eJournals unsere jugend 60/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
61
2008
606

Anorexie und Bulimie im Kindes- und Jugendalter

61
2008
Katharina Bühren
Silke Bordewin
10 bis 15 % der weiblichen Jugendlichen weisen Symptome einer Ess-Störung auf, und manifeste Ess-Störungen zählen zu den häufigsten chronischen Erkrankungen im Kindes und Jugendalter. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, in der Sozialen Arbeit auf betroffene Kinder und Jugendliche zu treffen, sehr hoch. Es ist somit unerlässlich, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen.
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242 uj 6 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 242 -249 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel dicke kinder - dünne kinder Anorexie und Bulimie im Kindes- und Jugendalter Katharina Bühren/ Silke Bordewin 10 bis 15 % der weiblichen Jugendlichen weisen Symptome einer Ess-Störung auf, und manifeste Ess-Störungen zählen zu den häufigsten chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, in der Sozialen Arbeit auf betroffene Kinder und Jugendliche zu treffen, sehr hoch. Es ist somit unerlässlich, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. • Körpergewicht mindestens 15% unterhalb der Norm bzw. Body Mass Index (BMI) ≤ 17,5 (im Kindes- und Jugendalter sollte ein BMI < 10. Altersperzentile [Altersprozentrang] verwendet werden, da sich der BMI mit der körperlichen Entwicklung verändert, Berechnung im Internet unter www.mybmi.de), • selbstverursachter Gewichtsverlust, • Körperbildstörung und überwertige Idee, zu dick zu sein, • hormonelle Störungen mit Ausbleiben der Regelblutung, • bei Erkrankungsbeginn vor der Pubertät: Störung der pubertären Entwicklung einschließlich des Wachstums. Für die Diagnose einer Bulimia nervosa müssen folgende Kriterien erfüllt sein: • andauernde Beschäftigung mit Essen und Heißhungerattacken, bei denen große Mengen Nahrung in kurzer Zeit konsumiert werden, • Versuche, dem dick machenden Effekt des Essens durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern, z. B. selbstverursachtes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, strikte Diät, extremer Sport etc., • krankhafte Furcht, zu dick zu werden, • häufig Anorexia nervosa in der Vorgeschichte. Sowohl die Anorexia nervosa (Pubertätsmagersucht) als auch die Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht), die nicht selten eine Folgeerkrankung der Magersucht darstellt, sind häufige psychische Störungen in der Adoleszenz. Ungeachtet der Fortschritte, die in der letzten Dekade im Verständnis und in der Therapie dieser Erkrankungen erzielt wurden, ist besonders die Magersucht für einzelne Patientinnen noch immer potenziell lebensbedrohlich. Entscheidend für eine günstige Prognose und Verhinderung der Chronifizierung der Ess-Störung sind eine frühzeitige Diagnosestellung und das rechtzeitige Einleiten einer adäquaten Therapie. Im Rahmen der Erkrankung entwickeln sich nicht selten familiäre Konflikte, und die elterlichen Ressourcen erschöpfen sich bei langer Krankheitsdauer zunehmend. Besonders bei schwerwiegenden Krankheitsverläufen wird häufig eine intensive ambulante oder auch stationäre therapeutisch-pädagogische Nachbetreuung notwendig. Definition Zur Diagnose einer Anorexia nervosa sind fünf zentrale Kriterien notwendig: uj 6 (2008) 243 dicke kinder - dünne kinder Das Krankheitsbild Häufigkeit Mit einem Geschlechterverhältnis von 1 : 10 bis 1 : 12 sind Mädchen in der mittleren Adoleszenz deutlich häufiger von der Magersucht betroffen als ihre männlichen Altersgenossen (Currin 2005). Der Erkrankungsgipfel der Anorexia nervosa liegt zwischen 14 und 