bradshaw, Hoelscher und Richardson (2007), die die Länder der Europäischen Union in den Blick nimmt. In beiden Analysen, deren Bedeutung für die Entwicklung von Indikatoren für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen nicht hoch genug einzuschätzen ist, finden sich einige Indikatoren, deren Verwendung Fragen aufwirft und Zweifel erregt.
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Einleitung Zur Einschätzung des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen werden hierzulande zumeist zwei Dimensionen des Wohlergehens betrachtet: die Bildungs- und die materielle Situation. Es ist das Verdienst zweier neuerer englischsprachiger Berichte, das Blickfeld erheblich ausgeweitet zu haben. Der durch Mitteilungen in den Medien und durch eine ins Internet gestellte deutschsprachige Zusammenfassung (Deutsches Komitee für UNICEF 2007) bekanntere Bericht ist die von Peter Adams geschriebene Analyse der UNICEF (2007) zur Situation von Kindern und Jugendlichen in den OECD-Staaten (künftig: OECD-Studie). Die Vorarbeiten dazu hat eine Arbeitsgruppe aus dem Vereinigten Königreich (Bradshaw u. a. 2006) geleistet, die ihrerseits einen analogen Bericht zum Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen in den EU-Staaten (künftig: EU-Studie) vorgelegt hat (vgl. Bradshaw u. a. 2007). Hans Bertram (2006) hat in seinem Arbeitspapier des Innocenti Research Center der UNICEF direkt Bezug genommen auf den genannten UNICEF-Bericht (UNICEF 2007) und dabei, soweit es die Datenlage in Ausnahmefällen erlaubte, nach den deutschen Bundesländern differenziert. Wir können diesen Binnenvergleich im Weiteren außer Betracht lassen, ohne dass damit Informationsverlust verbunden wäre. Für den Außenwie den Binnenvergleich ist die Auswahl der relevanten Indikatoren bei der Beurteilung des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen durch zwei Größen bestimmt: zum einen durch die Verfügbarkeit von Untersuchungsergebnissen und zum anderen durch die Relevanz vorhandener Untersuchungsergebnisse. Das zweite ist eine Wertefrage, und die wird in beiden international vergleifragwürdige indikatoren uj 7+8 (2007) 331 Unsere Jugend, 59. Jg., S. 331 - 337 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Fragwürdige Indikatoren bei der Beurteilung des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen Hans-Peter Heekerens/ Maria Ohling Im Jahre 2007 erschienen gleich zwei Berichte, die anhand verschiedener Indikatoren aufzeigen wollen, wie es um das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland und anderen Ländern bestellt ist: der Bericht von UNICEF (2007), der vergleichend die OECD-Staaten ins Auge fasst, und die Studie von Bradshaw, Hoelscher und Richardson (2007), die die Länder der Europäischen Union in den Blick nimmt. In beiden Analysen, deren Bedeutung für die Entwicklung von Indikatoren für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen nicht hoch genug einzuschätzen ist, finden sich einige Indikatoren, deren Verwendung Fragen aufwirft und Zweifel erregt. chenden Studien vom Standpunkt der Kinderrechtskonvention von 1989 aus beantwortet. Das ist eine Perspektive, wie sie auch in unseren Artikeln zu einer bedeutsamen Dimension des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen, nämlich der materiellen Lage, eingenommen wird (vgl. Heekerens/ Ohling 2005; Ohling/ Heekerens 2005). Aber auch bei gleicher Perspektive kann man zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen bei der Frage, welche Indikatoren denn zu Recht als Gradmesser der Realisierung von Kinderrechten in einzelnen Staaten bewertet werden können. Hier kommen wir in Einzelpunkten zu anderen Ergebnissen als die Bradshaw-Gruppe. Bevor wir dies für einige Punkte begründet aufzeigen, noch eine Vorbemerkung. Wenn im Folgenden Ergebnisse sowohl aus der EUals auch aus der OECD-Studie