eJournals unsere jugend 60/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
51
2008
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Individualpädagogische Maßnahmen als tragfähiges Beziehungsangebot

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2008
Willy Klawe
Pädagogik ist immer auch Beziehungsarbeit. Neben (sozial-)räumlichen Strukturen, pädagogischen Arrangements und reflektiert eingesetzten Methoden ist vor allem eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung eine wichtige Voraussetzung und zugleich ein wichtiges Instrument gelingender pädagogischer Prozesse. Gerade Jugendliche mit langen Jugendhilfekarrieren müssen allerdings die Erfahrung machen, dass insbesondere in den Erziehungshilfen Beziehungsabbrüche eher die Regel sind (vgl. Blandow; Freigang). Eine vor kurzem abgeschlossene Evaluation Individualpädagogischer Maßnahmen hat jetzt gezeigt, dass dieses intensive Betreuungssetting in der Lage ist, solchen Jugendlichen - teilweise erstmalig - die Erfahrung und das Wachsen in einer akzeptierenden, empathischen und vertrauensvollen Beziehung zu ermöglichen.
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208 uj 5 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 208 - 217 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel hilfen zur erziehung Individualpädagogische Maßnahmen als tragfähiges Beziehungsangebot Ergebnisse einer empirischen Studie Willy Klawe Pädagogik ist immer auch Beziehungsarbeit. Neben (sozial-)räumlichen Strukturen, pädagogischen Arrangements und reflektiert eingesetzten Methoden ist vor allem eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung eine wichtige Voraussetzung und zugleich ein wichtiges Instrument gelingender pädagogischer Prozesse. Gerade Jugendliche mit langen Jugendhilfekarrieren müssen allerdings die Erfahrung machen, dass insbesondere in den Erziehungshilfen Beziehungsabbrüche eher die Regel sind (vgl. Blandow; Freigang). Eine vor kurzem abgeschlossene Evaluation Individualpädagogischer Maßnahmen hat jetzt gezeigt, dass dieses intensive Betreuungssetting in der Lage ist, solchen Jugendlichen - teilweise erstmalig - die Erfahrung und das Wachsen in einer akzeptierenden, empathischen und vertrauensvollen Beziehung zu ermöglichen. Im Folgenden sollen die auf diesen Einzelaspekt bezogenen Ergebnisse der vom Institut des Rauhen Hauses für Soziale Praxis (isp) im Auftrage des Arbeitskreises Individualpädagogischer Maßnahmen (AIM) durchgeführten Studie „Jugendliche in Individualpädagogischen Maßnahmen“ zur Diskussion gestellt werden. Im Rahmen einer Vollerhebung bei allen Trägern des AIM wurden Daten zu allen Fällen (N = 355) erfasst, die im Zeitraum vom 1. 1. 2004 bis zum 31. 8. 2005 abgeschlossen wurden. Die Erhebung der Daten wurde im Juli/ August 2006 vorgenommen, sodass die Betreuung für die befragten Jugendlichen zwischen 2 ½ und einem Jahr zurücklag. Dieser Zeitraum erschien uns angemessen, da so einerseits noch Details aus der Maßnahme erinnerlich sind, andererseits der Abschluss so lange zurück liegt, dass mittlerweile der Alltag eingekehrt sein sollte. Die Studie hatte zwei thematische Schwerpunkte: • die Charakterisierung der AdressatInnen und der Merkmale und Standards der Maßnahmen (Quellen: Fallakten, ggf. zusätzliche Befragung der BetreuerInnen oder KoordinatorInnen), • eine Kurzbefragung der beteiligten Jugendlichen zur retrospektiven Einschätzung der Maßnahmen und zur aktuellen Lebenssituation. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich vorrangig auf Ergebnisse zum letztgenannten Schwerpunkt und reproduzieren insofern vor allem die Perspektive der AdressatInnen. uj 5 (2008) 209 hilfen zur erziehung Der Gegenstand: Was sind Individualpädagogische Maßnahmen? Um es gleich vorweg zu sagen: Individualpädagogik als Gegenstand unserer Studie ist nicht leicht und eindeutig zu beschreiben. Genau betrachtet ist der Begriff alltagssprachlich ohnehin eine Tautologie, da streng genommen jede gute Pädagogik am Individuum ausgerichtet sein sollte. Dies gilt in besonderer Weise gerade für die Hilfen zur Erziehung, schreibt doch das Kinder- und Jugendhilfegesetz für alle Hilfen vor, diese am individuellen Bedarf der Kinder und Jugendlichen auszurichten (vgl. § 9 (2), § 27 (2), § 36 SGB VIII). Will man also verstehen, was genau mit Individualpädagogischen Maßnahmen gemeint ist, ist es notwendig, auf die Geschichte dieses Begriffes und die damit verbundenen fachlichen Diskussionsstränge einzugehen. Von der Erlebnispädagogik zur Individualpädagogik Im Zuge der Entwicklung lebensweltorientierter Ansätze in den 80er Jahren, verbunden mit der Erfahrung, dass ein Teil der Kinder und Jugendlichen mit den herkömmlichen gruppenpädagogischen Settings der stationären und teilstationären Erziehungshilfen nicht mehr zu erreichen war, rückten die Kinder und Jugendlichen als Subjekte zunehmend stärker in den Blick. Im Umgang mit den sogenannten „schwierigen Jugendlichen“ entstanden Arbeitsformen, die mit Rückgriff auf erlebnispädagogische Ansätze der Reformpädagogik auf die Wirkungen des Erlebnisses als intensiver Erfahrung abseits des Alltags setzten. „Als vorrangige Wirk- und Begründungszusammenhänge galten dabei im Sinne eines umfassenden Bildungsansatzes die angestrebte Ganzheitlichkeit von Leben, Lernen und Arbeiten, die Entfernung zum heimatlichen Milieu sowie die spürbare Distanzierung vom bisherigen Alltag. Die Konfrontation mit den eigenen Grenzen sollte Chancen auf Entwicklungen eröffnen” (Lorenz 2006, 2). Naturerfahrungen, sportliche Aktivitäten und erlebnispädagogische Elemente sollten die Intensität der Erfahrungen verstärken und fokussieren. So entstanden einerseits viele Standprojekte im Ausland und daneben Reise- und Segelprojekte, in denen Kinder und Jugendliche entweder in kleinen Gruppen oder auch in dichten Betreuungssettings individuell mit ihren BetreuerInnen unterwegs waren. Mitte der 90er Jahre machten Standprojekte rund 40 %, Reiseprojekte etwa 20 % und Segelprojekte ca. 15 % der im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten erlebnispädagogischen Projekte aus (Klawe/ Bräuer 1998, 96). Ungeachtet der unbestreitbaren Erfolge vieler erlebnispädagogischer Projekte gerieten diese seit Mitte der 90er Jahre wiederholt in die Kritik. Insbesondere die VertreterInnen lebensweltorientierter Jugendhilfe stellen die Begründungszusammenhänge erlebnispädagogischer Arbeit massiv in Frage und monieren die Alltagsferne dieser Settings. Sie bezweifeln u. a. die Übertragbarkeit der Erfahrungen in diesen Projekten in den Alltag der Kinder und Jugendlichen und fordern eine stärkere Einbeziehung des Herkunftsmilieus bei der Entwicklung von Unterstützungs- Willy Klawe Jg. 1951; Diplomsoziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut des Rauhen Hauses für Soziale Praxis (isp) und Dozent an der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie in Hamburg 