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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Leben nach Maß
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Karen Silvester
Magersucht und Bulimie waren lange Zeit ein Tabuthema, angesichts dessen Eltern und LehrerInnen oft verzweifelten. Die ständige Präsenz der "Schönen, Schlanken und Reichen" im Fernsehen befeuert den Trend, dass immer mehr Jugendliche mit einer Diät - der Einstiegsdroge der Ess-Störungen - beginnen. Doch es gibt Hilfsmöglichkeiten, wie das Beispiel der Danuvius-Klinik Ingolstadt zeigt. Dort hat die Klinik ein Netzwerk, bestehend aus Prävention, niederschwelligen Angeboten und intensiver Therapie, gesponnen, um Jugendlichen zu helfen, sich aus den Fängen der Krankheit zu befreien.
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250 uj 6 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 250 -256 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Leben nach Maß Ess-Störungen: Medien, Gesellschaft, Prävention und Therapie Karen Silvester Magersucht und Bulimie waren lange Zeit ein Tabuthema, angesichts dessen Eltern und LehrerInnen oft verzweifelten. Die ständige Präsenz der „Schönen, Schlanken und Reichen“ im Fernsehen befeuert den Trend, dass immer mehr Jugendliche mit einer Diät - der Einstiegsdroge der Ess-Störungen - beginnen. Doch es gibt Hilfsmöglichkeiten, wie das Beispiel der Danuvius-Klinik Ingolstadt zeigt. Dort hat die Klinik ein Netzwerk, bestehend aus Prävention, niederschwelligen Angeboten und intensiver Therapie, gesponnen, um Jugendlichen zu helfen, sich aus den Fängen der Krankheit zu befreien. dicke kinder - dünne kinder „Haben Medien tatsächlich die Macht, Menschen zu einer Ess-Störung zu verführen? Sind Sendungen wie ‚Topmodel‘ wirklich schuld daran, dass Jugendliche an einer Ess-Störung erkranken? “ Bei dieser in der Regel nur rhetorisch gestellten Frage kommt mir ein Bild aus fernen Zeiten in den Sinn: Ich sitze am Küchentisch meiner Studentenbude, trinke literweise ungesüßten Tee und zerteile in perfektionistischer Feinstarbeit einen Apfel in hauchdünne Spalten. Ich bestreue die Spalten mit Zimt, beiße ab und kaue jeden Bissen minutenlang, sodass ich an dem Apfel für mehrere Stunden zu essen habe. Der Fernseher läuft, und mit mir am Tisch sitzen die sexy Frauen von MTV, die toughen Space-Girls aus „Raumschiff Enterprise“, die aufgeregten Teenies aus „Gute Zeiten - Schlechte Zeiten“, die schutzbedürftigen Weibchen an der Seite des Taschenmesser-Helden McGywer. In den Pausen dazwischen flüstern Werbe-Models mir immer wieder zu: „Du bist nicht perfekt. Du bist nicht sexy. Du bist fett. Du hast dich nicht im Griff.“ Wie ein Mantra. Eines hatten all diese TV- Frauen gemeinsam: Sie waren dünn. Manche von ihnen sogar dürr. So begann vor etwa dreizehn Jahren meine Magersucht-Karriere, die ich glücklicherweise nach drei Jahren wieder beenden und mich meinem wirklichen Leben widmen konnte. Natürlich hinderte mich damals weder ein Soap-Star noch ein Werbe-Sternchen am Leben. Nicht einmal die Produzenten der Serien hatten auch nur das Geringste mit meiner Magersucht zu tun. Vielmehr war es die seichte Leichtigkeit der Soaps, die es mir so leicht machte, Karen Silvester Jg. 1975; Dipl.