dargestellt werden, sollte man in Erinnerung behalten, dass dabei nicht alle Staaten/ Länder berücksichtigt sind, die zu der einen und/ oder der anderen Gruppe gehören. Bei Betrachtung von OECD-Staaten bleiben, weil von ihnen Daten nur in ungenügendem Maße vorliegen, folgende 9 von 30 OECD-Staaten außen vor: Australien, Island, Japan, Luxemburg, Mexiko, Neuseeland, Slowakei, Südkorea und die Türkei. Beim Blick auf die Staaten der „EU25“ werden, weil von ihnen weniger als 70 Prozent der als Basis dienenden Indikatoren bei der Beurteilung des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen vorliegen, folgende Länder im Nachfolgenden nicht berücksichtigt: Luxemburg, Malta, Slowakei und Zypern. Ist Sex schädlich? In der EUwie in der OECD-Studie findet sich die Komponente „Risikoverhalten“ mit 7 bzw. 6 verschiedenen Indikatoren. Es ist im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung, dass diese Komponente in den beiden Studien verschiedenen Dimensionen - Risk and Safety in der EU-, Behaviours and Risks in der OECD-Studie - zugeordnet wird, in der EU-Studie ein Indikator (für Inhalation psychoaktiver Stoffe) mehr vorhanden ist sowie für Alkohol-, Cannabis- und Nikotinkonsum unterschiedliche Quellen und Kennzahlen benutzt wurden. Die 6 bzw. 7 Indikatoren sind • Zigarettenrauchen, • Alkoholkonsum, • Cannabiskonsum, • Inhalation psychoaktiver Stoffe (nur EU- Studie), • 15-Jährige mit Erfahrung im Geschlechtsverkehr, • Teenagerschwangerschaft, • Kondombenutzung beim Geschlechtsverkehr. Man kann diese Liste leicht in zwei Gruppen aufteilen: Die ersten vier Indikatoren betreffen den Konsum psychoaktiver Stoffe, die letzten drei haben mit Sex zu tun. Für 332 uj 7+8 (2007) fragwürdige indikatoren Prof. Dr. Hans-Peter Heekerens Jg. 1947; Dipl.-Psych., Dr. theol., Dr. phil., Professor für Pädagogik und Sozialarbeit/ Sozialpädagogik an der Fachhochschule München Prof. Dr. Maria Ohling Jg. 1961; Dipl.-Päd., Dipl.-Soz.-Päd., Dr. phil., Professorin für Handlungs- und Methodenlehre der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Landshut die erste Gruppe gilt: Je niedriger die Werte, desto besser steht es um das Wohlergehen der Jugendlichen. Dies gilt aus der zweiten Gruppe nur für Teenagerschwangerschaft, für Geschlechtsverkehr soll es nach Meinung der Bradshaw-Gruppe gelten, während für Kondombenutzung das Umgekehrte zutrifft. Zur Debatte steht hier der Indikator „15-Jährige mit Erfahrung im Geschlechtsverkehr“. Auf den Punkt gebracht lautet die Botschaft der EUwie der OECD-Studie: 15-Jährige sollten Geschlechtsverkehr sein lassen wie Rauchen, Saufen, Kiffen und Schnüffeln. So verständlich es ist, diese vier Verhaltensweisen als schädlich (nicht nur) für Jugendliche anzusehen, so wenig Verständnis haben wir dafür, den Geschlechtsverkehr 15-Jähriger gleichermaßen einzuschätzen. Wir verkennen nicht, dass Geschlechtsverkehr (nicht nur) bei Jugendlichen mit Risiken verbunden ist; ungewollte Schwangerschaft und Ansteckung mit Infektionskrankheiten, von denen die mit HIV die schwerwiegendste ist, sind dafür Beispiele. Aber diese Risiken sind durch die o. g. Indikatoren „Teenagerschwangerschaft“ und „(Nicht-)Benutzung von Kondomen“ ja bereits erfasst. Unstrittig ist auch, dass diese Risiken im Teenageralter erhöht sind, weil sich in den OECDwie in den EU- Staaten die Kluft zwischen biologischem und sozialem Erwachsenensein in den letzten Jahren und Jahrzehnten verbreitert hat. Für die Ansicht aber, Geschlechtsverkehr schon im Alter von 15 habe als solcher negative Auswirkungen für die emotionale, soziale, intellektuelle oder gesundheitliche Entwicklung, sind uns keine einschlägigen Untersuchungsbefunde bekannt - und die Bradshaw-Gruppe nennt auch keine. Und auf den bloßen Verdacht hin, dem könne so sein, den Geschlechtsverkehr 15-Jähriger gleichsam auf den Index der zu unterlassenden