210 uj 5 (2008) hilfen zur erziehung ressourcen. Aus ihrer Sicht besteht in erlebnispädagogischen Projekten die Gefahr, dass der methodische Ansatz gegenüber der Individualität der betreuten Kinder und Jugendlichen zu sehr in den Vordergrund tritt. Die Entwicklung einer Individualpädagogik ist eine (Teil-)Antwort auf diese Debatte. Sie legt den Fokus auf die individuellen Wünsche, Interessen, Bedürfnisse und den je individuellen Unterstützungs- und Entwicklungsbedarf der betreuten Kinder und Jugendlichen. Erlebnispädagogische Elemente können in Individualpädagogischen Maßnahmen zum Einsatz kommen, sind aber kein konstitutiver Bestandteil. Individualpädagogische Maßnahmen sind individuell ausgerichtete Betreuungssettings, deren Ziele und Bedingungen mit den Kindern und Jugendlichen und allen übrigen Beteiligten flexibel jederzeit neu ausgehandelt werden können, um diese passgenau auf das individuelle Tempo und die Ressourcen der Betreuten sowie aktuelle Entwicklungen in ihrem Umfeld abstimmen zu können. Individuell bedeutet auch, dass das Setting ein kontinuierliches und verbindliches persönliches Beziehungsangebot an die betreuten Kinder und Jugendlichen ist, dass es mittelbis langfristig angelegt ist und durch eine 1: 1-Betreuung (in der Regel) intensiv und umfassend gestaltet werden kann. Lorenz (2006, 99f) nennt darüber hinaus als Merkmale: • „Authentizität“ und „Natürlichkeit“ der angebotenen Lebenswelt - die Settings sind nicht konstruiert, sondern finden ihren Raum in der Regel im tatsächlichen privaten Lebensumfeld der betreuenden Personen; sie orientieren sich vielfach an gesellschaftlich integrierten Familienbildern oder aber bieten bewusste Alternativen zum „Normal- Entwurf“ des Lebens in einer Familie an. • Gezielte Fokussierung auf die Arbeit mit den Stärken - Kinder und Jugendliche in Individualpädagogischen Maßnahmen wissen aus zahlreichen Hilfeplangesprächen, Klassenkonferenzen etc. recht genau, was sie nicht können; dagegen hält sich das Wissen um die eigenen Stärken und Kompetenzen eher in Grenzen. Individualpädagogische Maßnahmen bieten gute Möglichkeiten, Fähigkeiten gezielt zu stärken und Stigmatisierungen entgegenzuwirken. • „Strukturelle Zwänge“, vor allem in Auslandsmaßnahmen, durch Entfernung, Sprache, Bevölkerungsdichte, Kultur - durch den Aufenthalt in einem unbekannten Kultur- und Sprachkreis sowie durch die schwer überwindbare Entfernung zum vertrauten Milieu werden Routinen unterbrochen und irritiert, Rückgriffe auf alte Muster erschwert und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, unterstützt. Lorenz führt weiter aus, dass sich im Umgang mit „Grenzen“ Erlebnispädagogik und Individualpädagogik deutlich unterscheiden: „EP setzt auf Kompetenzerweiterung und Zuwachs an Selbstwert durch das Ausloten und Erweitern der persönlichen Grenzen: in diesem Sinne muss der persönliche Rahmen riskiert werden, um verändert werden zu können; IP hingegen bettet Kompetenzzuwächse in sichere und Halt gebende Beziehungen ein, verstärkt also den persönlichen Rahmen bzw. unterstützt gezielt an den Stellen, wo dieser zu durchlässig scheint: dadurch wird auch Regression möglich und erlaubt“ (ebd., 6). Die Rolle der Beziehung in den Hilfen zur Erziehung Bereits in unserer Studie „Erlebnispädagogik in den Hilfen zur Erziehung“ hatten wir herausgefunden, dass die Kategorien „Beziehungsfähigkeit“ und „Beziehung“ eine Schlüsselfunktion im Rahmen der Erziehungshilfen