unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Sicherstellung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung durch Vereinbarungen zwischen Jugendämtern und Trägern von Einrichtungen und Diensten
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2007
Gabriele Bindel-Kögel
Johannes Münder
Im Januar 2007 wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend an der TU Berlin eine Untersuchung fertiggestellt über den Stand der Vereinbarungen zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung zwischen öffentlichen Trägern und Trägern von Einrichtungen und Diensten nach §8a Abs. 2 SGBVIII. Einige wichtige Ergebnisse werden hier vorgestellt.
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Die Einführung des § 8 a SGB VIII „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK vom 8. 9. 2005 - BGB l. I, 2729) ist zum Teil eine Reaktion auf die Tatsache, dass mit Etablierung des SGB VIII zu Beginn der 90er Jahre der sogenannte Dienstleistungscharakter der Kinder- und Jugendhilfe betont wurde. Dies hat in den darauffolgenden Jahren bisweilen in den Hintergrund treten lassen, dass die Kinder- und Jugendhilfe auch das staatliche Wächteramt wahrzunehmen hat. In der Gesetzesbegründung zu § 8 a SGB VIII wird ausgeführt, dass mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz die Funktion der Kinder- und Jugendhilfe als eine Instanz betont wurde, die die elterliche Erziehungsverantwortung in erster Linie unterstützt und ergänzt. Allerdings könne sich die Kinder- und Jugendhilfe nicht darauf beschränken, Leistungen nur „auf Antrag“ bzw. auf Nachfrage zu gewähren, sondern müsse - jedenfalls bei Anhaltspunkten für eine Gefährdung des Kindeswohls - im Rahmen ihres Schutzauftrages tätig werden. Ein wichtiges Ziel im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes 2005 (KICK) war es deshalb, den Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe bei Kindeswohlgefährdung stärker als bisher durch Etablierung von Handlungs- und Verfahrensstandards gesetzlich zu präzisieren und zu konkretisieren. Adressaten des Schutzauftrages: auch Träger von Einrichtungen und Diensten Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung richtet sich an den Träger der öffentlichen Jugendhilfe: „Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer 340 uj 7+8 (2007) recht Unsere Jugend, 59. Jg., S. 340 - 347 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Sicherstellung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung durch Vereinbarungen zwischen Jugendämtern und Trägern von Einrichtungen und Diensten Gabriele Bindel-Kögel/ Johannes Münder Im Januar 2007 wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend an der TU Berlin eine Untersuchung 1 fertiggestellt über den Stand der Vereinbarungen zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung zwischen öffentlichen Trägern und Trägern von Einrichtungen und Diensten nach § 8 a Abs. 2 SGB VIII. Einige wichtige Ergebnisse werden hier vorgestellt. 1 Über die AutorInnen hinaus haben Dr. Manfred Heßler und Ref. jur Angela Smessart am Forschungsprojekt mitgewirkt. Fachkräfte abzuschätzen. Dabei sind die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten anzubieten“ (vgl. § 8 a Abs. 1 SGB VIII). Da jedoch die Leistungserbringung gegenüber den Kindern, Jugendlichen, ihren Eltern und Familien weitgehend durch die Träger von Einrichtungen und Diensten geschieht, besteht für diese eine Art „Mitverantwortung zum Schutze von Kindern und Jugendlichen“. Dies kommt bereits in § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII zum Ausdruck, denn die Zielbestimmung, Kinder vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen, richtete sich schon immer an die „Jugendhilfe“ insgesamt und nicht nur an die Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Deswegen hat der Gesetzgeber in § 8 a Abs. 2 SGB VIII folgende weitere Regelungen getroffen: „In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass deren Fachkräfte den Schutzauftrag nach Absatz 1 in entsprechender Weise wahrnehmen und bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen. Insbesondere ist die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt informieren, falls die angenommenen Hilfen nicht ausreichend erscheinen, um die Gefährdung abzuwenden.“ Normadressaten (d. h. juristische Personen/ Personenvereinigungen, die durch eine Rechtsnorm angesprochen werden) des SGB VIII können jedoch nur die Träger öffentlicher Jugendhilfe sein (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII). Die Tätigkeit der Träger von Einrichtungen und Diensten wird hingegen durch das Gesetz nicht geregelt (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes - BVerfGE 22, 180, 203). Gesetzestechnisch hat deswegen der Gesetzgeber den Jugendämtern die Verpflichtung aufgegeben, bei einer Leistungserbringung in Einrichtungen und Diensten eine entsprechende Wahrnehmung des Schutzauftrages durch Vereinbarungen mit den freien Trägern sicherzustellen. Diese Konstruktion über eine gesetzliche Verpflichtung des öffentlichen Trägers zu Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten ist auch (der verfassungsrechtlich geforderte) Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips. Zentrale Fragestellungen und Methoden der Untersuchung Bei der Evaluation der in § 8 a Abs. 2 SGB VIII formulierten, differenzierten gesetzlichen Lösung zum Abschluss von Vereinbarungen stellt sich die Frage, ob und wenn recht uj 7+8 (2007) 341 Dr. Gabriele Bindel-Kögel Jg. 1954; Diplom-Pädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin im Schwerpunkt Jugendhilfe - Justiz Prof. Dr. jur. Johannes Münder Jg. 1944; Lehrstuhl für Sozial- und Zivilrecht an der TU Berlin ja in welcher Weise die Vorstellungen des Gesetzgebers umgesetzt werden. Denn es gibt im Falle des Abschlusses von Vereinbarungen zwischen Jugendämtern und Trägern von Einrichtungen und Diensten zum Teil unterschiedliche Interessenlagen der Vertragspartner, häufig auch in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Arbeitsfeldern. So besteht aufseiten der Träger von Einrichtungen und Diensten z. B. das Interesse an der Aufrechterhaltung niederschwelliger Angebote oder am Schutz der Beziehungen zu den KlientInnen, andererseits aufseiten des öffentlichen Trägers ggf. das Interesse an effektiver Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts durch möglichst umfangreiche Informationen über die KlientInnen und deren Lebensverhältnisse. Neben solchen eher adressatenbezogenen Schwierigkeiten dürften Probleme der Umsetzung auch im Bereich der Formulierung und des Prozedere des Abschlusses von Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten bestehen, die gegenüber der öffentlichen Verwaltung gleichwertige Vertragspartner sind. Im Zuge der Einführung des § 8 a SGB VIII im September 2005 haben Dachorganisationen der Wohlfahrtspflege sowie Fachverbände, Fachorganisationen und Landesjugendämter Empfehlungen zu den anstehenden Vereinbarungen zwischen öffentlichen Trägern und Trägern von Einrichtungen und Diensten gemäß § 8 a SGB VIII