unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Heimerziehung in Intensivgruppen mit Zwangselementen - ein Trend, den es aufmerksam zu beobachten und kritisch zu begleiten gilt
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Mathias Schwabe
David Vust
Zwei Trends scheinen die Heimerziehungslandschaft in den ersten 10 Jahren des neuen Jahrhunderts stärker zu prägen, als nach unserem Eindruck von der Fachöffentlichkeit wahrgenommen wird: Der eine besteht in der zunehmenden Spezialisierung in Form von Intensivgruppen als Antwort auf die fortgesetzten Einsparungen bei den "Regelgruppen", der andere in der mehr oder weniger offensiven und transparenten Integration von Zwangselementen in die Intensivgruppen- konzepte. Zum ersten Punkt haben wir kaum mehr als unsystematische Beobachtungen beizutragen; für das zweite Thema können wir auf erste Forschungsergebnisse verweisen.
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uj 1 (2008) Mutmaßliche Entwicklungstrends in der Heimerziehungslandschaft Es besteht Anlass zu der Vermutung, dass sich im Feld der Heimerziehung(en) ein Spezialisierungsschub vollzieht, der programmatisch kaum begründet oder reflektiert wird, sich aber gerade im Kampf um Auslastung bei allgemein sinkender Belegung als günstige Überlebensstrategie für Heimträger zu bewähren scheint. Nach Einschätzungen von MitarbeiterInnen aus sieben verschiedenen Landesjugendämtern haben seit dem Jahr 2000 die im jeweiligen Zuständigkeitsgebiet angesiedelten Intensivgruppen um mindestens ein Drittel und bis zu 50 % und mehr zugenommen, beispielsweise von 6 im Jahr 2000 auf 14 im Jahr 2007. In den westlichen Bundesländern scheint dieser Trend ausgeprägter als in den östlichen, in den Flächenstaaten deutlicher als in den Stadtstaaten. Genauere Erhebungen fehlen und sind auch nicht einfach zu erstellen, da das Feld der Intensivgruppen mittlerweile so breit gefächert ist wie das der Heimerziehung insgesamt. Für unsere allererste probatorische Befragung haben wir ganz pragmatisch den Pflegesatz bzw. das Entgelt zugrunde gelegt (höher als 160 Euro am Tag) und darauf geachtet, ob das Wort „Intensivgruppe“ im Konzept auftaucht und durch einen höheren Personalschlüssel gerechtfertigt erscheint. Internatsförmige Gruppen für Kinder und Jugendliche mit Legasthenie und anderen Teilleistungsstörungen fallen deswegen zunächst genauso in diese Sammelkategorie wie „Einrichtungen mit freiheitsentziehenden Maßnahmen“ (nach dem DJI-Begriff, vgl. Hoops/ Permien 2006, d. h. auch die bayrischen „Clearingstellen“), therapeutische Gruppen für junge Menschen, die sexuelle Übergriffe begangen neue impulse in der heimerziehung Heimerziehung in Intensivgruppen mit Zwangselementen - ein Trend, den es aufmerksam zu beobachten und kritisch zu begleiten gilt Mathias Schwabe/ David Vust Zwei Trends scheinen die Heimerziehungslandschaft in den ersten 10 Jahren des neuen Jahrhunderts stärker zu prägen, als nach unserem Eindruck von der Fachöffentlichkeit wahrgenommen wird: Der eine besteht in der zunehmenden Spezialisierung in Form von Intensivgruppen als Antwort auf die fortgesetzten Einsparungen bei den „Regelgruppen“, der andere in der mehr oder weniger offensiven und transparenten Integration von Zwangselementen in die Intensivgruppenkonzepte. Zum ersten Punkt haben wir kaum mehr als unsystematische Beobachtungen beizutragen; für das zweite Thema können wir auf erste Forschungsergebnisse verweisen. Unsere Jugend, 60. Jg., S. 5 - 25 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel uj 1 (2008) haben oder unter Essstörungen leiden, wie auchÜbergangshilfen mit dezidiertem Trainingsanspruch in Bezug auf schulische und soziale Kompetenzen (wie z. B. das weiter unten besprochene „Step by Step“ der Jugendhilfe Bethel OWL) oder Konzepte, die Heimerziehung, Erlebnispädagogik und ehrenamtliche Einsätze von Jugendlichen in Krisengebieten verbinden wie bei der Kurt-Hahn-Gruppe des Raphaelshauses in Dormagen (Stand 2005). O bwohl Begriffe wie „Lebensweltorientierung“ und die „Sozialraumnahe Unterbringung in flexiblen, kurzbis mittelfristig angelegten Hilfen über Tag und Nacht“ die programmatische Diskussion dominieren, wissen wir wenig darüber, ob sich Heimgruppen mit diesem Etikett bewähren bzw. warum parallel dazu Intensivgruppen mit überregionaler Belegung eher gut belegt sind (vgl. Meier/ Weißenstein 2007). Aber das kennen wir ja von der Jugendhilfe generell: Was die Fachverbände und die Jugendhilfereferenten propagieren und was im Feld tatsächlich gelebt und gearbeitet wird, kann sehr weit auseinander liegen. Andererseits werden die Standards für die sogenannten „Regelgruppen“ seit Jahren schleichend oder aber ganz offen abgesenkt. In Berlin z. B. kursierten in einigen Jugendämtern Listen von Heimen, die unter 100 Euro pro Tag kosten, mit der dringenden Empfehlung, diese anderen, kostenintensiveren Plätzen vorzuziehen. Die Heimträger passen sich an diese Absenkungen an, indem sie immer mehr - auch das stammt eher aus unsystematischen Beobachtungen in verschiedenen Städten als aus einer seriösen empirischen Untersuchung - auf über längere Zeiträume „innewohnende PädagogInnen“ setzen, die von externen Fachkräften ergänzt werden, oder Modelle wie „WAB“, d. h. „wechselnd alternierende Betreuung“, einsetzen. Hierbei „rotieren“ drei PädagogInnen, indem eine/ r für 5 - 7 Tage im Heim wohnt, ein/ e zweite/ r täglich für einige Stunden dazu kommt und ein/ e Dritte/ r gerade eine Woche Arbeit hinter sich hat und ausruhen darf. Auch das lässt sich weiter herunterfahren: In Brandenburg gibt es bereits Betriebsgenehmigungen für WAB-Gruppen, die nur noch aus zwei fest angestellten PädagogInnen bestehen, wenn diese auch nur noch 5 Kinder betreuen müssen. Ebenso stark wird an der Qualifizierungsschraube gedreht: Auch wenn das „Fachkräftegebot“ in der Heimerziehung nicht für alle Zielgruppen und immer sinnvoll ist, stimmt es doch mehr als traurig, dass man nur noch als ErzieherIn im Heim eine Chance auf tarifliche Bezahlung hat. SozialpädagogInnen mit FH- oder Uni-Abschluss bleiben immer stärker außen vor, obwohl der Heimerziehung seit Jahren bescheinigt wird, im Vergleich mit allen anderen Erziehungshilfen die Klientel mit den größten Belastungen und dem niedrigsten Niveau von Kompetenzen zu betreuen (siehe JES- Prof. Dr. phil. Mathias Schwabe Jg. 1958; Diplom- Pädagoge; Lehrstuhl für Soziale Arbeit an der Evangelischen Fachhochschule Berlin David Vust Diplom-Sozialpädagoge; NLP-Trainer und Systemischer Therapeut, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelischen Fachhochschule Berlin neue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) Studie des BFJFS 2002, 241f). Die Regelgruppe ist an vielen Orten im wahrsten Sinn des Wortes so „herunter gewirtschaftet“ worden, dass man sich nicht darüber wundern kann, wenn dort trotz engagierter ErzieherInnen mit höheren, fachlichen Ansprüchen nur noch Verwahrung, kaum aber noch individuelle Förderung stattfinden kann. Fernseher und Computerspiele werden zum strukturell notwendigen Ersatz für gemeinsames Tun und Erleben. In einigen Einrichtungen scheinen sich nach unserer Wahrnehmung Phänomene zu entwickeln, die man mit materieller, sozialer und kultureller „Verwahrlosung im Heim“ assoziieren kann. E ine dritte Tendenz scheint die Konsolidierung bzw. der weitere Ausbau der Erziehungsstellen und Lebensgemeinschaften darzustellen, die Kinder und Jugendliche in dezidiert private Zusammenhänge meist mit eigenen Kindern aufnehmen. So wichtig dieser Zweig der Heimerziehung geworden ist, so deutlich waren und sind doch auch seine Grenzen: Bereits im Erziehungsstellenbuch der Planungsgruppe PETRA von 1995 war von einer Abbruchrate um 35 % die Rede (PETRA 1995, 104). Auch nach unseren Aktenauswertungen in drei Intensivgruppen bestätigte sich, dass mindestens jede oder jeder zweite/ r BewohnerIn in einem Regelheim oder einer erziehungsstellenartigen Situation gelebt hat, bevor sie/ er dort hinkam. So günstig solche familiennahen Arrangements als Entwicklungs-Milieu sein können (vgl. Wolf 2005), so sehr kann die dort vorherrschende große Nähe für im Familienkontext misshandelte Kinder fehlindiziert sein; und so wenig „robust“ erweisen sie sich verständlicherweise dort, wo die aufgenommenen Kinder die eigenen Kinder oder die eigene Partnerschaft bedrohen. Die Stärke dieser Arrangements ist auch hier zugleich eng mit ihren strukturellen Schwächen verkoppelt. Dass sie z. B. als Angebot vor allem in privater Trägerschaft relativ „billig“ sind, stellt die eine Seite der Medaille dar; dass sie von außen schwer einsehbar sind und private Dynamiken das Setting bedrohen oder sprengen können, gehört zu ihren Schattenseiten. F ür den oben skizzierten, zugegebenermaßen noch auf wackligen empirischen „Beinen“ stehenden Entwicklungstrend der Ausdehnung der Intensivgruppen gibt es unserer Auffassung nach mehrere, miteinander verschlungene Gründe, die zum Teil auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind: 1. Noch immer wird von seiten der Jugendämter die Hilfeform „Heimerziehung“ häufig spät gewährt; statt nach der fachlich angemessenen Hilfeform zu fragen, folgt man der irrigen Prämisse „erst einmal ambulant, stationär kann warten“. Dadurch werden Belastungen im familiären Binnenraum für Kinder oft unzumutbar lange aufrechterhalten. Wenn die Kinder dann ins Heim kommen, sind sie älter und verhalten sich in vielen Fällen misstrauisch gegenüber Beziehungsangeboten, beharren auf ihrer „Pseudo-Autonomie“ („mir hat keiner was zu sagen! “), die jahrelang eine adäquate Überlebenshilfe dargestellt hat, und verhalten sich oft so aggressiv oder „gestört“, dass sie in der Regelgruppe bald als „untragbar“ gelten. 