-Pädagogin, Fachgebietsleiterin Ess-Störungen an der Danuvius-Klinik GmbH, Dozentin an der KU Eichstätt (Gesundheitspädagogik) uj 6 (2008) 251 dicke kinder - dünne kinder mein aus den Fugen geratenes Leben auf Hungern und den Zeiger an der Waage zu reduzieren. Ich musste mir keine Gedanken mehr über mich, meine Probleme mit meinem Freund oder in meiner Familie machen. Die Magersucht gab mir Sicherheit; sie bestätigte mir: „Du nimmst ab. Du hast dich im Griff. Du hast dein Leben im Griff. Du lebst nach Maß.“ Der Model- Kult in den Soaps, die ständig steigenden Ansprüche in der Schule und die wachsende Konkurrenz unter den MitschülerInnen bestätigten mich in meinem Tun. Ich zimmerte mir aus der Scheinwelt der Soaps meine eigene Traumwelt zusammen, in der es eine eigene Logik gab: „Dünne Menschen sind schöne Menschen. Schöne Menschen haben Erfolg. Erfolgreiche Menschen werden geliebt.“ Ess-Störungen und Fernsehen ergänzen sich ausgezeichnet. Beides kann wie eine Droge wirken, die von der Realität entrückt und handlungsunfähig macht - ein Zustand, der mir während meiner Magersucht stets willkommen war. In meinem Kummer gab ich mich willenlos dem dargebotenen Schönheitsideal hin, und spätestens nach 30 Sendeminuten hatte ich das Gefühl, den Körper eines Pottwals zu haben. Fünfzehn Jahre später - nach intensiver Therapie, Studium und meiner Erfahrung als „Fachgebietsleiterin Ess-Störungen“ an einer Fachklinik für Psychiatrie und Psychosomatik in Ingolstadt - fasziniert mich die Frage, inwieweit Medien und Gesellschaft tatsächlich Macht über die Wahrnehmung des eigenen Körpers bekommen können - und was man dagegen tun kann. Ich begebe mich auf eine Spurensuche. Quelle für irrationale Träumereien Meine Selbstbeobachtung während meiner Krankheit wird von etlichen empirischen Untersuchungen gestützt: Zwar ändert das Fernsehen keine vorgefassten Meinungen oder vorhandenen Verhaltensweisen, jedoch kann intensiver Fernsehkonsum bereits vorhandene Ansichten und Gewohnheiten verstärken (Hunziker 1996). Besonders anfällig für derartige Folgen eines exzessiven Medien-Konsums sind Heranwachsende, denn ihr Selbstbild ist noch weitgehend ungefestigt: „In der Pubertät ist Mediennutzung aktive Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt. Insgesamt fördert der Medien- Umgang bei Jugendlichen den Prozess der Selbstvergewisserung, der Eigenständigkeit sowie der Bewusstwerdung“, sagt Dr. Jürgen Barthelemes vom Deutschen Jugendinstitut in München (Barthelemes 2001, 85). Heranwachsende suchen nach einem Halt, den ihnen Soaps vermeintlich geben. Serien wie „Gute Zeiten - Schlechte Zeiten“ greifen Themen und Alltagssituationen auf, mit denen sich Pubertierende stark beschäftigen. Probleme, die in jeder Folge auftreten, löst der Serienheld meist schnell und souverän; das macht ihn zum Sympathieträger, mit dem sich Jugendliche identifizieren: „So wie sie wollen Heranwachsende sein. Sie wollen so aussehen wie sie, sie wollen so gut tanzen wie sie, sie wollen so cool rauchen wie sie“, schreibt der Medienpsychologe Dr. Peter Winterhoff-Spurk in seinem Buch Kalte Herzen. Wie das Fernsehen unseren Charakter formt (Winterhoff-Spurk 2005, 90). Die Identifikation kann so weit gehen, dass Soap-HeldInnen für manchen Jugendlichen zum Bestandteil der eigenen Biografie werden; sie werden zu guten FreundInnen, die zuverlässig jeden Abend um die gleiche Zeit verfügbar sind. Das mache Soap-HeldInnen zu Sozialisationsinstanzen, die Eltern oder LehrerInnen als Vorbilder abgelöst haben (vgl. Winterhoff- Spurk 2005, 83). 