Handlungen zu setzen, erscheint uns gar zu „päpstlich“. Ist Fremdbetreuung im Klein(st)kindalter wirklich gut? In der EU-Studie wird als Indikator für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen betrachtet, wie viele Kinder im Alter bis 2 Jahren in (offiziell registrierter) außerhäuslicher Betreuung sind. In der OECD-Studie ist dieser Indikator nicht berücksichtigt, obwohl es OECD-Daten (vgl. Immervoll/ Barber 2005) sind, die zugrunde liegen. Und es stellt sich ernsthaft die Frage, ob man die hier zur Diskussion stehende Größe denn wirklich als Indikator für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen ansehen darf, soll und muss. Die (offiziell registrierte) außerhäusliche Betreuung für Kinder bis 2 Jahren findet sich mit Blick auf die EU25 am häufigsten in Schweden (65 Prozent) und am seltensten in Tschechien (1 Prozent), Deutschland liegt mit 9 Prozent eher im unteren Bereich (vgl. Immervoll/ Barber 2005). Die hier zu findenden Partizipationsraten werden dann mit einer zweiten Größe - dem voll- oder teilzeitlichen Schulbesuch von 15bis- 19-Jährigen - zusammengerechnet. Aus dem Resultat wird die Komponente Educational Participation (Bildungspartizipation) gebildet. Nach dieser werden 20 EU-Staaten in eine Rangreihe gebracht, an deren Spitze Finnland und an deren Ende Griechenland steht, während Deutschland Rang 9 einnimmt. Beim voll- oder teilzeitlichen Schulbesuch der 15bis 19-Jährigen nimmt Deutschland nach Auskunft der OECD-Studie unter 23 OECD-Staaten mit einer Beteilungsquote von bald 90 Prozent - TeilzeitschülerInnen wie die in Gewerbeschulen sind wohlgemerkt mit berücksichtigt - den 3. Rang ein. Nun darf man ja als Erstes fragen, ob es Sinn macht, die beiden Größen „außerhäusliche Betreuung für Kinder bis 2 Jahren“ und „voll- oder teilzeitlichen Schulbesuch der 15bis 19-Jährigen“ wirklich fragwürdige indikatoren uj 7+8 (2007) 333 zusammenzurechnen. Aber man muss u. E. noch weiter gehen und fragen, ob man die erste Größe, nämlich die „außerhäusliche Betreuung von Kindern bis 2 Jahren“, überhaupt als Bildungsindikator ansehen kann. Die Bradshaw-Gruppe (vgl. Bradshaw 2006) räumt ein, dass „außerhäusliche Betreuung für Kinder bis 2 Jahren“ nur ein begrenzter Anzeiger für die als bedeutsamer einzuschätzende außerhäusliche Betreuung im Kindergartenalter ist. Wir gehen aber weiter, wenn wir die Ansicht vertreten, dass die außerhäusliche Betreuung in den beiden ersten Lebensjahren nicht bloß ein unzulänglicher, sondern ein ungeeigneter Anzeiger für vorschulische Bildung ist. Wenn man sich die derzeitige bundesrepublikanische Diskussion um die Bereitstellung außerhäuslicher Betreuungsmöglichkeiten für bis 2-Jährige ansieht, dann wird von den BefürworterInnen vor allem eine beschäftigungs- (und frauen-)politische Begründung zur Geltung gebracht, von den GegnerInnen vornehmlich eine familienpolitische; eine bildungspolitische wird von keiner Seite vorgetragen. Das spiegelt eine bundesrepublikanische Realität wider, die im Zwölften Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2005) vertieft in Augenschein genommen wurde und die man in den Satz fassen kann: „In der Krippe wird betreut, der Kindergarten erzieht und die Schule bildet“ (Bertram 2006, 19). Damit ist ein Themenfeld angesprochen, das zu vielerlei Diskussionen und Kontroversen Anlass gibt - und zu Aktionen. So scheint sich ein gesellschaftlicher und politischer Konsens herauszubilden, demzufolge der Kindergarten (zumindest im Jahr vor der Einschulung) verstärkt Bildung in einer dem jeweiligen kindlichen Entwicklungsstand angemessenen und förderlichen Art und Weise ins Programm aufzunehmen hat (vgl. Fthenakis 2003; Fthenakis/ Oberhuemer 2004). Dann kann man die gesellschaftlich organisierte Bereitstellung (kostenfreier) Kindergartenplätze tatsächlich als Einzel- oder Teilindikator von Educational