haben (vgl. Klawe/ Bräuer 1998, 189): • als Indikation wird Beziehungsunfähigkeit immer wieder genannt; uj 5 (2008) 211 hilfen zur erziehung • das intensive, auf Beziehung setzende Setting soll die beteiligten Jugendlichen zwingen, sich auf Beziehungen zu ihren BetreuerInnen einzulassen und nicht auszuweichen; • als Erziehungsmittel wird die Beziehung bewusst zur Erreichung der im Hilfeplan vereinbarten Erziehungsziele eingesetzt; • sie gilt mit großem Abstand als wichtigste Bedingung für einen erfolgreichen Verlauf, und • als herausragendes Kriterium gilt die Stärkung der Beziehungsfähigkeit als Maß für den Erfolg. Burkhard Müller beschreibt vor dem Hintergrund entwicklungspsychologischer Erkenntnisse unterschiedliche Funktionen, die Erwachsene für Kinder und Jugendliche in pädagogischen Prozessen haben. Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene als elternähnliche Personen, • als RepräsentantInnen der Welt, in der sie aufwachsen, • „die es ihnen ermöglichen, sich nach dem Bild, das sie sich vom ‚Großwerden‘ machen, zu formen“, • die sie als „andere Erwachsene“ bei der Ablösung von den eigenen Eltern unterstützen, • die zwischen der Erfahrung mit Gleichaltrigen und Erfahrungen mit der Erwachsenenwelt vermitteln (vgl. Müller 1995). Die AdressatInnen Individualpädagogischer Maßnahmen haben bereits in ihrer Herkunftsfamilie erfahren müssen, dass ihre Eltern diese Funktion oft nur unzureichend übernehmen konnten. Abgesehen davon, dass nach den Ergebnissen unserer Studie bei mehr als zwei Dritteln der Familien materielle Probleme an der Tagesordnung sind, werden in den Hilfeplanunterlagen in immerhin 50,1 % der Fälle Trennungs- und Beziehungsprobleme, in 20,6 % Gewalterfahrungen, in 14,5 % Suchtprobleme und in 60,3 % eine allgemeine Überforderung der Erziehungspersonen diagnostiziert. Überdies stehen viele der Jugendlichen in Individualpädagogischen Maßnahmen am Ende einer verfestigten Jugendhilfekarriere oder verfügen zumindest über ausgeprägte Erfahrungen in Einrichtungen der Jugendhilfe mit allen damit verbundenen Beziehungsabbrüchen, Misserfolgen und Stigmatisierungen. Sie sind schwer zu erreichen und bedürfen für die pädagogische Arbeit eines verbindlichen und verlässlichen intensiven Betreuungssettings (vgl. Blandow 1997; Freigang 1986). Ähnlich charakterisieren Gintzel und Schrapper (1991, 21f) die Zielgruppe als „Jugendliche, die oft unter stark beeinträchtigenden Lebensbedingungen aufgewachsen sind. Erfahrungen der Vernachlässigung, der Gewalt, des sexuellen Missbrauchs, von ökonomischer und emotionaler Unterversorgung haben ihr Verhalten geprägt. Häufige Beziehungsabbrüche auch in Einrichtungen der Erziehungshilfe lassen bei diesen jungen Menschen kaum Raum für positive Entwicklung. Häufig eskalierende aggressive Verhaltensweisen reduzieren zudem ihre Fähigkeiten, in einer für die meisten Erwachsenen akzeptablen Weise zu kommunizieren.“ Individualpädagogik als letztes Glied dieser langen Kette gescheiterter Beziehungen und häufig letzte Chance für den Jugendlichen muss daher in besonderer Weise daran gelegen sein, verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen zu den betreuten Jugendlichen aufzubauen und so „Gegenerfahrungen“ zu ermöglichen, die ihnen das Vertrauen in Erwachsene und damit ein positives Wachsen wieder ermöglichen. 