16 Jahren mit einer Prävalenzrate (Krankeitshäufigkeit) bei den 15bis 24-Jährigen von 0,3 bis 1 %. Für die Ess-Brech-Sucht wird eine Prävalenz bei den weiblichen Jugendlichen von 1 bis 2 %, bei den männlichen von ca. 0,3 % in den westlichen Ländern angegeben (Hoek 2003). Bei der Mehrzahl der Erkrankten beginnt die Bulimie in einem Alter zwischen 16 und 19 Jahren (Stice 1998). Für Risikopopulationen wie Leistungssportlerinnen und Models ist die Lebenszeitprävalenz von Ess-Störungen wesentlich erhöht (Herpertz-Dahlmann 2000). Anzeichen und typische Verhaltensweisen Die Anorexia nervosa beginnt häufig schleichend mit der Vermeidung kalorien- und fettreicher Nahrungsmittel und der Umstellung auf vegetarische Kost. Viele Patientinnen zeigen im Verlauf verstärkt wählerisches und ritualisiertes Essverhalten (zwanghaft eingehaltene Reihenfolge der einzelnen Lebensmittel, genau festgelegte Anzahl von Bissen, definierte Essenszeiten) sowie eine Einschränkung der täglichen Nahrungsmenge. Jüngere Mädchen verweigern des Öfteren auch die Flüssigkeitsaufnahme. Der Fokus von Denken und Handeln liegt auf den Themen Essen, Aussehen und Körpergewicht (siehe Abbildung 1). Der durch die Dauerdiät entstehende Heißhunger, vermutlich ausgelöst durch Unterzuckerung, begünstigt das Dr. med. Katharina Bühren Jg. 1978; Assistenzärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (Universitätsklinikum der RWTH Aachen) Silke Bordewin Jg. 1977; Diplom-Sozialpädagogin im Sozialdienst der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (Universitätsklinikum der RWTH Aachen) Abb. 1: „Collage einer jugendlichen Patientin mit Magersucht“ 244 uj 6 (2008) dicke kinder - dünne kinder Auftreten von Essattacken. Einige Mädchen unterstützen die Gewichtsabnahme durch Erbrechen und/ oder Medikamentenmissbrauch (Abführmittel, Entwässerungstabletten, Schilddrüsenpräparate, Appetitzügler). Bei einem Großteil der Patientinnen lässt sich zudem eine gesteigerte körperliche Aktivität beobachten, die teilweise auf biologische Ursachen, wie eine veränderte Hormonausschüttung, zurückzuführen ist. Für die Bulimia nervosa sind Essattacken und anschließende gewichtsregulierende Maßnahmen (häufig Erbrechen) typisch. Bei diesen Essanfällen, die von der Umgebung häufig unbemerkt bleiben, werden enorme Mengen meist kalorienreicher, weicher und unzubereiteter Nahrung (bis zu 10.000 kcal) verschlungen. Zwischen den Essattacken zeigen die meist normalgewichtigen Patientinnen oft gezügeltes Essverhalten. Im Rahmen der Ess-Störung führt die überwertige Idee, zu dick zu sein (Körperbildstörung), zu einem sehr niedrigen Wunschgewicht. Zur Gewichtskontrolle bzw. aus Angst vor einer Gewichtszunahme (Gewichtsphobie) wiegen sich die Betroffenen mehrmals täglich. Aufgrund der schlechten Ernährungssituation entstehen häufig massive familiäre Konflikte, die bei allen Beteiligten einen großen Leidensdruck erzeugen. Besonders magersüchtige Mädchen konzentrieren sich zunehmend auf ihre Schulleistungen, während alterstypische Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte stark vernachlässigt werden. Eine Zusammenfassung der typischen Verhaltensweisen bei Anorexia und Bulimia nervosa bietet Tabelle 1. Typische Verhaltensweisen von Patienten mit Ess-Störungen (Anorexie und Bulimie) • zunehmendes Interesse für Nahrungszusammensetzung und Kaloriengehalt • extreme Unzufriedenheit mit eigenem Aussehen und Figur • Vermeidung oder Verweigerung von Mahlzeiten (insbesondere in der Öffentlichkeit) • Beschränkung auf sogenannte „gesunde“ Nahrungsmittel • zunehmende familiäre Konflikte • sozialer Rückzug, Verlust von Freunden • Verleugnung, krank zu sein • häufiges Wiegen Anorexia nervosa