Participation in die Liste der Indikatoren des Kindes- und Jugendwohlergehens aufnehmen. Dass qualifizierte Erziehungs- und Bildungsarbeit im Kindergartenalter insbesondere für unterprivilegierte Kinder förderlich ist (vgl. Bradshaw u. a. 2006), darf als unbestritten angesehen werden. Worauf wir uns im vorliegenden Zusammenhang aber konzentrieren müssen und dürfen, ist die Frage, ob das auch im Krippenalter der Fall ist. Wir sind nicht dieser Ansicht. Wir haben bis heute zu wenig gesichertes Wissen darüber, wie sich Krippenbesuch auf die kindliche Entwicklung auswirkt. Eine breite wissenschaftliche Literatur gibt es zum Themenkreis „Krippenbesuch und Bindungsqualität“ (vgl. Oerter/ Montada 2002). Die Ergebnisse zusammenfassend kann man sagen, dass Krippenbesuch die Bindungsqualität nicht notwendigerweise negativ beeinflussen muss. Sonstige Forschungsresultate fasst die Bradshaw-Gruppe selbst mit den Worten zusammen: „For children below the age of two results are mixed“ (Bradshaw u. a. 2006, 51). Das mag ein hinreichender Grund sein, der deutschen Familienministerin bei ihrer Propagierung außerhäuslicher Betreuungsmöglichkeiten im Krippenalter nicht im Namen des Kindeswohls entgegenzutreten. Für eine Stilisierung der Kinderkrippe als Positiv-Indikator von kindlichem Wohlergehen reicht das aber nicht hin. Ist Ein- und Stiefelternschaft als solche tatsächlich von Nachteil? In der EUwie in der OECD-Studie werden zwei Indikatoren gesondert oder in Kombination (Komponente) als Negativ- Anzeiger des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen konzeptualisiert: Auf- 334 uj 7+8 (2007) fragwürdige indikatoren wachsen in Eineltern- oder Stieffamilien. Bevor wir zur dafür vorgetragenen Begründung kommen und darauf eingehen, sollen zunächst die Ergebnisse der beiden Studien dargestellt werden. Da es sich hier um (einen) Negativ-Anzeiger handelt, stehen hier auf Rangplatz 1 die Staaten, in denen Einund/ oder Stiefelternschaft am seltensten vorkommt. Unter 22 EU-Staaten und bei einem gemischten Anzeiger steht dort Malta, am anderen Ende der Skala ist das Vereinigte Königreich zu finden, und Deutschland rangiert auf Platz 15. In der OECD-Studie werden Eineltern- und Stieffamilien für 21 OECD-Staaten gesondert ausgewiesen. Beim Indikator „(Mangel an) Einelternschaft“ rangieren Italien und Griechenland auf den Plätzen 1 und 2, das Vereinigte Königreich und die USA bilden die Schlusslichter, und Deutschland ist auf dem 12. Platz zu finden. Beim Indikator „(Wenige) Stieffamilien“ sieht das Bild ähnlich aus, nur dass Italien und Griechenland die Rangplätze getauscht haben. Man sieht: Wenn man Ein- oder Stiefelternschaft als (Negativ-)Anzeiger für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen akzeptiert, plädiert man dabei, ob man es nun bewusst tut oder nicht, zumindest implizit für ein traditionelles Familienbild, wie es in den römisch-katholisch oder orthodox-katholisch geprägten Ländern Südeuropas gepflegt wird. Das wäre akzeptabel dann, wenn einwandfrei geklärt wäre, dass es die Familienform als solche wäre, die eine Beeinträchtigung des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen mit sich brächte bzw. nach sich zöge. Unbestritten ist: Bei Kindern und Jugendlichen in/ aus Eineltern- und Stieffamilien finden sich in erhöhtem Maße Beeinträchtigungen des Wohlergehens (etwa: schlechterer Gesundheitszustand, geringeres Qualifikationsniveau, erhöhtes Risiko des Ausbildungs-/ Schulabbruchs, vgl. zusammenfassend Bradshaw u. a. 2006). Auf solche Korrelate von Kindsein in Eineltern- und Stieffamilien wird sowohl in der EUwie in der OECD-Studie hingewiesen und in der OECD-Studie zudem angemerkt, solche Korrelationen blieben - nach Auskunft von überwiegend aus den USA und dem Vereinigten Königreich stammenden Analysen - auch noch dann erhalten, wenn man die erhöhte Armut in Rechnung