2. Sicher erwuchsen aus programmatischen Impulsen wie „Lebensweltorientierung“ und „Partizipation“ in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wichtige Veränderungsanstöße für die in weiten Teilen noch anstaltsnahe Heimerziehung. Rückblickend bleibt allerdings zu konstatieren, dass sich einige Anforderungen an die Heime in diesem Rahmen offenneue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) bar nicht bewältigen ließen. Eine betrifft die häufig bereits verhärteten und zum Teil sehr speziellen Symptome, mit denen junge Menschen in die Heime kamen. Mit den Prinzipien „Entspezialisierung“ und „Normalisierung“ alleine war diesen offenbar nicht zu helfen. Die Spezialisierung der Intensivgruppen mit ihrer dezidiert klinischen Orientierung ist deshalb als Antwort auf diese „Lücke“ zu begreifen. Eine andere offene Herausforderung betrifft unserer Meinung nach die dezidiert auf Partnerschaft zwischen PädagogInnen und Kindern/ Jugendlichen setzenden Konzepte, die das Problem der „strukturellen Anomiegefahr“ von Heimgruppen aus dem Blick verloren hatten (Schwabe 2001, 171ff). Themen wie Konfrontation, Grenzen setzen, Machtkämpfe mit Jugendlichen durchstehen und die Frage, wie auf Grenzverletzungen und Regelverstöße deutlich und eindrucksvoll zu reagieren wäre, blieben lange Zeit unterthematisiert. Auch in der Ausbildung haben solche Themen kaum eine Rolle gespielt, weshalb junge KollegInnen sich im Heimalltag oft hilflos und überfordert fühlen. Ähnliches gilt für die Frage, wie man mit und für Jugendliche eine berufliche Perspektive „basteln“ kann, die häufig gerade eben oder noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss schaffen. Welche Perspektiven bieten sich ihnen unter heutigen Arbeitsmarktbedingungen? Wozu sollen sie lernen und sich weiterqualifizieren? Für die Jugendämter hinterließen Heime nicht selten den Eindruck: „Wenn es schwierig wird, kommen die auch nicht weiter …! “, was die Heimerziehung nicht gerade empfehlenswert gemacht hat. „Als Notnagel, wenn nichts mehr anderes geht: ja! Als tragfähige Perspektive für Entwicklung: Nein! “, so mögen viele MitarbeiterInnen aus den Ämtern denken. 3. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien stehen seit Jahren unter einem starken Druck vonseiten der Krankenkassen zu immer kürzeren Verweildauern in den Kliniken und immer früheren Zuweisungen in das ambulante psychiatrische Netzwerk. Die Zahl der finanzierten Tage ist im Zehnjahreszeitraum fast um die Hälfte reduziert worden (vgl. Erderly 2002). Von daher stehen immer wieder junge Menschen zur Entlassung in Heime an, die im Grunde noch eine längere Zeit im „Schutzraum Klinik“ benötigten. Und doch müssen sie „raus“, und da bieten sich Intensivgruppen aus Sicht der Kliniken und der Jugendämter eher an als Regelgruppen. Beim Aktenstudium in solchen psychiatrienahen Intensivgruppen der Jugendhilfe fiel uns wiederholt auf, dass die Klinik-Diagnosen bisweilen oberflächlich und seriell wirkten, die Berichte erst Monate nach der Entlassung aus der Klinik versandt wurden. Zu kollegialen, wechselseitigen Hospitationen zwischen den MitarbeiterInnen der beiden Systeme gerade in der Eingewöhnungszeit eines neuen Kindes oder Jugendlichen kommt es aus Zeit und Kostengründen nur sehr selten. Jedes System muss nach unserer Wahrnehmung für sich und das eigene Überleben sorgen, da bleibt keine Kraft zur Gestaltung von Übergängen. Wenn man all diese Gründe überblickt, wird deutlich, warum Spezialisierung in Form von Intensivgruppen als eine zwar sinnvolle, aber auch unreflektiert kompensatorische Antwort der Heimerziehung auf ihre ungelösten Probleme im Binnenraum, aber auch auf die Mängel der angrenzenden Systeme eingeschätzt werden kann. neue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) Ob dieser Trend zu einer weiteren Dichotomisierung der Heimlandschaft führt, ist noch nicht absehbar: Erstversorgung scheinbar pflegeleichter Kinder in billigen Regelgruppen, Verlegung massiv auffällig gewordener Jugendlicher in Intensivgruppen, wäre jedenfalls eine Schreckensvision, die es zu verhindern gälte. Aber wer will das ernsthaft, wenn es doch auch so zwischen Jugendämtern und Freien Trägern scheinbar einvernehmlich „gut läuft“? Möglich wäre allerdings auch, dass die gesamte Heimerziehung von den Erfahrungen der Intensivgruppen profitiert: Wenn es dort gelingt, mit einem höheren Personalschlüssel eine ansprechende, aktivierende Tages- und Wochen-Strukturierung zu organisieren, eine gute Mischung aus Kontrolle einiger weniger verbindlicher Regeln und individueller Beratung bei der Entwicklung eigener Perspektiven, wenn es gelingt, gezielte Fördereinheiten für Einzelne und Gruppen anzubieten, die teils therapeutischen Charakter besitzen, teils praktische Erfolgserlebnisse vermitteln (z. B. in Form von selbst hergestellten Produkten oder von Zertifikaten, mit denen man sich für eine Ausbildung oder einen Job bewerben kann), dann könnten daraus auch Anstöße zur Aufwertung der Heimerziehung insgesamt resultieren. I ntensivgruppen stellen im Erleben aller Beteiligten einen „weiteren Versuch“ dar, nachdem andere Versuche der Beheimatung und Nach-Erziehung gescheitert sind. Vonseiten der Kinder und Jugendlichen ist dieser neue Versuch häufig mit einem hohen Maß an Unfreiwilligkeit verbunden; dementsprechend ambivalent begegnen sie dem neuen Angebot, das von ihnen selten frei gewählt wurde und nicht selten mit dem Hinweis begonnen wird, dass dies „der letzte Versuch“ sei, ohne dass sich der/ die Jugendliche danach wirklich „befreit“ sehen könnte. Was dann folgen könnte, wird von den Erwachsenen, ausgesprochen oder nicht, als noch unangenehmer dargestellt: geschlossene Unterbringung, Gefängnis oder das Leben auf der Straße … E ine der zentralen Aufgaben aller Intensivgruppen ist nach unserer Beobachtung die Beantwortung der Frage, wie ein halbwegs sicherer und geregelter Alltag hergestellt werden kann, oder - wem die Wortwahl lieber ist - wie berechenbare und zuverlässige Verhältnisse geschaffen werden können, in denen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene einigermaßen klar ist, was von ihnen erwartet wird. Der Sicherheitsaspekt scheint wichtig, weil man es hier mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, die bisher eher viele gewalttätige Übergriffe erlebt, diese aber auch selbst schon begangen haben. Das droht sich auch im Heim zu wiederholen. Der Regelaspekt scheint uns genau so wichtig, weil viele der Kinder und Jugendlichen nicht daran gewohnt sind, unverhandelbare Regeln oder ausgehandelte Absprachen einzuhalten, sondern bisher überwiegend spontan und eigenmächtig agiert haben. Jede Regeleinhaltung stellt somit eine Herausforderung an ihre Illusion einer weitreichenden eigenen Autonomie oder gar Omnipotenz dar. Für die PädagogInnen ist es einerseits wichtig, zentrale Regeln durchsetzen zu können, ohne dass es dabei andererseits zu häufig zu Eskalationen kommen darf. Klar ist, dass sich Sicherheit und Ordnung nicht einfach und schon gar nicht dauerhaft durchsetzen lassen, sondern sich im Rahmen von Beziehungen als gemeinsam gewollte Standards für das Zusammenleben entwickeln müssen. Und doch kann man häufig nicht warten, bis sich die Beziehungen zwischen jungen Menschen und PädagogInnen so weit gefestigt haneue impulse in der heimerziehung 10 uj 1 (2008) melten Punkte festgelegt wird, wobei auch die anderen Kinder bzw. Jugendlichen als Mit-Juroren fungieren. Als wir in dieser Gruppe hospitieren, erleben wir das Geplante in einer guten Form umgesetzt: Die PädagogInnen agieren