212 uj 5 (2008) hilfen zur erziehung Individualpädagogik als Beziehungsangebot „Das Charakteristikum der individualpädagogischen Betreuungen ist der Aufbau einer belastbaren und tragfähigen Beziehung zum jeweiligen Betreuer. Eine solche gelingende Beziehung ist im optimalen Falle die Grundlage und Voraussetzung für weitere Entwicklungsschritte des Jugendlichen. In einem individualpädagogischen Setting finden sich der Raum und die Zeit, die es braucht, Beziehungen wachsen zu lassen, entsprechend der Disposition des Jugendlichen. Das erlaubte Misstrauen, das der Jugendliche haben darf, ermöglicht ihm im Prozess, Vertrauen wieder aufzubauen. Der Jugendliche erlebt dann vielleicht zum ersten Mal, dass er einer erwachsenen Person vertrauensvoll begegnen kann“ (Felka/ Harre 2007, 37). Ein verlässliches, akzeptierendes Beziehungsangebot, eine belastbare, authentische Betreuerpersönlichkeit und die Einbindung in familienähnliche Strukturen sind nach den Ergebnissen unserer Studie offensichtlich zentrale Faktoren für einen gelingenden Betreuungsprozess. Wesentliche Voraussetzung dafür, dass diese Faktoren ihre positive Wirkung entfalten können, ist neben der „Passung“ in der Beziehung (BetreuerIn und Jugendliche/ r müssen zueinander „passen“, miteinander „können“, vgl. Fröhlich-Gildhoff 2002, 115f) ein Kanon empathischer Haltungen. Abb. 1: Was war dem Jugendlichen wichtig? uj 5 (2008) 213 hilfen zur erziehung Böhnisch u. a. (2002, 30) kommen in ihrer qualitativen Studie zu einem ähnlichen Ergebnis: „Entscheidend für die Bewertung der Zeit der außerfamilialen Unterbringung war für die jungen Erwachsenen oftmalig die Chance des Aufbaus einer Beziehung zu einer Vertrauensperson (der signifikant Andere), die nicht nur bereit war, sich auf die Lebensgeschichte, die biografischen Erfahrungen und Handlungsmuster des Kindes/ Jugendlichen einzulassen, sondern auch bereit war, über die Lebensgestaltung und Zukunftsperspektiven des Kindes/ Jugendlichen zu sprechen und den Lebensentwurf des Kindes/ Jugendlichen als ein realistisches Konzept anzuerkennen.“ Folgt man den retrospektiven Einschätzungen der Jugendlichen in unserer Studie, so scheint das in einem erheblichen Maße in den untersuchten Maßnahmen gelungen zu sein. Bei der Frage, was den Jugendlichen während der Maßnahme (besonders) wichtig war, bestätigt sich die den Individualpädagogischen Maßnahmen zugrunde liegende besondere Bedeutung der Beziehung und der sozialen Verlässlichkeit. 27,7 % der Jugendlichen benennen eine „verlässliche Beziehung“ als mit Abstand wichtigstes Element. Zusammen mit der Aussage „ein Zuhause haben“ (10,0 %) sind damit ein Gefühl persönlicher Wertschätzung und die Erfahrung sozialer Zugehörigkeit die zentralen Aspekte dieser Maßnahmen. Gerade in dieser Hinsicht bieten die Erfahrungen in den Projekten offensichtlich einen überzeugenden Gegenentwurf zu denen in den Herkunftsfamilien und in den Einrichtungen der Jugendhilfe. Demgegenüber treten der Erwerb von Kompetenzen (10,7 %) und die in den Projekten angebotenen Aktivitäten (4,8 %) in ihrer Bedeutung deutlich zurück. Auch strukturelle Elemente wie der „Abstand zum bisherigen sozialen Umfeld“ (7,9 %), der strukturierte Alltag (3,7 %) oder Kontakte zur Herkunftsfamilie (5,2 %) treten demgegenüber in den Hintergrund. Dies belegt unseres Erachtens einmal mehr, wie stark die soziale Beziehung zu den BetreuerInnen sowie eine stimmige Einbindung in deren Familien- und Sozialsystem das zentrale Instrument der Individualpädagogischen Maßnahme werden. Zu vergleichbaren Ergebnissen kamen auch Böhnisch u. a. (2002, 48) in ihrer qualitativen Studie: „Bei einigen Interviewpartnern war die Sehnsucht nach einer normalen, intakten Familie als nicht zu hinterfragende Normalität nicht zu übersehen, nach einer (idealen) Familie, die sie bisher zumeist auch nicht in ihrer Kindheit kennen gelernt haben.