252 uj 6 (2008) dicke kinder - dünne kinder Wie Jugendliche mit Medien umgehen In einer unveröffentlichten Studie, die die Danuvius-Klinik Ingolstadt im Jahre 2004 an einem bayerischen Gymnasium durchführte, wollten die auf Ess-Störungen spezialisierten PsychologInnen und PädagogInnen wissen, was SchülerInnen von Model-Kult und Schönheitsdiktat in den Medien halten. 173 Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren füllten die Fragebögen aus; darunter 120 Mädchen und 53 Jungen. Um die gute Nachricht vorwegzunehmen: Das Gros der Jugendlichen setzt sich kritisch mit Medieninhalten auseinander. Ein Mädchen schrieb als Kommentar auf ihren Fragebogen: „Weil Medien so einen starken Einfluss auf uns haben, heißt das noch lange nicht, dass wir deren Ideale befolgen müssen, denn hinter den Medien stehen auch nur Menschen und keine Götter.“ Einzelne SchülerInnen bezeichneten sich selbst als leichtgläubig. Andere schrieben, sie fühlten sich von den Medien unter Druck gesetzt. Ein Drittel der befragten SchülerInnen hatte bereits mindestens eine Diät hinter sich. Fast ein Fünftel gab an, zurzeit Probleme mit dem Essen zu haben. Die ForscherInnen interessierte des Weiteren, wie die SchülerInnen das in den Medien propagierte Schönheitsideal und dessen Einfluss auf ihr Bild vom eigenen Körper einschätzen. Die Befragten konnten die Fragen auf einer abgestuften Skala von eins bis fünf beantworten, wobei die Eins für „voll und ganz zutreffend“ stand und die Fünf „völlig unzutreffend“ bedeutete. Alle 173 SchülerInnen waren sich einig, dass die Medien einen erheblichen Einfluss darauf haben, ob Jugendliche an einer Ess-Störung erkranken oder nicht: Rund zwei Drittel der Gesamtstichprobe stimmten der Aussage zu: „Werbefilme, TV-Serien und Jugendzeitschriften sind schuld daran, dass Jugendliche essgestört werden.“ Rund sechs Prozent stimmten dem Statement „Ich wäre gerne so dünn wie ein Model“ mit der Eins zu, knapp elf Prozent mit der Zwei. Die Gründe für die vorbehaltlose Zustimmung blieben allerdings im Dunkeln: Denn nur sieben von diesen 31 Schülerinnen glaubten, eine Model-Figur verhelfe zu mehr Lebensglück und besseren Karrierechancen; eine Schülerin erhoffte sich lediglich den Schub für die Karriere. Auch die Diät-Erfahrung ist deutlich höher als in der Gesamtstichprobe: Knapp die Hälfte der 31 Schülerinnen, die sich ein Model zum Vorbild nahmen, gab an, bereits eine oder mehrere Hungerkuren hinter sich zu haben. In den Fängen der Ess-Störung Mediale Vorbilder sind jedoch nur die Auslöser für Magersucht und Bulimie. Ursächlich sind sie nicht. Genauso haben Ess- Störungen auch nur indirekt mit Essen, Hungern und einem falsch verstandenen Schönheitsideal zu tun. Vielmehr geht es bei dieser schweren psychischen Erkrankung um einen ganzen Berg von vorgelagerten Problemen, deren Ursachen in der Familie selbst, aber auch in der Gesellschaft gesucht werden müssen. Zu den Ursachen zählen zum Beispiel: Kindheits-Traumata, Einsamkeit, Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühle, fehlender