gegenüber den Kindern und Jugendlichen freundlich, aber bestimmt, mit viel Humor und einem guten Blick dafür, wer Ermutigung braucht und wo Überforderung droht und man Regeln deshalb flexibilisieren muss. Darüber hinaus fallen uns die vielen herzlichen und spielerischen Körperaktivitäten auf, zu denen sich Kinder und Erwachsene immer wieder zusammenfinden. Wir erfahren allerdings auch, dass Regeln immer wieder mit Hilfe von Körperkraft durchgesetzt werden. Wenn ein Kind oder Jugendlicher sich z. B. verweigert, sein Putz- Amt zu verrichten oder noch einmal zu machen, weil es als zu „schlampig“ beurteilt wurde, bekommt er mehrere Hinweise dazu, wie er noch einlenken kann; wenn das ausbleibt und er dann auch noch wütend und aggressiv wird, weil ihm das „aus der Situation Gehen“ nicht gestattet wird, wird er von ein oder zwei, wenn nötig auch drei PädagogInnen überwältigt und auf dem Boden festgehalten, bis er eine Art von Einwilligung in die vom Pädagogen erhobenen Forderungen signalisiert. Das kann zwischen 5 Minuten und zwei Stunden dauern. Dies alles wird nach unseren Beobachtungen ganz offen erläutert und praktiziert. Die ErzieherInnen üben das „auf den Boden Legen des Kindes/ Jugendlichen“ im Rahmen ihrer Treffen regelmäßig ein, damit sie es rasch und mit geringer Verletzungsgefahr für ihre Gegenüber und sich selbst praktizieren können. Fast alle der von uns befragten Kinder hatten diese Prozedur schon ein- oder mehrmals erlebt. Sie sprachen darüber ohne für uns wahrnehmbare Angst, wenn es auch für einige ein unangenehmer bzw. peinlicher Vorfall gewesen zu sein ben, dass die Anpassungsleistungen freiwillig erbracht werden. Eine Möglichkeit, mit diesem Dilemma umzugehen, besteht darin, den gewünschten Zustand zunächst mit Zwangselementen abzusichern. Allerdings setzen bei Weitem nicht alle der in den letzten 3 - 10 Jahren gegründeten Intensivgruppen auf Zwangselemente. Wie sie stattdessen für Sicherheit und Ordnung sorgen oder wie sie deren Fehlen kompensieren und trotzdem eine sinnvolle pädagogische Arbeit machen, müsste dringend systematischer erforscht werden, auch um gerade Alternativen zu Zwangselementen zu schaffen. Die Heime, die die Zwangselemente offen praktizieren, legen Wert darauf, dass man diese nicht isoliert betrachten darf und dass diese nur ein Settingelement unter vielen anderen darstellen. Nicht selten ist aber von diesen Zwangselementen im Konzept gar nicht oder nur am Rande die Rede, obwohl sie in der pädagogischen Praxis und im Erleben der Kinder eine bedeutsame Rolle darstellen. Nicht untypisch ist nach unserer Erfahrung die folgende Situation: Eine spezifische Intensivgruppe weist in ihrer schriftlichen Konzeption und ihrer mündlichen Eigendarstellung vor allem auf eine klare Wochenstruktur mit vielen attraktiven, körperbezogenen Aktivitäten und ihr Punktesystem hin, über das jeden Tag Belohnungspunkte für Verhaltensweisen wie pünktliches Aufstehen und Schulbesuch etc. gesammelt werden können. Die Zahl der Punkte bestimmt u. a. über die Reichhaltigkeit des Abendprogramms und die Freiheiten, die man in der nächsten Woche genießen kann. Die Kinder und Jugendlichen strengen sich also zunächst deswegen an, weil es sich für heute und für nächste Woche lohnt. Höhepunkt des Tages ist deswegen die Abendrunde, in der für jeden individuell die Zahl der gesamneue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) 11 scheint. Alle erklären, dass „das“ bei ihnen nur am Anfang nötig war, „jetzt schon länger nicht mehr…“, wobei dieses „länger“ je nach Aufnahme des Kindes oder Jugendlichen zwischen 2 Jahren und 4 Wochen variierte. Das deckt sich auch mit den Aussagen der PädagogInnen. Wie soll man dieses „auf den Boden Legen“ fachlich einschätzen? Man kann darin zunächst eine Art Eingangs-Ritual erkennen, mit dem den Kindern und Jugendlichen relativ am Anfang ihres Aufenthalts deutlich gemacht wird, dass die PädagogInnen zur Durchsetzung von Regeln über das Machtmittel Körperkraft verfügen und auch bereit sind, es einzusetzen, alleine oder zu mehreren. Man kann das als den verwerflichen Versuch bewerten, den „Willen des Kindes zu brechen, um es gefügig zu machen“. Immerhin muss man dann aber zur Kenntnis nehmen, dass die Gesamtatmosphäre in dieser Gruppe eher entspannt und familiär wirkt und die PädagogInnen viele andere Aktivitäten unternehmen, die dem Kind/ Jugendlichen den Start und das Leben im Heim eher angenehm machen. Dagegen kann man einwenden: „Zuckerbrot und Peitsche, typisch schwarze Pädagogik! “ Man kann diese Handlung aber auch als einen sehr körpernahen Akt begreifen, mit dem die PädagogInnen den Kindern/ Jugendlichen Sicherheit und Ordnung vermitteln bzw. „hautnah“ erleben lassen. Man könnte denken, dass sie damit an das Erleben von 3bis 5-jährigen Kindern anknüpfen, die solche Eingriffe noch eher akzeptieren können, auch weil sie sich auch auf anderen körperlichen Ebenen noch stärker mit den Eltern - oder deren Stellvertretern - verbunden fühlen. Das würde auch erklären, warum die von uns befragten Kinder bzw. Jugendlichen bei der Befragung durch uns eher „beschämt“, aber kaum „gekränkt“ auf diese Form der Grenzsetzung reagierten. Auch wenn man diese Konstruktion teilte, müsste man auf das Risiko hinweisen, dass nicht jeder Erwachsene im Umkreis dieser Kinder zu solch eindrucksvollem und gekonntem Grenzensetzen in der Lage ist. Dagegen könnte man wiederum einwenden, dass es sich dabei scheinbar um relativ wenige Akte handelt, die eher in einem zeitlichen Übergang angesiedelt sind und auch nur auf den Ort Heim als einer Art von „Nachreifungs-Station“ beschränkt bleiben sollen. Wie auch immer die Bewertung ausfällt, klar ist, dass man es hier mit einem Zwangselement zu tun hat. Leider kommen solche Zwangsmomente in vielen Heimen zum Einsatz, ohne dass sie Teil einer pädagogischen Kultur wären wie in der oben geschilderten Gruppe. Einzelne PädagogInnen wenden in bestimmten Situationen Zwang an, häufig alleine, in emotionaler Erregung und ohne zu wissen, wie die KollegInnen oder die Vorgesetzen darüber denken. Oder man kommt kollektiv überein, dass das aus Gründen struktureller Mängel z. B. in der Personal- oder Raumausstattung so sein muss, dass darüber aber nicht offiziell gesprochen werden darf. Man deckt sich gegenseitig, zumindest so lange nichts Schlimmes passiert. Im obigen Beispiel wird das Zwangselement zwar offen praktiziert und nach jeder Anwendung intern - mit Team und Gruppenleitung - reflektiert, nach außen aber intransparent gehalten: Es findet weder in der Konzeption eine ausdrückliche Erörterung noch wird es z. B. im Hilfeplangespräch thematisiert. Das bringt den Nachteil mit sich, dass dieses Zwangselement zwar intern als notwendig und legitim angesehen wird, sich aber nicht in einer fachöffentlichen Diskussion bewähren muss. Auch was die Eltern dazu sagen und ob sie ihre Einwilligung dazu geben, wird nicht systematisch erfasst. Erst dann neue impulse in der heimerziehung 12 uj 1 (2008) könnten dafür auch Verfahren und Qualitätsstandards entwickelt werden, die es auch offiziell legitimieren könnten. Insofern bewegt sich auch die oben geschilderte Einrichtung mit dieser Praxis in einem fachlichen und rechtlichen „Graubereich“ (vgl. Krause/ Peters/ Spernau/ Wolff 2006). D er Gedanke, dass Zwangselemente offengelegt werden und eine offiziell legitimierte Rolle spielen könnten und sollten, wird bei vielen TheoretikerInnen und PraktikerInnen der Heimerziehung allerdings auf Unverständnis und Abwehr stoßen: In Bezug auf längerfristige Trends kann und muss man sich fragen, was es bedeutet, dass die Jugendhilfe nach gut 30 Jahren der relativen Reserviertheit gegenüberZwangselementen und derThematisierung von Kinderrechten sich nun wieder stärker mit der Möglichkeit von Zwang im Rahmen von Erziehung beschäftigt: • Droht damit ein Rückfall in überwunden geglaubte „autoritäre“ und „repressive“ Erziehungspraxen (siehe auch Wensierski 2005), die mit einer „Lawand-Order“-Politik und konservativen Strömungen auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen einhergehen? Oder gibt es heute erstmalig die Chance zu einer Synthese, in der bisher getrennt und antagonistisch Gedachtes - Kinderrechte auf der einen und die Professionalisierung von Zwangselementen auf der anderen Seite - zusammenfinden kann? • Handelt es sich dabei um eine fachlich anspruchsvolle Weiterentwicklung der „alten“ häufig unreflektierten Zwangspraxen, jetzt endlich mit klarem Auftrag, transparenter Durchführung und rechtlich geklärter Basis? Oder schlägt das Pendel gerade in Zeiten der restriktiven Sparpolitik wieder zurück zu einer Jugendhilfe mit überwiegend ordnungspolitischem Auftrag? Wie so oft dürften ganz verschiedene Antriebskräfte bei der aktuellen Entwicklung mit im Spiel sein und ihr Zusammenwirken wahrscheinlicher als nur eine Schubkraft. Ausgangslage und Phänomene sind beim Thema „Zwang“ nicht eindeutig. Das wurde schon im Rahmen des oben geschilderten Booms von Intensivgruppen deutlich. Die Gefahr für falsche, weil so nicht einlösbare politische oder pädagogische Versprechen eingespannt zu werden, ist nach unserer Einschätzung ebenso groß wie die Chance, bisher verdeckt praktizierte Zwangselemente aus dem „institutionellen Graubereich“ herauszuholen, aufmerksam zu durchleuchten und erstmalig mit Qualitätsstandards zu versehen. Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt über Zwangselemente in der Heimerziehung Damit sind wir beim Forschungsprojekt angekommen, das der Fachverband Evangelische Erziehungshilfe Westfalen (Eckart) in Auftrag gegeben hat und das wir von April 2004 bis Oktober 2006 durchgeführt haben (vgl. ausführlich: Evangelische Jugendhilfe 2005, 159ff). Drei Mitgliedseinrichtungen haben daran teilgenommen: • Intensivgruppe „die Spatzen“ der Einrichtung Grünau-Heidequell im Evangelischen Johanneswerk Bielefeld (Kinder von 6 bis ca. 12 Jahren) • Intensivgruppe „Step by Step“ der Jugendhilfe Eckehardt, Bethel (Jugendliche von 13 bis 18 Jahren) • Intensivgruppe „Wellenbrecher“ des Jugendhofes Porta Westfalica (Kinder von 9 bis ca. 14 Jahren) neue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) 13 Ziel des Projektes war es herauszufinden, ob und in welchem Ausmaß Kinder und Jugendliche, die bereits aus anderen Heimgruppen entlassen wurden, durch „besondere Interventionsformen“, die auch „institutionelle Zwangselemente“ enthalten, Anstöße für eine sozial verträglichere und selbst als positiv eingeschätzte Entwicklung erhalten, welche Risiken und Nebenwirkungen dabei deutlich werden und welche Qualitätsstandards dafür eingeführt werden müssen. Die „Zwangselemente“, die untersucht wurden, bestehen in • der Nutzung eines „Auszeitraumes“ bei den „Spatzen“ und den „Wellenbrechern“ (Räume wurden entsprechend gestaltet, nach Einschätzung der lokal verantwortlichen Familienrichter „Freiheitsbeschränkung“, deswegen keine richterliche Genehmigung erforderlich), • nächtlichem Einschluss bei den „Spatzen“ (ein Zimmer wurde entsprechend umgestaltet, freiheitsentziehende Maßnahme mit richterlicher Genehmigung), • stundenweise geschlossenen Türen und ausstiegssicheren Fenstern bei den „Wellenbrechern“ und bei „Step by Step“ (Freiheitsbeschränkung), • einem verpflichtenden Punkte-/ Stufenprogramm mit Aufstiegs- und Abstiegs- Optionen in Bezug auf 4 Lebensqualitätsstufen bei „Step by Step“, • verpflichtenden Aktivitäten im Bereich Freizeit und Arbeit bei den „Wellenbrechern“ und bei „Step by Step“ (notfalls mit Mitteln der Freiheitsbeschränkung umgesetzt). Selbstverständlich beschränken sich die Konzepte der genannten Intensivgruppen nicht auf diese „Zwangselemente“. Diese sind in ein jeweils breit angelegtes und differenziert ausgestaltetes, sozialpädagogisches Konzept eingebettet und sollten von ihrer Bedeutung für die Wirkungen des Gesamtsettings weder unternoch überschätzt werden. Im Rahmen dieses Artikels können wir nur Ausschnitte des Forschungsmaterials und der Ergebnisse präsentieren. Eine ausführliche Dokumentation auf CD-Rom ist über den Eckart- Fachverband (Frau Hippauf, Postfach 24 04, 48011 Münster) zu beziehen. Auf pädagogische Begründungen für Zwangselemente, gerade was ihre Anwendung in Heimen bzw. Institutionen betrifft, können wir an dieser Stelle nicht eingehen (vgl. Neumann 2003). Wir verweisen dazu auf unseren Artikel in der EJ (H. 4/ 2006) bzw. den demnächst erscheinenden Aufsatz in der Zeitschrift „Widersprüche“ (H. 106/ Nr. 4/ 2007), die dazu ein kritisches Themenheft gemacht hat, sowie unser Buch „Zwang im Heim“, das im Frühjahr 2008 beim Reinhardt Verlag München erscheinen wird. Im Rahmen dieses Aufsatzes wollen wir ganz pragmatisch einige ausgewählte Ergebnisse vorstellen. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Fallzahl insgesamt zu klein war, um daraus verallgemeinerbare Prinzipien abzuleiten (intensiv beobachtet wurden insgesamt nur 35 Kinder und Jugendliche). Zum anderen befanden sich alle drei Intensivgruppen zum Zeitpunkt der Untersuchung noch im Erprobungsstadium der Konzeptionen, in dem zahlreiche Elemente etabliert und modifiziert werden mussten. Auch die MitarbeiterInnen-Teams waren noch nicht stabil. Von zahlreichen anderen Einrichtungen haben wir erfahren, dass es mindestens zwei bis drei Jahre dauert, bis eine neue Konzeption „rund“ läuft. Insofern sind unsere Ergebnis-Dokumentationen als erste Trendmeldungen zu werten. Das konstruktive Potenzial, das in den Konzeptionen steckt, dürfte noch nicht ausgereizt sein. Die zwangsläufigen Anfangsfehler sind nach unserer Beobachtung aufmerksam wahrgenommen und energisch reduziert worden. neue impulse in der heimerziehung 14 uj 1 (2008) Auszeiträume Auszeiträume sind verletzungsarm gestaltete Räume, in die Kinder auch gegen ihren Willen gebracht werden, wenn sie bestimmte, immer wiederkehrende, vorher klar definierte (aggressive) Verhaltensmuster zeigen oder in eine Krise mit Hocherregung und schwer zu steuerndem Verhalten geraten (vgl. ausführlicher Abschlussbericht „Auszeitraumnutzung“ auf der CD-Rom). Das Hilfeplangespräch ist der Ort, an dem der Einsatz des Auszeitraumes beschlossen und ausgewertet werden muss. Dient der Raum der Unterbrechung von destruktiven Verhaltensmustern, so kann zwischen einer begleiteten Nutzung und der Isolierung des Kindes (Time-out) unterschieden werden. Bei der begleiteten Nutzung geht ein/ e PädagogIn mit dem Kind in den Raum hinein, die Türe wird nicht abgeschlossen, der/ die PädagogIn verweilt mit dem Kind im Raum, bis der Konflikt geklärt ist. Hier steht die Beziehungsarbeit mit dem Kind im Vordergrund. Die Botschaft lautet: „Diesen Konflikt wollen wir mit Dir austragen und durchstehen! “ Mit „Time-out“ ist dagegen eine verhaltensmodifikatorische Prozedur gemeint, bei der das Kind einen „Strafreiz“ erleben und ihm dabei alle Zuwendung bzw. Aufmerksamkeit entzogen werden soll und es deswegen für kurze, vorher festgelegte Zeit isoliert wird (vgl. Kazdin 1980). Die Botschaft lautet: „Wenn Du Dich so verhältst, führt das zu Deiner Isolierung! “ Die beiden MitarbeiterInnen-Teams der „Spatzen“ und „Wellenbrecher“ bevorzugten eindeutig die „begleitete Nutzung“. Ein klassisches Time-out wurde nur in einem Fall für einen Jungen als nötig erachtet, der die Mitarbeiterinnen im Raum massiv attackierte und den Raum eher als Einladung zum Ausagieren dieser aggressiv-sadistischen Impulse erlebte. Z wischen den Einrichtungen und dem Landesjugendamt (LJA) Westfalen- Lippe wurde eine ganze Reihe von Verfahrensstandards, Dokumentations- und Meldeverpflichtungen sowie Qualitätssicherungsmaßnahmen entwickelt. Diese können als vorbildlich gelten und sollten von anderen Einrichtungen als Orientierung genommen werden. 1. Die Betriebserlaubnis für den Auszeitraum gilt immer nur für zwei Kinder, die vor der Anwendung der Auszeit beim Landesjugendamt namentlich angemeldet werden müssen. Die Betriebsgenehmigung gilt nur für den Rahmen einer Intensivgruppe und ist ausdrücklich beschränkt auf Kinder. Die Beschränkung auf zwei Plätze soll verhindern, dass der Raum bereits belegt ist, während ein zweites oder drittes Kind zur Nutzung ansteht. 2. Für Kinder, die bereits vorher in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Timeout-Behandlung erfahren haben und bei denen die Fortsetzung derselben empfohlen wird, sollen die behandelnden Ärzte möglichst bereits vor der Aufnahme im Heim eine schriftliche Empfehlung verfassen. Offen bleibt, ob diese dann im Heim in Form eines Time-out mit Isolation oder in Form einer begleiteten Auszeit durchgeführt werden soll. Hier sind einzelfallorientierte Lösungen anzuvisieren, mit der Maßgabe, sie genau zu beobachten und gegebenenfalls zu revidieren. 3. Für Kinder, bei denen die Idee der Auszeitraumnutzung neu entsteht, muss vor Beginn der Maßnahme ein individuelles Auszeitkonzept verfasst werden, in dem die Gründe für die geplante Maßnahme, die damit angestrebten Ziele, Chancen und Risiken der Auszeitnutzungen und konkrete Absicherungsverfahren etc. beschrieben werden. Jedes individuelle Auszeitkonzept muss das zu unterbrechende Verhalten genau beschreiben und belegen, neue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) 1 was an bisher erfolglosen Veränderungsversuchen vorangegangen ist. Wenn es sich um eine Erstnutzung im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe handelt, muss ein Kinder- und Jugendpsychiater an der Erarbeitung dieser individuellen Auszeitkonzeption beteiligt oder diese ihm zu einer formlosen Begutachtung mit Zustimmung vorgelegt werden. Unter anderem ist dabei auch die Zwangsgeschichte des Kindes möglichst genau zu rekonstruieren, beispielsweise, ob das Kind früher „eingesperrt“ oder in einer Konfliktsituation „misshandelt“ wurde, um etwaigen Re-Traumatisierungen vorzubeugen. 