erarbeitet. Damit soll über die neuen gesetzlichen Bestimmungen aufgeklärt und Orientierung für die Praxis und für die Formulierung der Vereinbarungen gegeben werden. Deshalb wurden im Rahmen des Forschungsprojektes in einem ersten Schritt sechs aktuelle Empfehlungen der folgenden führenden Verbände bzw. Organisationen der sozialen Arbeit untersucht: Deutscher Caritasverband e.V., Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband e.V. (DPW), Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (DV), Bayerisches Landesjugendamt (BayLJA), Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (bke) und Institut für soziale Arbeit e.V. (ISA). In einem zweiten Schritt wurden alle 614 Jugendämter (vgl. Münder u. a. 2006, FK- SGB VIII § 69 Rz. 2) und - über Vermittlung der großen Wohlfahrtsverbände Deutschlands - die dort angeschlossenen Träger von Einrichtungen und Diensten angeschrieben. Es wurde um Informationen zum Stand der Vereinbarungsabschlüsse und um Zusendung entsprechender Vereinbarungen gebeten. Wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit wurde auf die statistisch korrektere Auswahl einer zufälligen und geschichteten Stichprobe verzichtet. Es wurden nahezu alle innerhalb von rund 4 Wochen eingehenden Einsendungen zur Auswertung in den Datensatz aufgenommen. Dabei handelt es sich um insgesamt 143 Einsendungen (131 von Jugendämtern, 12 von Trägern von Einrichtungen und Diensten), darunter 116 mit beigefügten Vereinbarungstexten. Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse der Auswertung der Empfehlungen, dann pauschale Informationen zu den 143 eingesandten Antworten und abschließend Resultate der Analyse von 60 ausgewählten Vereinbarungstexten vorgestellt. Empfehlungen zu Vereinbarungen nach § 8 a SGB VIII Die meisten Empfehlungen der sechs Verbände bzw. Organisationen beginnen mit einer ausführlichen Einführung in das Thema Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe bei Kindeswohlgefährdung (Erläuterungsteil). Im zweiten Teil münden sie dann in eine vorgeschlagene Mustervereinbarung. Der Deutsche Verein hat sich in diesem Zusammenhang allein auf umfängliche Hinweise zur kooperativen Wahrnehmung 342 uj 7+8 (2007) recht des Schutzauftrages gemäß § 8 a Abs. 2 SGB VIII beschränkt und keine Mustervereinbarung entworfen. Die Empfehlungen des DPW und der Caritas haben hingegen einen sehr kurzen Erläuterungsteil, fügen aber eine Mustervereinbarung bei. Direkte Vergleiche zwischen den einzelnen Empfehlungen sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Anlage kaum möglich, und dies ist auch hier nicht beabsichtigt. Für die abschließenden Vertragsparteien dürfte interessant sein: Die Empfehlungen gehen ausführlich auf die vorhandenen Kompetenzen der Träger von Einrichtungen und Diensten ein, je nach den spezifischen Möglichkeiten des Arbeitsfeldes zur Erfüllung des Kinderschutzes beizutragen. In den Empfehlungen kommt zum Ausdruck, dass der neue § 8 a SGB VIII eine ungleich größere Verbindlichkeit für die Träger von Einrichtungen und Diensten schafft als bisher. Dies bietet gleichzeitig die Möglichkeit, die Umsetzung dieses Auftrages zu qualifizieren, verbindlicher zu gestalten und systematisch abzusichern. Allerdings stellt der § 8 a Abs. 2 SGB VIII nach Aussage der Empfehlungen keine Grundlage dafür dar, dass Jugendämter Kompetenzen im Wege der Vereinbarungen an sich ziehen sollten, z. B. in Form allgemein schneller Meldepflicht der Träger an das Jugendamt im Falle gewichtiger Anhaltspunkte einer Kindeswohlgefährdung. Vielmehr