Selbstwert, Selbsthass, Zukunftsangst, Konkurrenz, fehlende Anerkennung, Leistungsdruck, extremer Perfektionismus, Harmoniesucht, Gefühlskälte in der Familie und Familiengeheimnisse wie Alkoholsucht oder Missbrauch. Magersucht und Bulimie sind die gestaltgewordene Not junger Frauen und Männer. Diese Not rechtzeitig in Worte zu fassen, schaffen nur wenige, das Gros landet in den Fängen einer Ess-Störung. Exemplarisch dafür steht die Geschichte von Gabi S., die an ihrer Krankheit beinahe zugrunde gegangen wäre: „Ich hatte ein Gewicht erreicht, das mir selbst Angst einjagte“, erinnert sich die heute 30-jährige Psychologin. „Ich fühlte mich wie an einer Weggabelung, an der ich mich entscheiden uj 6 (2008) 253 dicke kinder - dünne kinder musste: entweder Abnehmen bis zum Tod oder Therapie“ (Interview vom 2. Juni 2002). Damals ist sie 17 Jahre alt und magersüchtig im Endstadium. Ihr Abgleiten in die Magersucht hat ganz harmlos begonnen. Als sie sich als sehr ehrgeizige Sportlerin bereits in der Zwischenrunde eines Tennisturniers geschlagen geben muss, führt sie ihre Niederlage auf falsche Ernährung zurück und beschließt, zu fasten und nie wieder Süßigkeiten anzurühren. Ein dreijähriges Martyrium beginnt, das sie jedoch zunächst als positiv empfindet: „Plötzlich kam ich mir nicht mehr klein und minderwertig neben den anderen in meiner Clique vor. Die Magersucht gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein - schließlich hatte ich die Kontrolle über meinen Körper.“ Die Eltern sehen zunächst großzügig über die „Marotten“ ihrer Tochter hinweg - Hauptsache, sie bringt gute Noten nach Hause. „Sie wird schon wieder normal essen“, sagt die Mutter. „Stell dich nicht so an. Essen ist die normalste Sache der Welt“, der Vater. Erst als sie von einer Bekannten auf das veränderte Aussehen ihrer Tochter angesprochen werden, entschließen sich die Eltern zur ambulanten Familientherapie. „Die erste Sitzung beim Psychologen war eine Farce“, erinnert sich Gabi S. „Mein Vater fragte dauernd nach Möglichkeiten einer medikamentösen Behandlung.“ Schon nach wenigen Sitzungen überredet sie die Eltern zum Abbruch der Therapie und verspricht, wieder normal zu essen. Kaum ausgesprochen, hat sie ihr Versprechen auch schon gebrochen. Ein Ritual, das sich wiederholt: Zwei stationäre und diverse ambulante Therapien macht Gabi S. im Verlauf ihrer Magersucht-Karriere durch. „Mein Leben war wie erstarrt. Jeder meiner Tage verlief gleich, meine Magersucht-Regeln ließen keinen Spielraum für Spontaneität. Über meine Gefühle konnte ich nicht sprechen. Mit niemandem“, beschreibt sie das Gefühl tiefer Traurigkeit, das in jenen Tagen ihr ständiger Begleiter ist (Silvester 2005, 32). Prävention von Ess-Störungen Sprachlos, hilflos und verzweifelt - die Angehörigen von essgestörten PatientInnen leiden angesichts dieser Ursachen oftmals ebenso unter der Krankheit wie die Betroffenen selbst. Als Teil einer oft pathologischen Familienstruktur treffen sie aber nur selten den richtigen Ton, um ihr Kind zu einer Therapie zu motivieren. Aus diesem Grunde ist es hilfreich, wenn beispielsweise LehrerInnen die Familien essgestörter SchülerInnen bei der Motivationsarbeit unterstützen - ein Prozess, der jedoch auch Profis vor Herausforderungen stellt, denen sie nicht ohne Weiteres gewachsen