4. In beiden Fällen - Verhaltensmuster- Unterbrechung mit Begleitung oder mit Isolierung (Time out) - müssen die Maßnahmen im Hilfeplangespräch allen relevanten PlanungspartnerInnen vorgestellt und dort gemeinsam verabschiedet werden. Es ist klar, dass es sich dabei nicht nur um eine schnelle, formale Zustimmung handeln darf nach dem Motto „die Fachleute haben bereits entschieden“, sondern um einen gemeinsamen Abwägungsprozess von Chancen und Risiken der Auszeitraumnutzung, an dem Eltern, Jugendamt, MitarbeiterInnen und auch das Kind in angemessener Form beteiligt werden müssen. Im Hilfeplanprotokoll sind Konsens- und Dissensgründe festzuhalten, ebenso wie Fristen, innerhalb derer Eltern z. B. ihre Zustimmung geben oder in welchen Abständen sie von der Häufigkeit der Raumnutzungen informiert werden wollen. 5. Alle Eltern und alle Jugendämter werden im Aufnahmeprozess eines neuen Kindes über die konzeptionelle Besonderheit „Auszeitraum“ informiert. Das betrifft auch die aufzunehmenden Kinder. Diese Vorab-Information soll dazu beitragen, dass Eltern und Kinder etwaige Erlebnisse oder Berichte rund um die Auszeitraumnutzung besser einordnen können. Sie dient aber auch dazu, die grundsätzliche Akzeptanz für Zwangselemente zu prüfen, auch deshalb, weil es bei dieser Zielgruppe prinzipiell bei jedem Kind geschehen kann, dass eine solche Nutzung den Eltern vorgeschlagen wird. 6. JederAuszeitraumnutzungs-Prozess wird von regelmäßigen kinder- und jugendpsychiatrischen Fallbesprechungen begleitet. Diese ist bei den „Spatzen“ sowieso vorgesehen. Wie oft diese Fallbesprechung stattzufinden hat bzw. wie oft jedes Auszeitkind dort besprochen werden muss, ist nicht festgelegt. 7. Jedes der Auszeitraum-Kinder bekommt zusätzlich eine Form therapeutischer Begleitung. In dieser Forderung zeigt sich der Anspruch, dass die Auszeitprozedur auf keinen Fall die einzige Art der „Behandlung“ sein darf, die das Kind in Grünau erfährt, sondern dass es auch andere Formen der therapeutischen und heilpädagogischen Förderung erfahren soll. 8. Jede Auszeitraumnutzung ist auf einem dafür vorgesehenen Formblatt zu dokumentieren und zeitnah dem LJA, dem örtlich für das Kind zuständigen Jugendamt und den Eltern mitzuteilen. 9. Mit jedem Kind ist nach jeder Raumnutzung eine persönliche Reflexion in kindgemäßer Sprache durchzuführen. Die Meinungen und Kommentare des Kindes sind möglichst im Wortlaut zu dokumentieren. 10. Der Raum muss von außen einsehbar sein. Während der Nutzung sollen die KollegInnen von außen regelmäßig beobachten, wie es dem/ der KollegIn und dem Kind (begleitete Auszeit) oder dem Kind alleine (Time-out) geht, und gegebenenfalls intervenieren. Zeiträume für den Sichtkontakt sind dafür nicht vorgeschrieben. neue impulse in der heimerziehung 1 uj 1 (2008) 11. Unmittelbar nach Beginn der Auszeitraumnutzung oder parallel zu dieser ist die Rufbereitschaft zu informieren. Diese kommt unverzüglich auf die Gruppe zu, begleitet die Auszeit, wenn auch aus der Distanz, und interveniert nur, wenn sie es für nötig hält oder darum gebeten wird (z. B. wenn sich das Kind durch die PädagogInnen nicht beruhigen lässt). Das Schema auf der folgenden Seite (Abb. 1) bietet einen Überblick über die Nutzung in beiden Intensivgruppen. Die Auszeitraumnutzung bei den Spatzen Da nur für die „Spatzen“ eine exakte Dokumentation vorliegt, beschränken wir uns in Bezug auf die Auszeiträume auf die Darstellung der Ergebnisse aus Beobachtungen dieser Intensivgruppe. In dem Beobachtungszeitraum von 11/ 02 bis 7/ 06 fanden bei den „Spatzen“ 23 Auszeitraumnutzungen mit zwangsweiser Verbringung statt, 33, wenn man die Raumnutzungen hinzuzählt, bei denen vorher von Zwang betroffene Kinder nach Aufforderung mit in den Raum gegangen sind, und 40 Nutzungen, wenn man die freiwilligen Nutzungen vormals von Zwang betroffener Kinder berücksichtigt. Zusätzlich wurde der Auszeitraum in seiner Funktion als Selbst- Beruhigungsraum im Beobachtungszeitraum von mindestens drei Kindern, die nicht zur Auszeitraumnutzung angemeldet waren, mehrmals aufgesucht. In einem Fall musste ein Kind, das zur Nutzung angemeldet war, nie in den Raum gebracht werden, obwohl die schriftliche Empfehlung zu einer solchen Nutzung seitens einer Psychiatrie vorlag. Die durchschnittliche Dauer der im Auszeitraum verbrachten Zeit beträgt 25 Minuten. Unterschiede zwischen Timeout- und begleiteter Auszeit-Nutzung in Bezug auf die Nutzungsdauer fallen nicht ins Gewicht. Das Durchschnittsalter der vier NutzerInnen beträgt ca. zehn Jahre. Aus drei Nutzungsprotokollen über jeweils zwei Wochen, die wir durchgeführt haben, geht hervor, dass der Raum etwa neunmal im Monat zu Spielaktivitäten genutzt wird, im Winter wesentlich häufiger als im Sommer. Bei zwei Befragungen aller Kinder der Gruppe wurde deutlich, dass der Raum für die Kinder nicht mit Angst verbunden ist und in ihrem Bewusstsein als attraktiver Spielbzw. Rückzugsraum verankert ist. In zwei Fällen wurde der Raum nur ein einziges Mal eingesetzt. In einem Fall viermal gegen den Willen des Kindes, daran schlossen sich Nutzungen auf Aufforderung durch die PädaogInnen bzw. freiwillige Nutzungen an. Hier wie auch in zwei weiteren Fällen bei den „Wellenbrechern“ wurde ein Nutzungstyp erkenntlich, der mit Zwang beginnt und im weiteren Verlauf immer freiwilliger wird. Nur in einem einzigen Fall gab es mehr als 17 zwangsweise Nutzungen bei einem Kind, das auch in der Psychiatrie über 30 Mal in den Time-out-Raum gebracht wurde. Auch wenn bei Planung und Entscheidung immer ein Kinder- und Jugendpsychiater mit dabei war, ging zumindest bei der langen Interventionskette nach unserem Eindruck der Kontakt mit dem Kind in seiner Gesamtheit verloren bzw. fand ein sich immer wieder infrage stellendes und neu aktualisiertes Fallverstehen zu wenig statt. Die Grenzen zwischen einer umsichtigen und klar strukturierten „Behandlung“ und einer „Behandlungs-Maschine“, der das Kind ausgeliefert ist und die sich aufgrund therapeutischer und pädagogischer Sprachspiele gegen Zweifel und Protest abdichtet, liegen nahe beieinander. neue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) 1 Name/ Alter Heim Häufigkeit Verlauf und Ergebnisse und Dauer Leo 1 4 Mal Anlass waren aggressive Übergriffe auf Kinder 10 Jahre über 4 Monate und Erwachsene. Die Intervention erfolgte geplant. Leo wehrte sich anfangs sehr heftig gegen den Trans- 4-6 Mal port in den Raum. Im Raum tobte er bis zu einer freiwillig Stunde, sodass die Person im Raum mehrfach bzw. auf abgelöst werden musste. Leo ging später 2 Mal auf Aufforderung Aufforderung mit in den Raum; wieder später nutzte er den Raum etwa 5 Mal auf Hinweis oder von sich aus alleine. Die aggressiven Übergriffe gingen deutlich zurück. Norbert 1 1 Mal Es handelte sich um eine einmalige Krisen- 11 Jahre intervention. In Folge des Aufdeckens traumatischer Erlebnisse in der Therapie kam es zu einem Zustand der Übererregung mit Einschlafschwierigkeiten und nächtlichem Randalieren. Im Raum konnte sich Norbert schnell beruhigen und die Hilfe der Betreuerin annehmen. Thekla 1 1 Mal Es handelte sich um eine geplante Intervention 10 Jahre (begleitete Auszeit) aufgrund von wiederholten, heftigen aggressiven Übergriffen auf Erwachsene. Nach einer einmaligen Grenzsetzung kam es zu keinem weiteren Übergriff. Das Mädchen reagierte sehr beschämt. Nico 1 17 Mal Nico suchte Konflikte anfangs zur Regulierung 10 bzw. über 10 Monate innerer Spannungen. „Präventive Eskalation“ als 11 Jahre geplante Intervention, aber auch zur Begrenzung 12 Mal aggressiver Übergriffe auf andere Kinder und freiwillig bzw. Erwachsene. PädagogInnen gingen mit in den Raum. auf Aufforderung Später entwickelten sich zunehmend sadistische Formen von Aggressivität. Während eines Psychiatrie: Psychiatrieaufenthaltes machte er Erfahrungen mit 38 Mal „Time-out“ anlässlich aggressiver Übergriffe. über 6 Monate Zurückgekehrt in die Einrichtung „genoss“ er die begleitete Auszeit und steigerte das aggressive Verhalten. Deswegen Übergang zum „Time out“, anfangs mit deutlicher Abnahme der Aggressivität, die sich dann aber eher stabilisierte. Über einen Abbruch der Intervention wurde nach 16 