sind zunächst eigenständige Verfahrensschritte des Trägers von Einrichtungen und Diensten gefragt, es sei denn, es handelt sich um Fälle dringender Gefahr, die keinen Aufschub dulden und in denen ein früher bzw. sofortiger Einbezug des Jugendamtes oder ggf. weiterer AkteurInnen wie Polizei, Gesundheitsamt u. Ä. angezeigt ist. Eine frühe Meldung an das Jugendamt wird auch für Einrichtungen und Dienste präferiert, die aufgrund ihres spezifischen Arbeitsfeldes mit weitergehenderen Handlungsverpflichtungen überfordert wären, z. B. Kindertageseinrichtungen. Ein Teil der Empfehlungen (ISA, DV, bke) plädiert daher für arbeitsfeldspezifische Differenzierungen bei den Vereinbarungsabschlüssen. In den Empfehlungen besteht ein relativ breiter Konsens über die Regelungsbereiche, die die Vereinbarungen enthalten und die zur Einhaltung von Verfahrensstandards im Kinderschutz beitragen sollen. Das Ablaufschema wird bei Kindeswohlgefährdung entlang der Vorgaben des § 8 a Abs. 2 SGB VIII als Regelungspunkt im Rahmen von Vereinbarungsabschlüssen erörtert. Darüber hinaus werden ausführliche Erläuterungen zu unbestimmten Rechtsbegriffen wie „gewichtige Anhaltspunkte bei Kindeswohlgefährdung“ und der „insofern erfahrenen Fachkraft“ gegeben. In der Mehrheit der Empfehlungen findet sich sodann der Vorschlag, eine Dokumentationspflicht zu allen Verfahrensschritten in die Vereinbarungen aufzunehmen, auf deren Grundlage die zu beurteilenden Situationen, die entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte und die jeweiligen Zuständigkeiten für den Einzelfall transparent und nachvollziehbar werden. Ebenso regt die Mehrheit der Empfehlungen an, zwecks Sicherung der Qualitätsentwicklung im Kinderschutz Regelungen zur Evaluation und Weiterentwicklung der Vereinbarungen aufzunehmen. Von einigen Empfehlungen wird schließlich auf die Notwendigkeit der Fort- und Weiterbildung von Fachkräften hingewiesen, da sie die zentralen AkteurInnen bei der Erfüllung des Schutzauftrages sind. Insgesamt zeigt sich ein breiter fachpolitischer Konsens, Kinderschutz als eine gemeinsame Aufgabe der Jugendhilfe zu begreifen und Sorge dafür zu tragen, kooperative Strukturen und geeignete Verfahrenswege zwischen allen Beteiligten zu schaffen. recht uj 7+8 (2007) 343 Stand der Vereinbarungsabschlüsse zum Kindesschutz nach § 8 a SGB VIII Abs. 2 Der Prozess des Abschlusses von Vereinbarungen scheint insgesamt noch im Fluss zu sein und wird - oft auch begleitet von gemeinsamen Arbeitstreffen, Workshops, Fort- und Weiterbildungen - meist partnerschaftlich vorangebracht. Rund ein Jahr nach Einführung des § 8 a SGB VIII sind bei rund 60 % der 143 Einsendungen, die aus nahezu allen Bundesländern stammen, Vereinbarungen zum Abschluss gekommen, darunter allerdings auch ein kleiner Teil „vorläufiger Vereinbarungen“, die zwar kurzfristig abgeschlossen wurden, jedoch nicht als endgültig ausgereift gelten können. Bei rund einem Viertel der Antworten befinden sich die Vereinbarungen noch im Entwurf und bei rund 20% noch in Planung, ohne dass bereits ein schriftlicher Entwurf zugesandt hätte werden können. Dieser doch recht erhebliche Verzug bei der Umsetzung des Schutzauftrages durch Vereinbarungsabschlüsse wird mit Diskussionsprozessen bei der Implementierung von Regelungen zum Kinderschutz, mit einhergehenden Konflikten (oft in Bezug auf die Definition und Finanzierung von „insofern erfahrenen Fachkräften“), mit Arbeitsüberlastung oder mit Warten auf orientierende Landesvereinbarungen begründet. Dort wo Vereinbarungen bzw. vorläufige