stellte. Nur hat man damit immer noch nicht einen Effekt der Familienform als solchen, also ihren Nettoeffekt, ermittelt. Mit Allein- und der ihr nachfolgenden Stiefelternschaft sind eine Vielzahl von Risikofaktoren verbunden, die sich negativ auf das Wohlergehen der dort aufwachsenden Kinder und Jugendlichen auswirken (können); Armut ist nur einer von ihnen. Ein Teil dieser Faktoren war schon vor Familiengründung vorhanden (etwa psychische Belastungen eines Elternteils), ein anderer Teil resultiert aus dem Drama von Streiten, Trennen und Scheiden und ein letzter Teil schließlich aus der aktuellen Lebenssituation, zu der erhöhtes Armutsrisiko ebenso gehören kann wie (fortgesetzter) Streit um Betreuungs- und Kindesunterhalt oder Umgangs- und Besuchsregelungen. Und dann muss man noch in Rechnung stellen, in welchem zeitlichen und räumlichen Kontext die Eineltern- oder Stieffamilie lebt; die Situation stellt sich im Deutschland des Jahres 2007 anders dar als in der Bundesrepublik des Jahres 1957, sie war anders in der BRD als in der DDR, und sie ist heute in Nordeuropa anders als in Südeuropa. Kurzum: der gesamte (familien-)ideologische, kulturelle, politische, rechtliche und soziale Rahmen muss zusätzlich in Rechnung gestellt werden, wenn man den Nettoeffekt einer Familienform abschätzen will. Uns sind keine Studien bekannt, in denen alle bedeutsamen Einflussfaktoren, die negativ auf das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen in/ aus Ein- und Stiefelternfamilien einwirken, zugleich in Rechnung gestellt worden wären; und auch die Bradshaw-Gruppe (vgl. Bradshaw 2006) weiß keine zu nennen. Von einem nachgewiesenen negativen Nettoeffekt der Familienform kann also nicht die Rede sein. Es gibt auf der anderen Seite in den EU- und OECD-Studien Ergebnisse, die geeignet sind, den Glauben an einen solchen negativen Nettoeffekt oder, falls ein solcher vorhanden sein sollte, an dessen Gewichtigkeit oder Durchschlagskraft zu erschüttern. In der EU-Studie wurde neben der Kompofragwürdige indikatoren uj 7+8 (2007) 335 nente „abweichende Familienform“ auch eine Komponente für die Beziehung der Kinder/ Jugendlichen mit den Eltern ermittelt. Es ist naheliegend, dass sich der vermutete Negativeffekt einer Familienform auch oder gar zuallererst in der Familienkommunikation zeigen müsste. Das aber ist nicht der Fall: Beide Größen korrelieren nach den Angaben der Bradshaw-Gruppe (vgl. Bradshaw u. a. 2007) nicht miteinander. Ferner liefert die OECD-Studie eindrucksvolles Material dafür, wie bedeutsam die kontextuellen Bedingungen, von denen oben die Rede war, für „abweichende“ Familienform ist: Die skandinavischen Länder, in denen Einelternwie Stiefelternschaft weit verbreitet sind, liegen nach dem Kriterium „Einelternfamilien“ im unteren Drittel der Rangskala, nach den Kriterien „Materieller Wohlstand“, „Gesundheit/ Sicherheit“, „Bildung“, „(Risiko-)Verhalten“ und „Subjektives Wohlergehen“ aber in den beiden oberen Dritteln und überwiegend sogar nur im obersten Drittel. Dieses Ergebnis ist eher als Beleg gegen denn als Beweis für einen negativen Nettoeffekt der Familienform „Einelternfamilie“ zu werten. Schlussbemerkungen Die EU- und die OECD-Studie werfen eine Reihe wissenschaftstheoretischer und method(olog)ischer Fragen auf. Eine davon ist die hier behandelte: Welche Indikatoren, zu deren Bildung bereits hinreichende Informationen vorhanden sind, können und dürfen sinnvollerweise berücksichtigt werden? Ganz anders stellt sich die Problemlage dar, wenn wir Konsens über die Sinnfälligkeit eines bestimmten Indikators haben, uns dafür aber nicht hinreichende Informationen zur Verfügung stehen. Die These, dass vorschulische Bildung das Wohlergehen von Kindern, die dann Jugendliche und Erwachsene werden, befördert, darf auf breite Zustimmung hoffen. Indessen: Uns fehlen sowohl für den Vergleich