“ Damit werden die Persönlichkeit der BetreuerInnen, ihre sozialen Kompetenzen, ihre Haltung und ihre soziale Einbindung vor Ort zum wichtigsten Faktor für einen gelingenden Verlauf und Erfolg des Betreuungsprozesses. Thomas Pollak weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die Beziehung zwischen professionell handelnden PädagogInnen und den betreuten Kindern und Jugendlichen immer einen widersprüchlichen Doppelcharakter hat, und unterscheidet einen spezifischen und einen diffusen Beziehungsanteil. Der spezifische Beziehungsanteil drückt sich aus im formalisierten beruflichen Rollenhandeln, das sich vorrangig in theoriegeleitetem, wissenschaftlich begründbarem Expertenhandeln widerspiegelt und sich auf identifizierbare (Lebens-)Themen bezieht. Der diffuse Anteil einer pädagogischen Beziehung entspricht eher der Struktur in primären Sozialbeziehungen. Diese „… sind nicht auf ein Ende, eine bestimmte Dauer hin angelegt, eine Trennung ist nicht regelhaft vorgesehen; Trennungen erfolgen aufgrund der Entwicklung im Lebenszyklus oder signalisieren ein Scheitern der 214 uj 5 (2008) hilfen zur erziehung Beziehung. Es liegt eine wechselseitige Unkündbarkeit der Beziehung … und ein unmittelbarer Anspruch auf den anderen vor; es besteht ferner eine generalisierte wechselseitige, extrem belastbare affektive Bindung sowie eine Form der persönlichen Vertrauensbildung und Vertrauenssicherung, die nicht an standardisierbare allgemeine Kriterien gebunden ist. Eine grundlegende Differenz zwischen diffusen und spezifischen Beziehungen besteht ferner in der Auswahl der Themen: In spezifischen Beziehungen bedarf es der Begründung, wenn Themen, die nicht im Geltungsbereich der jeweiligen Berufsrolle liegen, angesprochen werden. In diffusen Beziehungen gilt umgekehrt, dass begründet werden muss, wenn ein bestimmtes Thema aus der Kommunikation ausgeschlossen bleiben soll“(Pollak 2002, 81). Der professionelle Umgang mit dieser Dualität im konkreten Umgang mit den Kindern und Jugendlichen im Rahmen Individualpädagogischer Maßnahmen setzt ein hohes Maß an sozialer Verantwortung und Reflexionsfähigkeit voraus, die durch regelmäßige Fortbildung, Supervision und kollegiale Beratung unterstützt werden müssen. „Die Hinterfragung der eigenen Rolle in Bezug auf die Kinder und Jugendlichen (Berater, Kumpel, Unterstützer, Begleiter etc.) und der Umgang mit verdeckten Hinweisen auf Problematiken in der Herkunftsfamilie … sollten dabei ins Zentrum der Aufmerksamkeit treten“ (Böhnisch u. a 2002, 53). Dies verweist auf ein weiteres sensibles Thema im Zusammenhang mit der spezifischen Beziehungsstruktur in Individualpädagogischen Maßnahmen. Die Dualität der Beziehung und die in den meisten Fällen angestrebte Einbindung der betreuten Jugendlichen in die familialen Strukturen des/ der BetreuerIn während der Individualpädagogischen Maßnahme machen es in besonderem Maße notwendig, in der professionellen Reflexion der eigenen Arbeit auch darauf zu achten, dass kein Konkurrenzverhältnis zu den Eltern der betreuten Kinder- und Jugendlichen aufgebaut wird. In Konkurrenz zu den Eltern zu treten „ist in vielen Fällen nicht einmal