Vereinbarungen vorliegen, ergab die Untersuchung, dass der überwiegende Anteil (64 %) der von 116 Jugendämtern und Leistungserbringern eingesandten Unterlagen nicht arbeitsfeldspezifisch konzipiert worden ist. Lediglich 25 % der Vereinbarungen entsprechen einer allgemein gehaltenen „Generalvereinbarung“ mit arbeitsfeldspezifischen Anhängen oder Zusatzvereinbarungen. Die alleinige Betrachtung der 42 arbeitsfeldspezifischen Vereinbarungen zeigt eine große Vielfalt bezüglich der vorgenommenen Arbeitsfeldunterteilungen, die sich überschneiden. Als Tendenz lässt sich feststellen, dass oftmals spezifische Regelungen für die Tagesbetreuung (vor allem Kindertagesstätten) getroffen werden. Häufig kommen auch Vereinbarungskombinationen vor, in denen ganz allgemein nach ambulanten und stationären Maßnahmen unterschieden wird, ohne Sonderregelungen zur Tagesbetreuung. In der großen Mehrheit (ca. 82 %) werden die 116 eingesandten Vereinbarungsunterlagen als eigenständige Vereinbarungen abgeschlossen. Im Unterschied dazu werden in 15 % der 116 Vereinbarungsunterlagen die Regelungen nach § 8 a SGB VIII an die Vereinbarungen über Leistungsangebote, Entgelte und Qualitätsentwicklung nach §§ 78 a ff SGB VIII anknüpfend geschlossen, oder die Regelungen zu § 8 a SGB VIII werden in diese integriert. Als zusätzliche Regelungsinhalte über den unmittelbaren Schutzauftrag nach § 8 a SGB VIII hinaus werden jeweils in mehr als zwei Drittel der Fälle die Verpflichtungen zum Datenschutz gem. §§ 61ff SGB VIII und zur Eignung der MitarbeiterInnen gem. § 72 a SGB VIII in die Vereinbarungen aufgenommen. Detaillierte Analyse der Vereinbarungstexte Nach detaillierter Auswertung von 60 ausgewählten Vereinbarungstexten lässt sich feststellen, dass der ganz überwiegende Teil der Vereinbarungen dazu genutzt wird, das Verfahren und die sich aus § 8 a Abs. 2 SGB VIII ergebenden Pflichten zu konkretisieren und so für die Vertragsparteien Handlungssicherheit herzustellen (ausführlich dazu Münder u. a. 2007, 30ff). Wie bereits durch die pauschale Auswertung aller eingesandten Vereinbarungen deutlich wird, ist die Mehrheit nicht ar- 344 uj 7+8 (2007) recht beitsfeldspezifisch ausgeformt, und wenn doch, betrifft das vorwiegend den Bereich der Tagesbetreuung. Hier wird in Anlehnung an die Empfehlungen ein „Schutzkonzept“ präferiert, das im Falle gewichtiger Hinweise auf Kindeswohlgefährdung eine umgehende Meldung an das Jugendamt vorsieht. In den übrigen Fällen wird ein „Präventionskonzept“ (vgl. ISA 2006, 24) verfolgt, das dem Träger von Einrichtungen und Diensten vor einer Meldung an das Jugendamt eine entsprechende Handlungskompetenz einräumt, bei gewichtigen Anhaltspunkten unter Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft selbstständig zu handeln und einer Kindeswohlgefährdung entgegenzuwirken. In knapp der Hälfte der untersuchten Vereinbarungen ist deutlich der Einfluss der Empfehlungen, vor allem der des Bayerischen Landesjugendamtes und des Instituts für soziale Arbeit, festzustellen. Hier werden zum Verfahren beim Kindesschutz Textbausteine aus den Empfehlungen oder auch die jeweiligen Indikatoren für Kindeswohlgefährdung übernommen. Dabei integriert ein Teil der Vereinbarungen nicht nur die dort vorgeschlagenen Verfahrensabläufe und -standards, sondern auch die Anregung, eine Dokumentationspflicht des Trägers vorzusehen. Schließlich enthalten die meisten Vereinbarungen Regelungen zu Evaluation und Erfahrungsaustausch über die abgeschlossenen Verfahren. Dies eröffnet die Chance, die