im EUals auch im OECD-Raum hinreichende Informationen zum Punkt „Betreuung, Bildung und Erziehung der 3bis 6-Jährigen“. Unser Beitrag zeugt davon, dass es offensichtlich noch keinen wissenschaftlichen Konsens darüber gibt, welche Variablen denn überhaupt als Indikatoren für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen anzusehen sind. Und sollte darin Einigkeit erzielt sein, stellt sich gleich die zweite Frage, mit welchem Gewicht die einzelnen Indikatoren in eine Gesamtbewertung eingehen sollen. In der EUwie in der OECD-Studie werden alle Indikatoren gleich gewichtet; das mag als vorläufige Lösung angehen, befriedigend ist sie nicht. Unterstellt ist bei alledem, was noch überhaupt nicht als gegeben anzusehen ist: dass nämlich alle einbezogenen Indikatoren hinreichend aktuell, reliabel (unter gleichen Bedingungen wiederholbar), valide und repräsentativ sind. Fraglich ist ferner, • ob wir denn schon überhaupt zumindest einen Expertenkonsens darüber haben, welche (in einem/ für einen bestimmten Entwicklungsabschnitt als relevant und geeignet anzusehende) Indikatoren des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen empirisch gerechtfertigt zusammengefasst werden sollen und • mit welchem Gewicht diese Indikatoren wiederum zu welchen „Bündeln“ mit welchem wissenschaftstheoretischen Status (Komponenten, Dimensionen, Faktoren etc.) empirisch gerechtfertigt zusammengefasst werden können bzw. sinnvollerweise zusammengefasst werden sollen. 336 uj 7+8 (2007) fragwürdige indikatoren Aber, um dies zum Schluss ganz klar zu sagen: In vielen Punkten ist unser Wissen um das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen doch so gesichert, dass eine tragfähige Basis für Not-wendendes Handeln gegeben ist. Literatur Bertram, H., 2006: Zur Lage der Kinder in Deutschland: Politik für Kinder als Zukunftsgestaltung (Innocenti Working Paper No. 2). Florenz Bollen, K./ Lennox, R., 1991: Conventional Wisdom on Measurement: A Structural Equitation Perspective. In: Psychological Bulletin, 110. Jg., H. 2, S. 305 - 314 Bradshaw, J./ Hoelscher, P./ Richardson, D., 2006: Comparing Child Well-being in OECD Countries: Concepts and Methods (Innocenti Working Paper No. 3). Florenz Bradshaw, J./ Hoelscher, P./ Richardson, D., 2007: An Index of Child Well-being in the European Union. In: Social Indicators Research, 80. Jg., H. 1, S. 133 - 177 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), 2005: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Berlin Deutsches Komitee für UNICEF, 2007: UNICEF- Bericht zur Situation der Kinder in Industrieländern. Köln Fthenakis, W. E. (Hrsg.), 2003: Elementarpädagogik nach PISA. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden können. Freiburg Fthenakis, W. E./ Oberhuemer, P. (Hrsg.), 2004: Frühpädagogik international. Bildungsqualität im Blickpunkt. Wiesbaden Heekerens, H.-P./ Ohling, M., 2005: Kinder, Armut und Sozialstaat. In: Unsere Jugend, 57. Jg., H. 9, S. 365 - 376 Immervoll, H./ Barber, D., 2005: Can Parents Afford to Work? Childcare Costs, Tax-benefit Policies and Work Incentives (OECD Social Employment and Migration Working Papers No. 31). Paris Oerter, R./ Montada, L. (Hrsg.), 5 2002: Entwicklungspsychologie. Weinheim/ Basel/ Berlin Ohling, M./ Heekerens, H.-P., 2005: Die Kinderarmut in Deutschland wächst. In: Sozialmagazin, 30. Jg., H. 9, S. 35 - 42 UNICEF, 2007: Child Poverty in Perspective: An Overview of Child Well-being in Rich Countries (Innocenti Report Card 7). Florenz Die AutorInnen Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens Fachhochschule München Fakultät 11 für Angewandte Sozialwissenschaft Am Stadtpark 20 81243 München heekerens@fhm.edu Prof. Dr. Maria Ohling Fachhochschule Landshut Fakultät Soziale Arbeit Am Lurzenhof 1 84036 Landshut maria.ohling@fh-landshut.de fragwürdige indikatoren uj 7+8 (2007) 337