eJournals unsere jugend 60/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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„Die Welle“ und die „Rote Zora“

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2008
Wolfgang C. Müller
Manchmal gewinne ich wichtige Erkenntnisse über die praktischen wie die theoretischen Seiten meines Berufs - ich bin Sozialpädagoge, genauer gesagt: Gruppenpädagoge - nicht aus Fachbüchern und Fachzeitschriften, sondern beim eher zufälligen Kinobesuch. In diesem Frühjahr sind zwei Jugendfilme in unsere Lichtspielhäuser gekommen, die mir auf eindrucksvolle Weise gezeigt haben, wie sich Gruppen von Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Milieus und mit unterschiedlichem politischen Hintergrund auf ähnliche Weise bilden und entwickeln. Und wie sie doch in dem Menschenbild, dem sie anhängen und das sie transportieren, weltenweit voneinander entfernt sind.
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278 uj 6 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 278 -281 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel filmbesprechung „Die Welle“ und die „Rote Zora“ Zwei aktuelle Jugendfilme im gruppendynamischen Vergleich C. Wolfgang Müller Manchmal gewinne ich wichtige Erkenntnisse über die praktischen wie die theoretischen Seiten meines Berufs - ich bin Sozialpädagoge, genauer gesagt: Gruppenpädagoge - nicht aus Fachbüchern und Fachzeitschriften, sondern beim eher zufälligen Kinobesuch. In diesem Frühjahr sind zwei Jugendfilme in unsere Lichtspielhäuser gekommen, die mir auf eindrucksvolle Weise gezeigt haben, wie sich Gruppen von Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Milieus und mit unterschiedlichem politischen Hintergrund auf ähnliche Weise bilden und entwickeln. Und wie sie doch in dem Menschenbild, dem sie anhängen und das sie transportieren, weltenweit voneinander entfernt sind. Der Film „Die Welle“ (Drehbuch und Regie Dennis Gansel, Deutschland 2008) basiert auf einem Experiment, das der Oberstufenlehrer William Ron Jones 1967 im kalifornischen Palo Alto durchgeführt hat. Ron Jones hatte sich seinerseits von dem berühmten Milgram-Experiment anregen lassen, mit dem der in Yale lehrende Sozialpsychologe Stanley Milgram (1933 - 1980) nachweisen wollte (und teilweise konnte), dass ganz normale US-StudentInnen sich unter bestimmten Umständen dazu hinreißen lassen würden, Mit-StudentInnen mit Elektroschocks zu quälen, wenn ihnen dies durch die Autorität eines akademischen Versuchsleiters angeordnet worden war und wenn diese Zumutung mit scheinbar triftigen Argumenten begründet wurde. Mit diesem Labor-Experiment suchte Milgram eine Diskussion darüber anzuregen, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die SS-BewacherInnen in deutschen Konzentrationslagern widerspruchslos verübt hatten, offensichtlich keine deutsche, vielleicht überhaupt keine nationale Eigenart gewesen sein mochten. Dennis Gansel verlegt seinen Film „Die Welle“ in eine mittlere Kleinstadt. Dort lehrt Rainer Wenger Politik, Gegenwartskunde und Sport. Er ist auf dem zweiten Bildungsweg zum Studium gekommen, hat in Berlin-Kreuzberg in einer Wohngemeinschaft gelebt und an Hausbesetzungen teilgenommen, lebt jetzt mit seiner Partnerin auf einem Hausboot und lässt sich von seinen UnterprimanerInnen duzen. Im Lehrplan ist eine Projektwoche über Staats- und Gesellschaftsformen angesagt, und Wenger hat das Thema „Autokratie“ abbekommen. Dieses Thema versucht er am Beispiel des Dritten Reiches und seines Führers zu bebildern. Die SchülerInnen sind angeödet. „Schon wieder die Faschos! “ „Das kann uns doch heute nicht mehr passieren.