Monaten Interventionsdauer nachgedacht. neue impulse in der heimerziehung 1 uj 1 (2008) D ie Chancen von Auszeiträumen bestehen darin, dass aggressive Kinder länger in der Gruppe gehalten und nicht in die Kinder- und Jugendpsychiatrie verlegt werden müssen. Dazu trägt wesentlich bei, dass die PädagogInnen mit dem Auszeitraum über ein Machtmittel verfügen, das ihnen auch für schwierige Situationen Handlungsoptionen zur Verfügung stellt. Risiken entstehen dort, wo Fachleute den Auszeitraum zur Kompensation struktureller Probleme (zu wenig Personal oder Räume etc.) nutzen oder mit ihm in eine unverstandene Falldynamik intervenieren. Gefährlich wäre es, wenn Auszeiträume zur stunden- oder tagelangen Isolierung bzw. Bestrafung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt würden, meist weil diese gewalttätig agiert haben, ohne dass dies offen gemacht wird. Solche Praxen gibt es wohl vor allem im Rahmen geschlossener Gruppen. In erster Linie sollten Auszeit- Name/ Alter Heim Häufigkeit Verlauf und Ergebnisse und Dauer Tom 2 6 Mal Tom wurde aufgrund aggressiver Übergriffe, die 11 Jahre über 6 Monate zum Teil Fremdgefährdungscharakter besaßen, 4 - 6 Mal anfangs spontan, später geplant in den Raum freiwillig gebracht. Dies geschah bei mittelstarker Gegenwehr. bzw. nach Er beruhigte sich dort relativ schnell. Später suchte Aufforderung er den Raum mehrfach von sich aus auf, sei es zum Rückzug, sei es zum Ausagieren von Wut. Die aggressiven Übergriffe gingen stark zurück. Kevin 2 3 Mal Kevin wurde aufgrund aggressiver Verweigerungen 12 Jahre über 3 Monate gegenüber PädagogInnen in den Raum gebracht (begleitete Auszeit). Er wehrte sich heftig, zeigte sich auch anschließend uneinsichtig. Die Verweigerungen gingen deutlich zurück. Hans 2 1 Mal Es handelte sich um eine Grenzsetzungssituation, Es handelte sich um eine Grenzsetzungssituation, 14 Jahre bei der die Rolle des Raumes vorher nicht geklärt war (begleitete Auszeit). Nach heftiger Gegenwehr wurde auf eine Wiederholung der Intervention verzichtet. Später: Entlassung des Jugendlichen wegen aggressiver Übergriffe auf Kinder und Jugendliche und Verweigerung der Mitarbeit. Thilo 2 1 Mal Es handelt sich um eine Krisensituation mit Hoch- 13 Jahre erregung. Der Transportweg war zu lange. Der Pädagoge ging mit in den Raum. Nach heftiger Gegenwehr wurde auf eine Wiederholung der Intervention verzichtet. Abbildung 1: Konkrete Nutzungen in beiden Intensivgruppen Fortsetzung von Abbildung 1 neue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) 1 prozeduren nur bei Kindern angewandt werden, nicht bei Jugendlichen, weil Letztere die Überwältigung noch stärker als Kränkung wahrnehmen. Auszeiträume bei Jugendlichen sind nur sinnvoll, wenn sie selbst in diese gehen. Dazu kann man durchaus Druck machen (siehe z. B. Auszeiträume in Hauptschulen). U nbefriedigend stellt sich bei diesem Zwangselement die rechtliche Situation dar: Während das Landesjugendamt Westfalen die Nutzung mit und ohne Begleitung als einen massiven Eingriff in Grundrechte betrachtet und deswegen als „Freiheitsentzug“, sahendie örtlichzuständigen FamilienrichterInnen auch nach Besichtigung vor Ort keinen „Genehmigungsbedarf“ für diese Art der - nach ihrem Eindruck - überwiegend pädagogischen Intervention (also nur „Freiheitsbeschränkung“). Eine weitere Klärung der juristischen Tatbestände wäre sinnvoll. Aufgrund der körperlichen Überwältigung, die mit diesem Zwangselement zumindest bei den ersten Anwendungen einhergeht, sehen auch wir den Tatbestand des „Freiheitsentzuges“ erfüllt. Die Gruppe „Wellenbrecher“ (Heim 2) hat übrigens aus den zum Teil ungünstigen Ergebnissen der Untersuchung Konsequenzen gezogen: Der „Auszeitraum“ wurde aufgelöst; dieses Zwangselement nicht mehr für nötig erachtet. Was an dessen Stelle getreten ist, ob es Wechsel bei der Zielgruppe oder ähnliches gab, werden wir bei einer geplanten Nachuntersuchung im Sommer 08 beobachten. Zeitweise geschlossene Türen und ausstiegssichere Fenster Einseitig kontrollierbare Schließmechanismen wurden sowohl in der Gruppe „Step by Step“ als auch in der Gruppe „Wellenbrecher“ eingerichtet. In beiden Häusern wird die Eingangstüre zu bestimmten Zeiten abgeschlossen: während der internen Beschulung am Vormittag (ca. zwei bis drei Stunden), während der Mittagsruhe (ca. eine Stunde), während des Abendessens bzw. der Tagesreflexion und während der Nachtruhe (ca. sieben Stunden). Aufgrund der zeitlichen Befristung gilt dies - auch im Einvernehmen mit dem zuständigen Landesjugendamt - als „Freiheitsbeschränkung“, nicht als „Freiheitsentzug“. Alle Fenster in den beiden Häusern sind ausstiegssicher, d. h. können nur gekippt oder gar nicht geöffnet werden. In der Intensivgruppe „Step by Step“ für Jugendliche ist der an die Türen delegierte Zwang relativ total: Ohne Schlüssel kann man das Haus nicht verlassen; den Schlüssel besitzen nur die PädagogInnen. In der Gruppe „Wellenbrecher“ können die Kinder durch das Umschlagen eines Mechanismus die Türen öffnen, wobei gleichzeitig eine Alarmsirene ertönt. Diese Form der Schließung kam nicht aufgrund pädagogischen Nachdenkens zustande, sondern wurde vom Brandschutzmeister des Kreises eingefordert. Fast alle Kinder haben den Mechanismus schon einmal ausprobiert. Die Kinder haben das Gefühl, aus dem Haus weglaufen zu können, wenn es unbedingt nötig wäre. Deswegen erleben sie die geschlossene Türe und die nur auf Kippe zu öffnenden Fenster nicht als Zwang. Sie erleben diese Einschränkungen lediglich in bestimmten Situationen als lästig. Mehrere Kinder können zustimmen, dass die Schließzeiten ihnen dabei helfen, dazubleiben und sich nicht vor unangenehmen Aufgaben (z. B. interne Beschulung) zu „drücken“. Inzwischen sind sich die PädagogInnen aus der Gruppe „Wellenbrecher“ nicht mehr sicher, ob sie die „geschlossenen Türen“ und Fenster noch brauchen. Zumindest bei den derzeit anwesenden Kindern, die sich gut auf die neue impulse in der heimerziehung 20 uj 1 (2008) Gruppe und ihre Anforderungen eingelassen haben, scheinen diese Settingelemente überflüssig geworden zu sein. Insofern könnten sie als eine Art „Starthilfe“ definiert werden, die im weiteren Verlauf obsolet werden kann (oder auch nicht). Auch die Jugendlichen von „Step by Step“ äußern: „Wenn’s sein muss, komm ich hier raus“, was allerdings bei dieser Einrichtung nur mit massiver Gewaltanwendung möglich sein würde. Die Jugendlichen bei „Step by Step“ reagieren auf den zeitlich befristeten Zwang zum Aufenthalt deutlich negativer als die Kinder: Manche fühlen sich erheblich eingeschränkt (z. B. die Raucher), andere eher herausgefordert, es trotzdem zu probieren. Für die Mehrheit der Jugendlichen stehen unangenehme Assoziationen im Vordergrund: Die geschlossenen Türen und Fenster erinnern sie an Psychiatrie („Klapse“) oder Jugendarrest („Knast“), beides Institutionen, die etliche bereits erlebt haben. Für manche steht bei der Ablehnung die bange Frage im Hintergrund: „Bin ich denn tatsächlich so schlimm, dass ich eingeschlossen werden muss? “ Für andere ist es eher die Frage: „Was denken andere von mir, wenn sie sehen, dass ich in einer solchen Gruppe leben muss? “ Beide Male berührt der Zwang, dem sie sich ausgesetzt sehen, ihr Selbstbild. Für andere Jugendliche stellen die geschlossenen Elemente aufgrund der zeitlichen Befristung nach eigenem Bekunden kein Problem dar; aber auch sie fürchten zum Teil, von anderen Jugendlichen - innerhalb oder außerhalb des Heimgeländes - als „krasse Fälle“ stigmatisiert zu werden. Für die PädagogInnen der Gruppe „Step by Step“ stellen die zeitweise geschlossenen Türen und Fenster ein wichtiges Settingelement dar: Sie berichten von anderen Gruppen mit ähnlicher Klientel, in denen die Jugendlichen nachts immer wieder entweichen, Alkohol und Drogen konsumieren und deswegen früh so übermüdet sind, dass sie nicht bereit bzw. fähig sind aufzustehen. Solche nächtlichen Ausflüge sind nun nicht mehr möglich. Der Schulbesuch am Morgen hat sich nach den Hilfeplanbilanzen in sehr hohem Maße verstetigt. Wer in der heimeigenen Schule mehrmals nicht ankommt, bekommt eine interne Beschulung auf der Gruppe durch eine/ n von der Schule entsandte/ n LehrerIn. Die am Morgen geschlossenen Türen garantieren so die Beschulung der in der Gruppe Verbliebenen. Die Heranführung an Schule, die bei „Step by Step“ bei fast allen Jugendlichen gelingt, die den Rahmen der Gruppe annehmen und nicht entweichen, wäre nach Einschätzung der PädagogInnen ohne dieses Settingelement nicht möglich gewesen. Zwar sind sich die PädagogInnen sehr wohl bewusst, dass der erzwungene Schulbesuch spätestens nach einem Übergang in eine