sind. Doch seit in Klassen Label-Kult und Diäten-Boom das Schulklima zusehends vergiften, suchen immer mehr LehrerInnen nach Möglichkeiten, das Thema Ess-Störungen an ihrer Schule zu enttabuisieren. Helga Fankhänel, Biologielehrerin am Katharinen-Gymnasium in Ingolstadt, stellte sich dem Tabuthema erstmals 1997 auf einem Informationstag des Münchner Therapie-Centrums für Ess-Störungen (TCE): Patientinnen berichteten, wie es ihnen mit ihrer Magersucht an der Schule ergangen war: „Ein Mädchen erzählte mir, sie habe immer das Gefühl gehabt, alle würden über sie reden, aber niemand mit ihr sprechen“, erinnert sich die Lehrerin. „Das Schweigen um sie herum war für sie das Schlimmste“ (Interview vom 5. Juli 2004). An ihrer Schule sollte Schluss sein mit dem Schweigen, beschloss Helga Fankhänel damals und holte sich für diese Herausforderung Unterstützung. Sie lud TCE-Patientinnen ein, vor ihrer Klasse über Ess-Störungen zu referieren und mit den SchülerInnen zu diskutieren. Es folgten Elternabende, Klassensprecherseminare und Pädagogische Tage für KollegInnen. 254 uj 6 (2008) dicke kinder - dünne kinder 2003 wurde an der Schule erstmals das Fortbildungsseminar „Präventionstutoren“ angeboten. Das Konzept des Seminars, das von der Danuvius-Klinik Ingolstadt und dem städtischen Gesundheitsamt unterstützt wird, ist einfach: Das pädagogische Fachpersonal der auf Ess-Störungen spezialisierten Klinik klärt die teilnehmenden SchülerInnen über Ursachen, Diagnosen und Therapiemöglichkeiten von Ess-Störungen auf. Dadurch werden die Jugendlichen im Sinne des Peer-to-Peer- Ansatzes zu kompetenten AnsprechpartnerInnen für ihre MitschülerInnen. Die PräventionstutorInnen wissen, worauf es bei Gesprächen ankommt: Niemals würden sie einen/ eine MitschülerIn auf ihr Gewicht oder auf die Portionsgrößen in der Mittagspause ansprechen. Das, so ihre Erkenntnis aus der Fortbildung, löst meist nur den Rückzug der Betroffenen aus, die sich durch solche Kommentare lächerlich gemacht oder gar bedroht fühlt. Ein ehrlich gemeintes „Du siehst traurig aus“ oder „Ich habe dich schon lange nicht mehr lachen gesehen - was ist los mit dir? “ führt viel eher dazu, dass MitschülerInnen Vertrauen fassen und Hilfe annehmen. Hilfreich empfinden viele Betroffene, wenn sie zum Beispiel eine Liste mit Klinikadressen oder ein Buch mit Erfahrungsberichten ehemals essgestörter Frauen zu lesen bekommen. Für viele der erste Schritt, sich mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen. Als Ausbildungshilfe für die PräventionstutorInnen, die in Klassen eigenständig Vorträge halten, dient ein Medienpaket, bestehend aus Kurzfilm, Buch, CD-ROM mit Unterrichtsmaterial und einer Handreichung für LehrerInnen, das die Danuvius-Klinik gemeinsam mit Prof. Hans-Ludwig Schmidt am Lehrstuhl Gesundheitspädagogik der Universität Eichstätt entwickelt hat (Danuvius-Klinik 2008). Das „Medienpaket Ess-Störungen“ soll erkrankten Jugendlichen Mut zur Therapie machen: Der 11-minütige Kurzfilm „Ich doch nicht! “ erzählt die Geschichte der bulimiekranken Susanne (17), die sich erst nach langem Ringen zur Therapie entschließt. Im Begleitbuch „XXS - Leben nach Maß“ (Silvester 2008) haben junge Frauen ihre Erfahrungen aufgeschrieben, die sie mit der Krankheit, während der Therapie und auf dem Weg in