Bulimia nervosa • Zunehmendes Untergewicht • Meist normales Gewicht • Ausbleiben der Regelblutung • Essattacken • Ausgeprägte körperliche Aktivität trotz (treten oft nicht in der Schule auf) Untergewicht • Selbstverursachtes Erbrechen • Zunehmende Leistungsorientierung (wird oft lange nicht bemerkt) (bessere Schulnoten, extrem sorgfältige • Konzentrationsstörungen Hausaufgaben) • Tragen von Sommerkleidung im Winter • Zwanghaftes Verhalten (Ordnen, Schriftbild, korrekte Hausaufgaben) Tab. 1: Typische Verhaltensweisen von Patientinnen mit Ess-Störungen (nach Herpertz-Dahlmann 2008) uj 6 (2008) 245 dicke kinder - dünne kinder Körperliche Komplikationen Die meisten körperlichen Veränderungen bei der Anorexia nervosa sind direkte Folgen des Hungerzustandes, die umso gravierender sind, je schneller und ausgeprägter der Gewichtsverlust herbeigeführt wurde und je jünger die Patientinnen sind. Definitionsgemäß liegt ein Ausbleiben der Regelblutung vor. Auch bei bulimischen Patientinnen mit ausgeprägten Gewichtsschwankungen sind Störungen im Menstruationszyklus nicht selten. Typische körperliche Veränderungen der Anorexia und Bulimia nervosa sind (vgl. Herpertz- Dahlmann 2008): • Untertemperatur (Hypothermie) • langsame Herzfrequenz (Bradykardie) • Flüssigkeitsansammlungen im Herzbeutel (Perikarderguss) • Entzündungen der Organe, etwa der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis) • abweichende Mengen von Kalium, Natrium und/ oder Kalzium im Blut, Blutbildveränderungen • Mangelerscheinungen (Eiweiß, Zink) • trockene Haut • brüchige Haare und Nägel • Haarausfall • Haarflaum am Körper (Lanugo-Behaarung) • Minderdurchblutung in den Fingern bzw. blaue Hände und Füße (Akrozyanose) • verzögerte Magenentleerung, Verdauungsbeschwerden • Speicheldrüsenschwellung • Schwielen an den Fingern oder Wunden am Handrücken (durch wiederholtes manuelles Auslösen des Würgereflexes) • erniedrigter Grundumsatz • Wachstumsstillstand, vor allem bei Patientinnen vor der Pubertät • Reduzierung der Knochendichte bis hin zur Osteoporose • Veränderungen im Hormonhaushalt, dadurch häufig Ausbleiben der Regelblutung (sekundäre oder primäre Amenorrhoe) Viele dieser körperlichen Folgen bilden sich bei normalisiertem Gewicht zurück. Als Langzeitfolgen können vor allem Störungen der Menstruation, Wachstumsstörungen und Osteoporose bestehen bleiben. Begleiterkrankungen Patientinnen mit Ess-Störungen weisen häufig psychische Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen (Herpertz-Dahlmann 2008) auf. Auffällig sind Stimmungsschwankungen mit Reizbarkeit oder eine depressive Stimmungslage mit andauernder Lustlosigkeit, niedrigem Selbstwertgefühl, Schuldgefühlen, Hoffnungslosigkeit, Unsicherheit im Umgang mit anderen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, fehlende altersentsprechende Autonomie sowie häufig Ordnungs- und Reinigungszwänge (Martin 2000). Ursachen Obwohl das Bedürfnis, einen Grund für die Entstehung der Magersucht zu finden, bei den Erkrankten und ihren FreundInnen und Angehörigen häufig sehr groß ist, lässt sich ein einziger Grund zumeist nicht finden. Man geht von einer multifaktoriellen Entstehung von Ess-Störungen aus, bei der biologische, persönlichkeitsbedingte, soziokulturelle und familiäre Faktoren zusammenwirken. Biologische Faktoren: Familienstudien haben gezeigt, dass die Prävalenz von Ess- Störungen bei Angehörigen von magersüchtigen und bulimischen Patientinnen 7bis 12-fach erhöht ist (Strober 2000). Es wird angenommen, dass eine genetisch bedingte „Entgleisung des serotonergen Systems“ im Gehirn vorliegt, die unter verminderter Nahrungszufuhr zu einer Ver- 246 uj 6 (2008) dicke kinder - dünne kinder stärkung