andere Gruppe wieder aufgegeben werden kann. Dennoch besteht die Hoffnung, auf diesem Weg die zur Routine gewordene und mit starken Versagensängsten verbundene Schulabwehr zeitweilig „aufzubrechen“, womit die Erfahrung verbunden sein kann, dass Schule weniger schlimm ist als befürchtet bzw. das eigene Leistungsvermögen besser als gedacht. Für ein Drittel der Jugendlichen kam tatsächlich auf diese Weise ein neuer und nachhaltig nutzbarer Zugang zur Schule zustande; andere Jugendliche entzogen sich dem Heim und damit allen Anforderungen. Anders als bei den Kindern, die in der Regel eine höhere Verweildauer aufweisen, scheint dieses Settingelement bei den Jugendlichen für die gesamte Aufenthaltsdauer nötig zu sein, da es vor allem von den „Neuen“ getestet wird, während sich die „Älteren“ daran gewöhnt haben. Die materiell deutlich abgesicherte Form der Schließung bei „Step by Step“ im Vergleich mit der eher „lockeren“ Form der neue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) 21 Schließung bei den „Wellenbrechern“ scheint einerseits nötig und angemessen, beinhaltet andererseits ein Paradox: Bei einem „Umschlagmechanismus“ würden die Jugendlichen mit großer Wahrscheinlichkeit häufiger entweichen. Diese Art der Schließung käme ihnen vermutlich zu „schwach“ vor und würde sie eben dadurch „beleidigen“, nach dem Motto „… mit so einem Kinderkram wollt Ihr uns harte Jungens aufhalten, wisst Ihr überhaupt, wer wir sind? “ Gleichzeitig wäre eine Form der Schließung wie bei den „Wellenbrechern“ für die Jugendlichen in entwicklungspsychologischer Perspektive eventuell herausforderungsvoller, da sie auf eine Mischung von Fremd- und Selbstzwang setzt, während die Form der Schließung bei „Step by Step“ derzeit nur auf den Fremdzwang baut (vgl. Wolf 1999). Wie man sieht, kommt es hier stark darauf an, wie man die Schließung „präsentiert“ und wie die Jugendlichen sie „verstehen wollen“. D ie Spannung zwischen dem Erleben der Jugendlichen und dem, was die PädagogInnen als Erziehungsnotwendigkeiten sehen, blieb in der Gruppe „Step by Step“ bestehen und war nicht weiter aufzulösen. Die deutlich geäußerten Nebenwirkungen, von denen die Jugendlichen berichten, können bestenfalls eine nachträgliche Legitimierung durch die Lebenswege der Jugendlichen erfahren. Bisher haben alle regulär entlassenen Jugendlichen an die erzwungene Regelmäßigkeit des Schulbesuchs auch unter freieren Bedingungen anknüpfen können. Nächtlicher Einschluss Dieses Konzeptionselement war im Rahmen der Untersuchung nur in der Intensivgruppe „Spatzen“ verankert. Es ist klar, dass es sich hierbei um eine „freiheitsentziehende Maßnahme“ handelt, die in jedem Einzelfall der richterlichen Genehmigung bedarf. Mit der Schaffung eines für nächtlichen Einschluss geeigneten Raumes (mit eigenem Bad etc.) wollte sich die Einrichtung die Möglichkeit schaffen, auch solche Kinder aufzunehmen, die vor allem nachts fremd- oder selbstgefährdend agieren bzw. auch in der Nacht einer ähnlich dichten Kontrolle bedürfen wie am Tag. Gedacht war hierbei insbesondere an Kinder, die sexuelle Übergriffe begehen oder zu diesen einladen, und Kinder, die Feuer legen oder überwiegend nachts entweichen und sich damit in Gefahr bringen. Im gesamten Zeitraum der Untersuchung kam der Raum nicht zur Anwendung. Seitdem die Betriebserlaubnis erteilt wurde, hat nur ein Junge den nächtlichen Einschluss erlebt. Von ihm war bekannt, dass er nachts in der elterlichen Wohnung umherlief und Dinge demontierte und verschmutzte. Auch hatte dieser Junge einmal den Backofen eingeschaltet und dort vorher Spielsachen deponiert. Eine Aufnahme des Jungen konnte erfolgen, weil mit dem nächtlichen Einschluss und der vorangehenden Leibesvisitation garantiert werden konnte, dass das Handeln des Jungen keine negativen Konsequenzen für die anderen Kinder im Haus haben würde. Der nächtliche Einschluss diente überwiegend der Sicherheit der anderen Kinder. Wie intensiv der Junge vor seiner Aufnahme gezündelt hat, kann heute nicht mehr klar rekonstruiert werden. Fakt ist, dass er es sowohl bei den „Spatzen“ als auch in der nächsten Einrichtung in intensiver Weise getan hat und davon ein massives Gefährdungspotenzial ausging. Ob durch die Fokussierung auf das Symptom das Zündeln noch verstärkt wurde oder ob es von Anfang an so zentral war, wie es sich später darstellte, können wir nicht sagen. Entscheidend ist, dass mit dem nächtlichen neue impulse in der heimerziehung 22 uj 1 (2008) Einschluss das Symptom in seiner Gefahr für andere wesentlich entschärft werden konnte. Allerdings wurde das Auftreten des Symptoms trotz eines intensiven Behandlungsplanes nicht besser oder weniger. Der Junge wurde auch tagsüber stark kontrolliert, aber er zündelte weiter und entwickelte immer höhere Fähigkeiten bei der geheimen Beschaffung von Streichhölzern, Feuerzeugen, Schlüsseln etc. Manchmal schien er wie in einen Wettkampf mit den PädagogInnen zu treten, wer denn die Kontrolle über das Symptom bekäme. Unserer Auffassung nach wurde die Feuer- und Demontierungs-Faszination des Jungen zu wenig in einen Prozess des Fallverstehens eingebracht. Sicher war es nötig, den Jungen aufgrund des hohen Gefährdungspotenzials insgesamt strikt zu kontrollieren. Zugleich wurden die Möglichkeiten kontrollierter Kontrolllücken, z. B. das zwanzigminütige Übergeben eines Feuerzeugs mit der Erlaubnis, an bestimmten Plätzen zu zündeln, und ähnliche Angebote, zu wenig ausprobiert. Der nächtliche Einschluss hat es für die Einrichtung möglich gemacht, den Jungen aufzunehmen und damit die Voraussetzungen seiner Erziehung und Therapie zu schaffen. Diese verliefen (mit einem später geplanten Übergang in eine andere Einrichtung) trotz vieler guter Ansätze eher enttäuschend. So wird deutlich: Der nächtliche Einschluss kann nur ein Anfang sein; er alleine stellt weder Erziehung noch Therapie dar. Verpflichtende Punkte- und Stufenpläne Diese Programme verknüpfen Verhaltensanforderungen an Jugendliche mit der täglichen Vergabe von Punkten (z. B. für morgendliches Aufstehen, Schulbesuch etc.), die über Wochen gesammelt werden und den Zugang zu Lebensqualitätsstufen ermöglichen, die immer reicher mit Privilegien ausgestattet sind. In ein und derselben Gruppe stehen den Jugendlichen also je nach Stufe verschiedene Privilegien und Annehmlichkeiten zur Verfügung. Bei einer Zunahme von unerwünschten Verhaltensweisen verlieren die Jugendlichen Punkte, was zu einer Degradierung auf eine niedrigere Stufe mit weniger Privilegien führt. Sinn dieser Konzepte ist es, einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, in dem sich Jugendliche Belohnungen verdienen können und müssen. Damit werden die Anforderungen klar und der Alltag strukturiert. Dadurch können die Jugendlichen aber auch Erfahrungen mit Selbstwirksamkeit machen: Wenn sie sich bemühen, sind sie in der Lage, die Verhaltensanforderungen zu erfüllen, und tragen so selbst dazu bei, dass sie bestimmte Privilegien genießen können. Bei einer Teilgruppe der von uns beobachteten Jugendlichen (etwa ein Drittel, N = 24) sind die kombinierten Punkte-/ Stufenpläne in der Lage, sie zu Anstrengungen zu motivieren. Ein zweites Drittel lehnt es aber ab, sich auf einen solchen Rahmen einzulassen. Ob dies vor allem an dem Punkteprogramm liegt oder am Fehlen anderer für sie notwendiger Settingelemente, wie z. B. attraktive Aktivitäten und Personen, können wir nicht sagen. Ein letztes Drittel zeigt sich zwar mehr oder weniger bereit, an dem Punkteprogramm teilzunehmen, muss aber aufgrund von innerer Strukturlosigkeit, massiver Drogenabhängigkeit oder hintergründiger depressiver Tendenzen als überfordert angesehen werden. Ihre inneren Möglichkeiten reichen (noch) nicht aus, um an dem Programm erfolgreich teilnehmen zu können. Für sie müssten die Anforderungen noch weiter abgesenkt bzw. individualisiert werden, damit sie in absehbarer Zeit zu Erfolgserlebnissen im Rahmen von „Aufstieneue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) 23 gen“ kommen. Manche von ihnen lassen sich dadurch zu anderen, für sie adäquateren Hilfeformen motivieren. Andere drängen, wie die Jugendlichen der zweiten Gruppe, nach draußen und brechen den Aufenthalt ab. F ür die PädagogInnen haben die Punktepläne noch einen zusätzlichen Sinn, den man nicht unterschätzen sollte: Mit Hilfe der Punktepläne gelingt es, ein gewisses Maß an Ordnung in der Gruppe zu etablieren oder aufrechtzuerhalten, das als Grundlage für Beziehungsaufbau und Lernprozesse gelten kann (wenn diese dann auch stattfinden). Punkte-/ Stufenpläne stellen ein potentes Machtmittel dar, mit dessen Hilfe destruktive Formen von Anarchie und