Vereinbarungen und die jeweilige Praxis vor Ort in kritischen Punkten zu überprüfen und in den nächsten Jahren weiterzuentwickeln. Offene Fragen und Schlussbemerkung Tragen die Empfehlungen zur Standardisierung von Vereinbarungsinhalten bei und leisten die Vereinbarungen selbst einen wichtigen Beitrag zur Konkretisierung und Präzisierung des Schutzauftrages, so ist abschließend doch noch auf einige kritische Punkte und offene Fragen hinzuweisen: In einem bedeutenden Teil der untersuchten Vereinbarungen wird der Grundsatz der Einbeziehung von Personensorgeberechtigten sowie des Kindes oder Jugendlichen als gesetzlicher Verfahrensgrundsatz in die Vertragstexte nicht bzw. erst spät - auf der Stufe der Umsetzung des von Fachkräften erarbeiteten Schutzplanes - aufgenommen. Es entsteht dadurch der Eindruck, dass in diesem Bereich vom partizipativen Ansatz abgewichen wird, der den fachlichen Grundsätzen der Kinder- und Jugendhilfe entspricht. Nur in 20 % der Vereinbarungen ist die Hinzuziehung der Personensorgeberechtigten bzw. des Kindes/ Jugendlichen bereits konkret während der Abschätzung des Gefährdungsrisikos vorgesehen. Bezüglich des Verfahrens fällt überdies auf, dass nur knapp die Hälfte der Vereinbarungen ein besonderes abgekürztes Verfahren für Fälle dringender Gefahr vorsieht. In den übrigen Fällen fehlt in dieser Hinsicht eine Präzisierung und Konkretisierung des Verfahrens. Zum zentralen Begriff der „insoweit erfahrenen Fachkraft“ ist festzustellen, dass er nicht einheitlich definiert wird. Es bleibt in der Fachdiskussion zu klären, ob neben beruflicher Aus- und Fortbildung nicht notwendigerweise auch Erfahrungen im Kinderschutzbereich für ein adäquates Qualifikationsprofil der „insoweit erfahrenen Fachkraft“ erforderlich sind. Auf den im Einzelfall wichtigen Gesichtspunkt, dass bei der Heranziehung der „insoweit erfahrenen Fachkraft“ ggf. eine geschlechtsspezifische Beauftragung vorzunehmen ist, weist lediglich eine der 60 untersuchten Vereinbarungen gesondert hin. In den Vereinbarungen wird überdies die Frage der Finanzierung bei der Heranziehung einer externen Fachkraft weitgehend ausgeklamrecht uj 7+8 (2007) 345 mert. Damit ist die Frage verbunden, ob die - wohl aus Kostengründen - in manchen Fällen ausschließlich vorgesehene Hinzuziehung von Fachkräften des ASD als „insoweit erfahrene Fachkräfte“ für die Praxis eine sinnvolle Lösung darstellen kann. In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass vom Gesetzgeber mit § 8 a Abs. 2 SGB VIII eine direkte Information an den ASD im Jugendamt (also schon im Prozess der Wertung „gewichtiger Anhaltspunkte“ und der Abschätzung des Gefährdungsrisikos) nicht gewollt ist, sondern erst für den Fall, dass „die angenommenen Hilfen nicht ausreichend erscheinen, um die Gefährdung abzuwenden“ (vgl. Abs. 2 Satz 2; Münder u. a. 2006 FK - SGB VIII § 8 a Rz. 31; Wiesner u. a. 2006, § 8 a Rz. 39). Eine weitere Frage stellt sich bezüglich der Listen gewichtiger Anhaltspunkte im Anhang der Vereinbarungen, die nur vereinzelt arbeitsfeld- oder altersbezogen formuliert sind. Dies lässt zumindest in Einzelfällen fraglich erscheinen, inwieweit die verwendeten Indikatorenlisten für das jeweilige Praxisfeld wirklich tauglich sein können. Anhand der Untersuchungsergebnisse kann davon ausgegangen werden, dass die mit der Einführung des § 8 a Abs. 2 SGB VIII intendierte Verdeutlichung der Mitverantwortung der Träger von Einrichtungen und Diensten zum Schutze von Kindern und Jugendlichen gelungen ist. Die Vereinbarungen werden in der Regel