ein normales, gesundes Leben gemacht haben. Dritter Baustein des Pakets ist eine CD mit ausgearbeiteten Unterrichtsstunden für die Klassen 7 bis 12, die dazu anregen, über die Krankheit, Konkurrenz, Leistung und Selbstwertgefühl zu reflektieren. PräventionstutorInnen leisten in erster Linie Öffentlichkeitsarbeit: Infostände, Vorträge in den Klassen, Aktionen zu Bewegung und Ernährung, Diskussionsforen über Schönheitsideale bzw. Medienkonsum und Wandzeitungen mit Geschichten über essgestörte Frauen informieren gefährdete MitschülerInnen unverfänglich über Ess-Störungen und Therapieangebote. Nur wer sich seine Krankheit selbst eingesteht, ist zur Therapie bereit. PräventionstutorInnen können - besser als die Eltern der Betroffenen - dazu beitragen, diese Einsicht zu beschleunigen und zur Therapie zu motivieren. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die SchülerInnen selbst am besten wissen, was bei ihren MitschülerInnen ankommt. Darin liegt die Chance, gehört zu werden. Keinesfalls können PräventionstutorInnen jedoch die Therapie ersetzen. Wege aus der Einsamkeit Doch wie weit der Weg von der Motivation bis zur Heilung ist, zeigt die Geschichte von Karolin Z. Als die Magersüchtige das erste Mal in die Danuvius-Klinik in Ingolstadt kommt, will sie noch nicht akzeptieuj 6 (2008) 255 dicke kinder - dünne kinder ren, dass sie schwer krank ist: „Meine Eltern haben mich hergeschickt“, sagt die junge Bürokauffrau. „Aber mir geht es gut“ (Interview vom 20. März 2007). Die Untersuchung ergibt jedoch, dass Karolin Z. stark untergewichtig ist. Um immer weiter abzunehmen, trainiert sie jeden Tag mehrere Stunden im Fitness-Studio. Hinzu kommen regelmäßige Heißhunger-Attacken, bei denen sie alles in sich hineinschlingt, was der Kühlschrank hergibt - nur um es gleich darauf wieder zu erbrechen. Karolin Z. ist schwer essgestört; sie leidet unter einer Mischform von Magersucht und Bulimie. Die 20-Jährige gehört zu den etwa 130 Essgestörten, die sich mit ihrer gefährlichen Krankheit an die Danuvius- Klinik gewandt haben. Denn es hat sich herumgesprochen, dass die Klinik in nur drei Jahren eine deutschlandweit einzigartige, lückenlose Behandlungskette gegen Ess-Störungen aufgebaut hat. Anfangs spielen die meisten Erkrankten ihr Leiden herunter - Krankheitsverleugnung gehört zu den typischen Symptomen. So auch bei Karolin Z. Erst nach langem Zögern ist die 20-Jährige bereit, sich einer ambulanten Verhaltenstherapie zu unterziehen: Einmal wöchentlich sprechen die PatientInnen in der Gruppe über Druck in der Schule, Probleme mit FreundInnen oder Streit in der Familie; in Rollenspielen lernen sie, kritische Situationen zu meistern und damit die Gefahr eines Rückfalls in frühere Verhaltensweisen zu minimieren. Damit sich die PatientInnen wieder ein normales Essverhalten aneignen, wird zum Abschluss der Therapiestunde gemeinsam zu Abend gegessen. Obwohl sich Karolin Z. während der Therapiestunden harmonisch in die Gruppe einfügt, bleibt zu Hause alles beim Alten, und sie verliert kontinuierlich an Gewicht. Der jungen Frau wird endlich klar, dass sie schwer krank ist. Doch zu einer stationären Therapie mag sie sich nicht entschließen, denn sie hat Angst um ihren Job. Die TherapeutInnen wissen Rat: Jedes Jahr im Sommer bietet die Danuvius-Klinik