besonders schwer, aber es nützt niemandem wirklich. Weder den Jugendlichen, noch deren Eltern, noch uns. Nützlich ist, in unserer Betreuungsarbeit eine Haltung zu finden, in der wir die primäre Liebe und Bindung der Jugendlichen zu ihren Eltern nicht verletzen. Wir müssen die Mütter und Väter, mit all dem, was sie gut und was sie schlecht gemacht haben, auf ihrem ersten Rang respektvoll ‚sitzen‘ lassen und unsere Beziehung vom zweiten aus anbieten. So haben die Jugendlichen die Möglichkeit, in Ruhe zu entscheiden und sich, im Idealfall, langsam zu lösen, von ihren Eltern und den späteren Bezugspersonen“ (Kreszmeier 1994, 207). Aus diesem Grunde ist neben der zentralen Bedeutung einer verlässlichen Beziehung eine konsequent systemische Sicht ein wichtiger Faktor für die Gestaltung gelingender Sozialisationsprozesse in Individualpädagogischen Maßnahmen. In seiner qualitativen Befragung ehemals in stationären Hilfen betreuter junger Erwachsener identifiziert Gehres (1997, 199ff) als dafür notwendige Voraussetzungen: • Kenntnis und bewusster Umgang mit der problematischen Lebensgeschichte des Jugendlichen; • eine intensive Beteiligung der Eltern am Hilfeprozess und ein kontinuierlicher Kontakt mit ihnen während der Unterbringung; • die Mobilisierung von Ressourcen in der Herkunftsfamilie; • die Toleranz gegenüber sozialen Netzwerken der Jugendlichen; • eine kontinuierliche Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen. uj 5 (2008) 215 hilfen zur erziehung Legen wir diese Skizze zugrunde, scheint in der Mehrzahl der im Rahmen unserer Untersuchung ausgewerteten Fälle eine systemische Sicht gelungen. Haltungen und Kompetenzen Die Ergebnisse unserer Studie geben auch Hinweise auf die Haltungen und Verhaltensweisen der Erwachsenen, die aus Sicht der Jugendlichen für eine gelingende Beziehung im Betreuungsprozess besonders förderlich sind, und auf was dabei besonders geachtet werden sollte. Zuwendung und Zeit sind dabei nach unseren Ergebnissen mit 23,4 % für die Mädchen wichtiger als für die Jungen (13,4 %). Was die übrigen Items angeht, gibt es keine großen Unterschiede. In ihrer Einschätzung der erlebten Beziehung während der Betreuung geben mehr als drei Viertel der Jugendlichen ein positives Urteil ab. In 16,0 % der Fälle bewerten sie diese Beziehung als ausgezeichnet, in weiteren 61,4 % als überwiegend gut. Dem stehen gut 10 % Jugendliche gegenüber, die den gemeinsamen Umgang als unbefriedigend (2,8 %) oder eher unbefriedigend (7,6 %) erlebten; 12,2 % bleiben hier indifferent. Zwischen der Dauer der intensiven Betreuung und einer positiven Beziehung des Jugendlichen zum/ zur BetreuerIn besteht ein signifikanter Zusammenhang. Damit scheint für die hier untersuchten Maßnahmen gelungen zu sein, was Rauh und Wildhues (2005, 618) als Chance intensiver Einzelmaßnahmen identifizieren: „Durch die Zusicherung einer kontinuier- Abb. 2: Was gefiel dem Jugendlichen am Betreuer? 216 uj 5 (2008) hilfen zur erziehung Abb. 3: Wie istder Jugendliche mit dem Betreuer klargekommen? lichen Beziehung zum Betreuer, den neuen Sozialraum und den relativen Inselstatus der Maßnahme, die den Jugendlichen zusätzlich an den Pädagogen bindet, öffnet sich für den Jugendlichen ein enormer persönlicher, zeitlicher und örtlicher Raum zur Veränderung.