dazu genutzt, die zum Kinderschutz festgelegten Pflichten der Vereinbarungsparteien zu konkretisieren, um so Handlungssicherheit herzustellen. Knapp anderthalb Jahre nach Einführung des § 8 a SGB VIII durch das KICK ist der Prozess des Abschlusses von Vereinbarungen bei der Mehrheit der Jugendämter jedoch noch nicht beendet. Das Prozedere der Umsetzung der Vereinbarungen beansprucht offensichtlich mehr Zeit, als dies zu erwarten war. In den Mitteilungen der Jugendämter wird darauf verwiesen, dass mit dem weiteren Abschluss ausgereifter Vereinbarungen der intensivierte Austausch zwischen den Parteien einhergehen wird. Dies und die durch die Vereinbarungen selbst bewirkte Zunahme an Handlungssicherheit werden sich positiv auf den Kinderschutz in Deutschland auswirken. Wie sich der Abschluss von Vereinbarungen nach § 8 a Abs. 2 SGB VIII unmittelbar auf die reale Fachpraxis auswirkt und welche getroffenen Regelungen dabei besonders viel oder wenig Effektivität zeigen, lässt sich allerdings nicht unmittelbar folgern, sondern bedarf weiterer Forschung. Literatur Bayerisches Landesjugendamt, Landesjugendhilfeausschuss, 2006: Empfehlungen zur Umsetzung des Schutzauftrags nach § 8 a SGB VIII. In: Jugendhilfe, 44. Jg., H. 3, S. 146 - 158 Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, 2006: Kindesschutz und Beratung. Empfehlungen zur Umsetzung des Schutzauftrages nach § 8 a SGB VIII. Materialien zur Beratung, Band 13. Fürth Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPW), 2006: Hinweise zur Umsetzung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdungen nach § 8 a SGB VIII und zum Abschluss entsprechender Vereinbarungen - Empfehlungen des Paritätischen Gesamtverbandes. Berlin Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., 2006: Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Umsetzung des § 8 a SGB VIII. In: NDV, 86 Jg., S. 494 - 501 Institut für soziale Arbeit e.V., 2006: Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung - Arbeitshilfe zur Kooperation zwischen Jugendamt und Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe. Münster Münder, J. u. a., 5 2006: Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim Münder, J./ Bindel-Kögel, G./ Hessler, M./ Smessart, A., 2007: Untersuchung zu den Vereinbarungen zwischen den Jugendämtern und den Trägern von Einrichtungen und Diensten nach § 8 a Abs. 2 SGB VIII. Berlin. www.tu-berlin.de/ fak1/ gsw unter „Forschungsprojekte“, 4. 4. 2007, 54 Seiten 346 uj 7+8 (2007) recht Schindler, H./ Huber, A./ Elmauer, E./ Braun, S./ Senge, F., 2005: Sicherstellung des Schutzauftrags des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung. Vereinbarung nach § 8 a neu SGB VIII. In: neue caritas, 106. Jg., H. 20, S. 34 - 35 Wiesner, R. u. a., 3 2006: SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. München Die AutorInnen Dr. Gabriele Bindel-Kögel/ Prof. Dr. Johannes Münder TU Berlin Fakultät 1 Geisteswissenschaften Sekretariat FR 4 - 7 Franklinstraße 28/ 29 10587 Berlin mail@gabibindel.de recht uj 7+8 (2007) 347 2007. 236 Seiten. 30 Abb. 11 Tab. (978-3-497-01911-3) kt € [D] 26,90 | € [A] 27,70 | SFr 45,80 Mit dem neuen Kindschaftsrecht von 1998 wurden die Autonomie der Eltern und die Rechte der Kinder gestärkt. Inwieweit werden die Anforderungen, welche sich aus dem neuen Gesetz ergeben haben, in der Praxis der Jugendhilfe umgesetzt? Die Autoren zeigen den aktuellen Stand der Umsetzung auf und geben Empfehlungen für eine qualitätsorientierte Weiterentwicklung der Praxis. a www.reinhardt-verlag.de