der Körperbildstörung sowie der depressiven, ängstlichen und zwanghaften Symptomatik führt (Pollice 1997). Frühe Umwelteinflüsse, wie Komplikationen bei der Geburt (Favaro 2006), und frühe traumatisierende Erfahrungen, wie Misshandlung und Missbrauch (Kent 1999), können die erblich bedingte erhöhte Anfälligkeit zusätzlich verstärken. Bei der Bulimia nervosa führen Erbrechen und/ oder die Einnahme von Abführmitteln und Appetitzüglern zu einer Löschung der Sättigungssignale und somit einer schrittweisen Inaktivierung der normalen Regulation der Nahrungsaufnahme. Temperaments- und Persönlichkeitsfaktoren: Typische Persönlichkeitsmerkmale, die bei den meist gut intelligenten anorektischen Mädchen gefunden werden, sind Introvertiertheit, Konfliktvermeidung, depressive Stimmungslage, Perfektionismus, Beharrlichkeit und Rigidität. Primär bulimische Patientinnen scheinen weniger unflexibel und kontrolliert, frustrationsintoleranter, sexuell aktiver und extrovertierter zu sein (Martin 2000). Soziokulturelle Faktoren: Im westlichen Kulturkreis, in der Mittel- und Oberschicht sowie in Risikogruppen (Sportlerinnen, Models) ergeben sich erhöhte Prävalenzraten für Diätverhalten (Herpertz-Dahlmann 2008). Das aktuelle Schönheitsideal ist sicher mitverantwortlich, dass bis zu zwei Drittel aller Teenager bereits eine Diät hinter sich haben. Diätverhalten ist in den meisten Fällen der Einstieg in die Ess-Störung (Patton 1997), muss aber selbstverständlich nicht zwangsläufig dazu führen. Familiäre Faktoren: Die früher angenommene Existenz typischer familiärer Beziehungsmuster, wie Überbehütung und Konfliktvermeidung, konnte anhand empirischer Untersuchungen widerlegt werden (Kog 1987). Vielmehr geht man heute von einer wechselseitigen Interaktion zwischen kindlichen Eigenschaften und elterlichem Erziehungsverhalten aus. Bereits vor der Erkrankung bestehendes ängstliches, harmoniebedürftiges, perfektionistisches und nicht altersentsprechendes Verhalten der Jugendlichen wird durch die Ess-Störung verstärkt. Dies fördert möglicherweise einen behütenden und einengenden Erziehungsstil der Eltern, der wiederum zu Schwierigkeiten in der Autonomieentwicklung führt und so zur Aufrechterhaltung der Anorexie oder Bulimie beitragen kann. Da solche dysfunktionalen familiären Beziehungsmuster, unabhängig davon, ob sie vor oder während der Erkrankung entstanden sind, den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen, sollten Eltern eng in die Behandlung einbezogen werden (Hahn 2002). Therapie Bei der Behandlung von Ess-Störungen hat sich ein multimodaler Therapieansatz, bestehend aus Gewichtsnormalisierung, Ernährungsberatung, Psychoedukation (Vermittlung von Wissen über Krankheit und Behandlung für Patientinnen und Bezugspersonen), Einzel- und Gruppenpsychotherapie sowie Einbeziehung der Familie, bewährt (Herpertz-Dahlmann 2003). Neben regelmäßigen Kontrollen von Gewicht und Vitalzeichen (Blutdruck, Puls) sind eine ausreichende Nahrungsaufnahme sowie eine Gewichtsstabilisierung notwendig. Die Gewichtszunahme sollte kontinuierlich erfolgen, idealerweise wöchentlich 500 bis 1000 g bis zum Zielgewicht. Dieses entspricht der 25. altersspezifischen Perzentile (Prozentrang) des Body- Mass-Index oder dem Gewicht, bei dem die Menstruation wieder einsetzt. In Einzelfällen (extremes Untergewicht, drohende körperliche Komplikationen) kann im Rahmen der stationären Behandlung eine Ernährung über eine Nasensonde notwendig sein. Bei uj 6 (2008) 247 dicke kinder - dünne kinder bulimischen Patientinnen ist eine ausreichende Kalorienzufuhr die Voraussetzung, um Hungerzustände zu vermeiden und so den „Teufelskreis“ (siehe Abbildung 2) unterbrechen zu können. Bei