“ Eine Jugendliche, die mehrfach in Individualpädagogischen Maßnahmen betreut wurde, drückt das in einem Interview so aus: „Das, was meine Betreuerin mir erklärt hat, das hätte meine Mutter mir beibringen können, finde ich. Und darum habe ich zu den Betreuern eine bessere Beziehung gehabt und mehr Respekt, so ein Familiengefühl, weil ich eigentlich das von meiner Familie erwartet hatte, dass sie mir den richtigen Weg zeigen …“ (Felka/ Harre 2006). Gerade diese Antworten der Jugendlichen könnten Impulse für eine Versachlichung der Diskussion über Qualifikation und Kompetenzen von BetreuerInnen in Individualpädagogischen Maßnahmen über die Polarisierung zwischen „authentischer Betreuerpersönlichkeit“ einerseits und „Fachkraftgebot“ andererseits hinaus geben. Literatur Blandow, J., 1997: Über Erziehungshilfekarrieren. Stricke und Fallen der postmodernen Jugendhilfe. In: Institut für soziale Arbeit e.V. (Hrsg.): Jahrbuch der Sozialen Arbeit. Münster, S. 172 - 188 Böhnisch, L. u. a., 2002: Projekt „Lebensbewältigung und -bewährung“. Projektbericht. www. dresden.de/ pdf/ berichte/ Bericht_Projekt_ Lebensbewaehrung.pdf, 27. 11. 2006 Felka, E./ Harre, V., 2006: Individualpädagogische Intensivbetreuungen im In- und Ausland durch das Projekt HUSKY. Evaluation der pädagogischen Arbeit von 1990 - 2005. Köln Freigang, W., 1986: Abschieben oder verlegen? Weinheim/ München Fröhlich-Gildhoff, K., 2002: Indikation zu niederfrequenter und intensiver sozialpädagogischer Einzelbetreuung. In: ders.: Indikation in der Jugendhilfe. Weinheim/ München, S. 103 - 124 Gehres, W., 1997: Das zweite Zuhause. Lebensgeschichte und Persönlichkeitsentwicklung von Heimkindern. Opladen Gintzel, U./ Schrapper, C., 1991: Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung. Münster Klawe, W./ Bräuer, W., 2 2001: Zwischen Alltag und Alaska. Praxis und Perspektiven der Erlebnispädagogik in den Hilfen zur Erziehung. Weinheim/ München Kreszmaier, A., 1994: Das Schiff Noah - Dokument einer therapeutischen Reise. Weitra Lorenz, H., 2006: Individualpädagogik - Erlebnispädagogik: Schnittmengen und Differenzen. In: Buchkremer, H./ Emmerich, M. (Hrsg.): Inuj 5 (2008) 217 hilfen zur erziehung dividualpädagogik im internationalen Austausch. Hamburg, S. 93 - 106 Müller, B., 1995: Wozu brauchen Jugendliche Erwachsene? In: Deutsche Jugend, 43. Jg., H. 4, S. 160 - 169 Pollak, T., 2002: Was heißt „Beziehung“ in der sozialen Arbeit? In: Deutsche Jugend, 50. Jg., H. 2, S. 78 - 85 Rauh, B./ Wildenhues, C., 2005: Problemjugendliche auf der Suche nach dem verlorenen Vater - Zur Notwendigkeit differenzierter theoretischer Beschreibungen in der Erlebnispädagogik und deren Konkretisierung am Beispiel eines delinquenten Adoleszenten. In: Neue Praxis, H. 6, S. 611 - 624 Der Autor Willy Klawe Institut des Rauhen Hauses für Soziale Praxis Horner Weg 170 22111 Hamburg klawe.isp@rauheshaus.de 2007. 356 Seiten. 4 Abb. 20 Tab. (978-3-497-01895-6) kt € [D] 34,90 | € [A] 35,90 | SFr 58,50 Dieses Buch widmet sich auf einfühlsame Weise vielfältigen sozialen Schwierigkeiten von Jungen und Männern wie Beziehungsunfähigkeit, Depression, Sucht, Arbeitslosigkeit, Burnout, Gesundheitsgefährdung und Kriminalität. Die Herausforderung für die Soziale Arbeit besteht darin, Männer und Jungen für sich selbst zu sensibilisieren und sie in einem nichtrollenkonformen Selbstverständnis zu stärken. Ein weiteres Anliegen dieses Buches ist es, die Rolle von Männern als Helfer in der Sozialen Arbeit aufzuzeigen und entsprechende Tätigkeitsfelder zu schaffen, um Männer bei spezifischen Problemen zu beraten. a www.reinhardt-verlag.de