Chaos, die in solchen Gruppen ausbrechen können, zumindest eingedämmt werden können. Allerdings sollten die PädagogInnen aufmerksam darauf achten, nicht nur in Bereichen Ordnung zu schaffen, die ihnen den Erziehungsalltag in der Gruppe erleichtern, sondern auch in solchen Bereichen, die vor allem für die Jugendlichen Bedeutung besitzen. Offensichtlich müssen etliche von ihnen noch immer ein hohes Maß an Einschüchterung und Gewalt seitens der Mitzöglinge in Kauf nehmen. Die bisher angebotenen Formen, dieses Tabu-Thema offen zu machen, reichen nicht aus. Fazit • Formen von Zwang sind weder pädagogische Allheilmittel, mit denen man alle „schwierigen“ Kinder und Jugendlichen erreichen kann, noch sind sie anderen sozialpädagogischen Konzepten (erlebnispädagogische Ansätze, Intensive Sozialpädagogische Einzelfallhilfe etc.) im Umgang mit dieser Zielgruppe überlegen. Weder eindeutig noch überhaupt. Sie dürfen aber genauso wenig automatisch mit „Willen brechen“ und „Machtmissbrauch“ gleichgesetzt werden. Zwang stellt eine sozialpädagogische Option dar. • Institutionelle Zwangselemente wirken mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht isoliert oder an sich, sondern in ihrer Einbettung in ein stimmiges Gesamtsetting. Für Kinder und Jugendliche bleibt die Hauptfrage: Ist das ein Ort, an dem ich mich wohl fühlen kann? Wird mir vonseiten der PädagogInnen - zumindest immer wieder - mit prinzipiellem Wohlwollen begegnet? • Insbesondere bei Auszeiträumen (bei 2 von 3 Kindern) und bei Punkteprogrammen (bei etwa einem Drittel der Jugendlichen) konnten wir Bildungsbewegungen beobachten, die von Fremdzwängen hin zu Selbstzwang und Eigenmotivation verliefen und durchaus nachhaltig wirkten. Auch aus als „schräg“ und unangenehm erlebten Anfängen können sich gute Lernprozesse entwickeln. • Alle Formen von Zwang stellen den MitarbeiterInnen in den Einrichtungen invasive Machtmittel zu Verfügung, deren Anwendung intern und extern sorgsam kontrolliert werden muss (vgl. Wolf 1999). Dazu dienen zum einen die Hilfeplanung, zum anderen gemeinsam mit dem Landesjugendamt zu entwickelnde Qualitätsstandards (Dokumentation jeder Anwendung von Zwang und deren Auswertung) und zum dritten regelmäßige Befragungen der von Zwangselementen betroffenen Kinder und Jugendlichen. Diese sollten mindestens jährlich von externen Beobachtern durchgeführt werden. • Die Gefahr von Machtmissbrauch bleibt bei Zwang ein Dauerthema und muss in der Kultur der Einrichtung einen eigenen Ort der Reflexion bekomneue impulse in der heimerziehung 24 uj 1 (2008) men. Machtmissbrauch wird geschehen, aber er muss so schnell wie möglich aufgedeckt und bearbeitet (das schließt auch das Eingeständnis eines Fehlers ein) und dadurch minimiert werden. Allerdings sollte man auch die Gefahren bzw. Schäden untersuchen, die durch den Verzicht auf invasive Erziehungsformen entstehen. In der Regel wird bei eskalierten Jugendhilfe-Karrieren mit akuter oder latenter Selbst- und Fremdgefährdung beides mit hohen, wenn auch unterschiedlichen Risiken behaftet sein: die Anwendung von Zwang und die weniger invasiven Alternativen. • Zwang und Kinderrechte müssen kein Widerspruch sein. Erstens ist die rechtliche Grundlage von Zwangselementen „sauber“ zu klären. Zweitens können und müssen Kinder und Jugendliche in die Art und Weise der Zwangsausübung mit einbezogen werden: Innerhalb bestimmter Vorgaben gibt es bei jedem Zwangselement eine Menge zu entscheiden, das man dem Kind überlassen oder mit ihm aushandeln kann (vgl. dazu das Konzept der „Behandlungsvereinbarung“ aus der Akutpsychiatrie bei Dietz u. a. 1998). Statt rigider Prinzipien (z. B. „nie alleine im Auszeit- Raum lassen! “) sollte man offen und sensibel für individuelle Unterschiede sein („Ich beruhige mich schneller, wenn Ihr abhaut! “). • Nach unseren Evaluationserfahrungen mit dem Konzept „Bude ohne Betreuung“ (BOB) in Berlin scheint es bei Jugendlichen ab 15/ 16 Jahren mindestens genauso sinnvoll zu sein, auf Settings zu setzen, die fast jede „pädagogische“ Regelsetzung vermeiden und den Jugendlichen einen maximalen Freiraum zum„Experimentieren“mitihrengrenzgängerischen Verhaltensweisen bereitstellen. Das Erleben dieses Freiraums führt die Mehrzahl der BOB-Jugendlichen nach 8 bis 10 Monaten sowohl zu einem Gefühl von „Langeweile“ als auch zu Konflikten mit Polizei oder Lebensweltpartnern, aus denen die Jugendlichen häufig besser lernen können als aus pädagogisch arrangierten Situationen. Allerdings sind die „Kollateralschäden“ dieser pädagogischen Strategie für das umliegende Gemeinwesen und die Immobilie des Trägers unter Umständen außerordentlich groß. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass sich einzelne Jugendliche in dieser Art der „Einrichtung“ zu wenig geschützt fühlten oder eine ehemals Betreute im Gefängnis an einer Überdosis Heroin starb (Evaluationsskript erhältlich über das Institut für Innovation und Beratung (INIB), M. Schwabe, Postfach 370255, 14132 Berlin). Auch hier sind Risiken und Nebenwirkungen zu beobachten und schwer zu kontrollieren. • Eine andere, ebenso denkbare Alternative wäre es, die Anwendung von Zwangssettings und Zwangsformen überwiegend oder ganz an das Gefängnis zu delegieren, die Jugendhilfe davon aber frei zu halten, ohne sich dabei als das „bessere System“zufühlen.Wünschenswert wäre dann allerdings, dass die Jugendhilfe die Zeit im Gefängnis aktiv nutzt, um Beziehungen zu den Jugendlichen aufzubauen, die eine Betreuung nach dem Gefängnis tragfähig und fruchtbar machen können. Die klare Unterscheidung von Verantwortungsbereichen (hier Kontrolle, dort Hilfe) bei der gleichzeitigen Verkoppelung von Aufgaben (Festsetzen zum Beziehungsaufbau) könnte hier eine neue Option darstellen. Ob der Rahmen der neuen Gesetzgebung (Haftunterbringungsgesetz) dazu Raum gibt, muss allerdings bezweifelt werden. Auch hier scheint eher „Verwahrung“ angesagt. neue impulse in der heimerziehung uj 1 (2008) 2 Über sinnvolle organisatorische und situative Verknüpfungen von Zwang und Beziehungsarbeit bzw. Zwang und Partizipationsmöglichkeiten beginnen wir gerade erst nachzudenken. Nach unserer Erfahrung lohnt es sich, auf diesem Weg weiterzugehen, ohne ihn als „Königsweg“ denken zu können. Literatur Dietz, A./ Poerksen, N./ Voelske, W., 1998: Behandlungsvereinbarungen - Vertrauensbildende Maßnahmen in der Akutpsychiatrie. Bonn BFJFS (Hrsg.), 2002: Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe (JES). Berlin Kadzdin, A., 1980: Behavior Modification in Applied Settings. Georgetown Krause, H.-U./ Peters, F./ Spernau, X./ Wolff, M., 2006: Grauzonen der geschlossenen Unterbringung. In: Forum Erziehungshilfe, 12. Jg., H. 4, S. 243 - 246 Neumann, G., 2003: Zwang in der Erziehung - legitimes Mittel oder schwarze Pädagogik. In: Evangelische Jugendhilfe, 80. Jg., H. 3, S. 150 - 153 Schwabe, M., 2001: Was tun mit den „Schwierigsten“? Brauchen wir neue, besondere, pädagogische Konzepte für so genannte maßnahme-resistente Kinder und Jugendliche? In: Evangelische Jugendhilfe, 78. Jg., H. 1, S. 3 - 22 Schwabe, M., 2002: Hilfeplanung bei Fällen von Selbst- und Fremdgefährdung. In: EREV- Schriftenreihe 3: „Wenn Pädagogik an Grenzen stößt“, S. 35 - 56 Schwabe, M., 2001: „damit sie sich auch dran halten“ - einige theoretische und praktische Hinweise zur Qualifizierung von Regel-Etablierungsprozessen. In: Evangelische Jugendhilfe, 78. Jg., H. 5, S. 271 - 282 Schwabe M., 2008: Zwang im Heim - Möglichkeiten, Chancen und Risiken von Zwangs-Elementen in der Heimerziehung. München Wensierski, P., 2005: Schläge im Namen des Herren - Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik Deutschland. München Wieland, N., 2006: „Und bist Du nicht willig …“ - Psychologische Überlegungen zur Anwendung und Verarbeitung von Zwang. Unveröff. Vortrag am 18. 05. 06 auf einer Veranstaltung des Landesjugendamtes Rheinland Wolf, K., 1999: Machtprozesse in der Heimerziehung. Münster Wolf, K., 2005: Überlegungen zur Leistungsfähigkeit von sozialpädagogischen Lebens-Gemeinschaften. In: Lebensgemeinschaften heute - Dokumentation des Fachtages im Wichernsaal des Rauhen Hauses. Hamburg , S. 6 - 16 Ein erweitertes Literaturverzeichnis sowie Adressenfürweitere Informationen undUnterlagenkönnen bei den Autoren angefordert werden. Die Autoren Prof. Dr. Mathias Schwabe Evangelische Fachhochschule Berlin Fachhochschule für Sozialpädagogik und Sozialarbeit Postfach 37 02 55 14132 Berlin Schwabe@evfh-berlin.de David Vust Evangelische Fachhochschule Berlin Fachhochschule für Sozialpädagogik und Sozialarbeit Postfach 37 02 55 14132 Berlin info@evfh-berlin.de neue impulse in der heimerziehung