hoher Frequenz von Essattacken und nachfolgendem Erbrechen kann eine zusätzliche medikamentöse Therapie hilfreich sein. Primäre psychotherapeutische Ziele stellen zu Beginn der Motivationsaufbau sowie eine krankheitsspezifische Psychoedukation dar. Im weiteren Verlauf sollte die Veränderung dysfunktionaler Gedanken, die zur Aufrechterhaltung der Ess-Störung beitragen, im Fokus stehen. Zum einen sollten Defizite in der Regulation von Emotionen, die dazu führen, dass in Belastungssituationen mit Störungen des Essverhaltens reagiert wird, bearbeitet werden. Zum anderen sollte sich die Patientin mit der zentralen Bedeutung von Figur und Gewicht für das Selbsterleben und Selbstwertgefühl auseinandersetzen. Zur Förderung von Selbstakzeptanz, sozialer Kompetenz und altersgemäßer Autonomie bieten sich sowohl gruppentherapeutische Verfahren als auch ein individuelles Training zur Reduktion von sozialer Ängstlichkeit und Erlangung altersentsprechender Fähig- und Fertigkeiten sowie Eigenständigkeit an. Zudem ist das therapeutisch begleitete Einüben von Alltagssituationen im Rahmen von Belastungserprobungen im familiären, sozialen und schulischen Umfeld sinnvoll. Zusätzlich sind körperorientierende Verfahren wie Entspannungstraining und Körperwahrnehmung sowie Ergo- und Musiktherapie hilfreich. Da die Eltern bei den jugendlichen Patientinnen eine wichtige Ressource darstellen, kommt der Psychoedukation der Angehörigen und familienbezogenen Interventionen, wie z. B. dem Einüben gemeinsamer Mahlzeiten, eine große Bedeutung zu. Prognose und Rolle der Jugendhilfe Die Prognose junger Patientinnen mit Ess- Störungen hat sich in den letzten Jahrzehnten verbessert und ist in den meisten Fällen günstiger als die erwachsener Patientinnen. Dennoch erleiden bis zu 50 % Abb. 2: „Teufelskreis der Bulimie“ 248 uj 6 (2008) dicke kinder - dünne kinder der Jugendlichen innerhalb eines Jahres nach Entlassung aus der stationären Behandlung einen Rückfall mit erneuter Gewichtsabnahme. Häufig kommt es zu Krankheitsverläufen mit wiederholten Gewichtseinbrüchen und Klinikaufenthalten. Insgesamt zeichnet sich dennoch bei gezielter Behandlung ein günstiger Heilungserfolg bei den jüngeren Patientinnen mit Heilungsraten zwischen 70 und 80 % ab. Da ein Teil der Patientinnen erst nach einem Zeitraum von mehreren Jahren die Ess-Störung überwindet, sollte auch nach längerer Erkrankungsdauer die Hoffnung auf endgültige Heilung nicht aufgegeben werden (Herpertz-Dahlmann 2008). Nach der stationären Therapie ist eine weiterführende ambulante kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung mit kombinierter Ernährungsberatung wichtig. Neben der psychotherapeutischen Behandlung ist bei einigen der essgestörten Patientinnen die Einleitung und Annahme ambulanter Jugendhilfeangebote von großer Bedeutung. Die rechtliche Grundlage können sowohl Hilfen zur Erziehung (§ 27ff SGB VIII) als auch Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte nach § 35 a SGB VIII sein. Aufgaben der sozialen Arbeit im ambulanten Rahmen können unter anderem Wiedereingliederung in den Alltag, Entwicklung von Konfliktlösungsstrategien innerhalb des sozialen Umfeldes und Umsetzung von therapeutischen Inhalten im Alltag sein. Der/ die SozialpädagogIn stellt für Patientinnen und Bezugspersonen dann eine/ n wichtige/ n AnsprechpartnerIn dar und fungiert ggf. als Bindeglied zwischen Patientin, Familie und TherapeutIn. Besonders im Falle eines chronischen Krankheitsverlaufes und Erschöpfung der familiären Ressourcen ist ggf. auch Unterbringung (therapeutische Wohngruppe, im Idealfall auf essgestörte Jugendliche spezialisiert) angezeigt. Literatur Currin, L./ Schmidt, U./ Treasure, J./ Jick, H., 2005: Time trends in eating disorder incidence. In: The british journal of psychiatry, H. 186, S. 132 - 135 Favaro, A./ Tenconi, E./ Santonastaso, P., 2006: Perinatal factors and the risk of developing anorexia nervosa and bulimia nervosa. In: Archives of general psychiatry, H. 63 (1), S. 82 - 88 Hahn, F./ Holtkamp, K./ Herpertz-Dahlmann, B., 2002: Moderne Behandlungsstrategien bei Anorexie und Bulimie. In: Neurotransmitter, H. 12, S. 60 - 66 Herpertz-Dahlmann, B./ Hebebrand, J./ Remschmidt, H., 2003: Essstörungen. In: Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Köln, S. 117 - 129 Herpertz-Dahlmann, B./ Hebebrand, J., 2 2008: Ess-Störungen. In: Herpertz-Dahlmann, B./ Resch, F./ Schulte-Markwort, M./ Warnke, A. (Hrsg.): Entwicklungspsychiatrie. Stuttgart/ New York, S. 835 - 864 Herpertz-Dahlmann, B./ Müller, B., 2000: Leistungssport und Essstörungen aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht. In: Monatsschrift Kinderheilkunde, H. 148, S. 462 - 468 Hoek, H. W./ van Hoeken, D., 2003: Review of the prevalence and incidence of eating disorders. In: The international journal of eating disorders, H. 34, S. 383 - 396 Kent, A./ Waller, G./ Dagnan, D., 1999: A greater role of emotional than physical or sexual abuse in predicting disordered eating attitudes: the role of mediating variables. In: The international journal of eating disorders, H. 25, S. 159 - 167 Kog, E., 1987: Minuchin’s psychosomatic family model revised: a concept-validation study using a multitraid-multimethod approach. In: Family Process, H. 26, S. 235 - 253 Martin, G. C./ Wertheim, E. H./ Prior, M./ Smart, D./ Sanson, A./ Oberklaid, F., 2000: A longitudinal study of the role of childhood temperament of the later development of eating concerns. In: The international journal of eating disorders, H. 27, S. 150 - 162 Patton, G. C./ Carlin, J. B./ Shao, Q./ Hibbert, M. E./ Rosier, M./ Selzer, R./ Bowes, G., 1997: Adolescent dieting: healthy weight controller borderline eating disorder? In: Journal of child psychology and psychiatry, and allied disciplines, H. 38, S. 299 - 306 Pollice, C./ Kaye, W. H./ Greeno, C. G./ Weltzin, T. E., 1997: Relationship of depression, anxiety and obessionality to state of illness in anorexia nervosa. In: The international journal of eating disorders, H. 21, S. 367 - 376 uj 6 (2008) 249 dicke kinder - dünne kinder Stice, E./ Killen, J. D./ Hayward, C./ Taylor C. B., 1998: Age of onset for binge eating and purging during late adolescence: a 4-year survival analysis. In: Journal of abnormal psychology, H. 197, S. 671 - 675 Strober, M./ Freeman, R./ De Antonio, M./ Lampert, C./ Diamond, H., 2000: Controlled family study of anorexia nervosa and bulimia nervosa: evidence of shared liability and transmission of partial syndromes. In: The American journal of psychiatry, H. 157, S. 393 - 401 Die Autorinnen Dr. med. Katharina Bühren Silke Bordewin Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der RWTH Aachen Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen kbuehren@ukaachen.de sbordewin@ukaachen.de 2007. 278 Seiten. 7 Abb. 5 Tab. Mit 43 Übungsfragen UTB-M (978-3-8252-2860-6) kt Ernährungspsychologie beschäftigt sich mit dem menschlichen Erleben und Verhalten rund um die Nahrungsaufnahme: Wie beeinflussen psychische Faktoren das Essverhalten? Wie entstehen Essstörungen, wie lassen sie sich verhindern bzw. heilen? Wie kann man Menschen zu einem gesunden Essverhalten anleiten und damiternährungsbedingte Krankheiten vermeiden? Das Lehrbuch führt in psychologische Theorien und Forschungsergebnisse zum Ernährungsverhalten ein und stellt Methoden der Prävention und Intervention vor. a www.reinhardt-verlag.de