eine vierwöchige Therapie in der Tagesklinik an. Das sogenannte Sommerprojekt wurde für SchülerInnen, StudentInnen und Berufstätige zwischen 16 und 30 Jahren konzipiert, die Ausbildung oder Beruf nicht unterbrechen oder gefährden wollen. Es werden Tage intensiver Selbstwahrnehmung für Karolin Z.; außerhalb des Alltagstrotts bekommt sie eine Ahnung davon, dass sich ihr Leben grundlegend ändern muss. Dennoch erscheint sie nur sporadisch bei der Nachsorgegruppe, die sich nahtlos an das Sommerprojekt anschließt. „Jugendliche geben sich meist der Illusion hin, gestörtes Essverhalten sei keine Krankheit“, sagt Klinikchef Dr. Torsten Mager, dem dieses Verhalten von PatientInnen mit einer Ess-Störung vertraut ist. „In Wirklichkeit sind Ess-Störungen jedoch komplexe psychosomatische Krankheiten, die in schweren Fällen tödlich enden“ (Interview vom 10. Juli 2005). Karolin Z. geht es heute besser, denn zuletzt hat sie sich doch noch zur stationären Therapie entschlossen. „Sogar im Beruf lief es inzwischen katastrophal“, erinnert sich die junge Frau. „So wollte ich nicht mehr weitermachen“ (Interview vom 20. März 2007). Es war eine harte Zeit, doch es hat sich gelohnt: Seit den zwölf Wochen auf Station weiß sie, was sie tun muss, um nicht wieder in ihre abgekapselte Hungerwelt abzustürzen. Nun will sie in der Therapeutischen Wohngemeinschaft der Danuvius-Klinik wieder zu einem normalen, gesunden Leben zurückfinden. Sie freut sich darauf, dass sie nun auch nach dem Klinikaufenthalt Hilfe bekommt, ihre Mahlzeiten geregelt einzunehmen und bei allen alltäglichen Problemen beraten zu werden. Am glücklichsten ist sie aber da- 256 uj 6 (2008) dicke kinder - dünne kinder rüber, ihr Leben nach der Einsamkeit in der Krankheit und den anstrengenden Wochen in der Klinik zusammen mit jungen Frauen zu genießen, die das gleiche Leid hinter sich haben und nun überzeugt davon sind, ihr Leben ohne Schlankheitsdiktat, Leistungsdruck oder Perfektionismus zu leben. Dabei werden Karolin Z. sowohl Gespräche mit PädagogInnen als auch die Theater-, Kunst und Verhaltenstherapie helfen, die sie neben ihrem Job besuchen kann. Das für die Aufnahme erforderliche Mindestgewicht hat sie bereits erreicht. Literatur Barthelemes, J., 2001: Funktion von Medien im Prozess des Heranwachsens. In: Media Prospektiven, H. 2, S. 84 - 89 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), 2000: Essstörungen. Leitfaden für Eltern, Angehörige, Partner, Freunde, Lehrer und Kollegen. Köln Danuvius-Klinik (Hrsg.), 2008: Medienpaket Ess- Störungen. Ingolstadt Hunziker, P., 2 1996: Medien, Kommunikation und Gesellschaft. Darmstadt Landeszentrale für Gesundheit in Bayern e.V. (Hrsg.), o. J.: Is(s) was? ! Eine Information für Lehrerinnen und Lehrer und für die Angehörigen aus dem TCE München. Hemsbach Silvester, K. (Hrsg.), 2008: XXS - Leben nach Maß. Fünf Frauen und ihre Angehörigen erzählen: Wir waren magersüchtig. Norderstedt Winterhoff-Spurk, P., 2005: Kalte Herzen. Wie das Fernsehen unseren Charakter formt. Stuttgart Internetlinks www.anad.de www.bzga-essstoerungen.de www.bzga-kinderuebergewicht.de www.essstoerungen-frankfurt.de www.praevention-essstoerung.de www.hungrig-online.de Die Autorin Karen Silvester Caroline-Herschel-Straße 27 81829 München silvesterkaren@yahoo.de