“ „Dazu sind wir zu aufgeklärt! “ Im Kopf uj 6 (2008) 279 filmbesprechung von Rainer Wenger klickt es. Er beschließt, das Thema durch ein Rollenspiel unter realistischen Umständen zu gestalten. Zunächst arrangiert er nur kleine Veränderungen. Die Sitzordnung wird eine andere. Die Banknachbarn werden auseinandergerissen und neu zugeteilt. Alle haben aufzustehen, wenn er den Raum betritt, und müssen im Sprechchor „Guten Morgen, Herr Wenger“ sagen. Das Duzen fällt weg. Einigen scheint dieser neue Zug zu gefallen. Die meisten warten ab. Drei SchülerInnen (darunter zwei Mädchen) finden das Ganze zu dumm und wechseln die Projektgruppe. Die ersten Gegnerschaften entstehen. Sie werden verstärkt, als der Lehrer - er ist inzwischen zum Anführer der „Gruppe“ ernannt worden - anregt, man solle sich eine gemeinsame Kleidung geben, um sich von den anderen (den Punks, den Assis und den RockerInnen) zu unterscheiden. Die reine und lautere Gesinnung, welche die Gruppe sich selber zuschreibt, wird durch ein frisch gewaschenes und gebügeltes weißes Oberhemd symbolisiert. Die Gruppe gibt sich einen Namen („Die Welle“), ein Logo und einen Gruß als Erkennungszeichen unter Gleichgesinnten. An ihren Treffen darf nur noch teilnehmen, wer zur Gruppe gehört und das weiße Hemd trägt. Ehemalige FreundInnen werden zurückgewiesen. Wer Bedenken hat oder auch nur Bedenklichkeit zeigt, wird ausgeschlossen. Widerstand regt sich. Mitglieder der Welle werden von anderen SchülerInnen angegriffen und beschimpft. Das Auto des Lehrers wird mit Farbeiern beworfen. Da dient sich ein Außenseiter der Welle seinem Lehrer-Anführer als „Leibwächter“ an und versucht, dessen Rolle auf einer unteren Ebene nachzuspielen. Heimlich besorgt er sich im Internet eine Pistole, „um die Gruppe zu schützen“. Bei einem Show- Down, bei dem der Lehrer das Experiment beenden und die „Moral von der Geschichte“ auf den Begriff bringen will, nehmen begeisterte Welle-Mitglieder einen Abweichler fest und fordern seine Bestrafung. Der Leibwächter greift ein und erschießt einen Schüler. Danach richtet er die Waffe gegen sich selbst. Der Film endet mit einer langen Kamerafahrt, die den wortlosen Lehrer zwischen zwei Polizisten zeigt, die ihn als Anführer und Mitverantwortlichen für den Mord und den Selbstmord in Untersuchungshaft bringen. A uch die „Rote Zora“ folgt einer literarischen Vorlage, dem gleichnamigen Jugendbuch, das Kurt Held (eigentlich Kurt Kläher) 1941 im Schweizer Exil geschrieben und veröffentlicht hat. Held war Metallarbeiter gewesen, hatte sich dem Spartakusbund angeschlossen und war Mitglied des Bundes revolutionärer Schriftsteller. Der Film ist eine deutsch-schwedische Gemeinschaftsproduktion. Er spielt in der malerischen Bucht Kotor an der Adria. Eine kleine Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die in den Wirren des Bürgerkriegs ihre Eltern verloren haben, schließt sich unter Führung eines 16-jährigen Mädchens zusammen, die alle wegen ihrer langen, lockigen roten Haare „die Rote Zora“ nennen (und die sie fürchten). Zora haust mit ihrer Bande in den Ruinen einer mittelalterlichen Burg und lebt von gelegentlichen Diebstählen, die ihre Mitglieder als Mundraub rechtfertigen. Zumal der Badeort zu Füßen der Burg in großem Wohlstand lebt und von einem korrupten Bürgermeister regiert wird, der mit einem kriminellen Fischhändler halbe-halbe macht. Der Bande anschließen möchte sich ein ernsthafter Junge, der seine Mutter verloren hat und nun auf der Suche nach seinem vergötterten Vater, einem offensichtlich berühmten Musiker, ist, der ihm das Geigenspiel beibringen soll. Die Rote Zora findet Gefallen an dem Neuen. Ein anderes 280 uj 6 (2008) filmbesprechung Bandenmitglied, das sich Hoffnungen auf die Zuwendung der Bandenführerin gemacht hat, nimmt den Kampf mit dem Neuen auf, der allerdings unentschieden endet, weil sich der Neue als geschickt im Umgang mit dem Messer und als geübt im Schwimmen und Tauchen herausstellt. Aber ihn zieht es eigentlich hin zu der blonden Tochter des korrupten Bürgermeisters, die so wundervoll Geige spielt und bei der unser Neuer diese Kunst zu erlernen hofft, nachdem sich herausgestellt hat, dass der geliebte Vater ein Tunichtgut war, der mit der Kasse seines Orchesters das Weite gesucht hat und für immer verschwunden ist. Die Gemeinde jagt die Rote Zora in Gestalt ihrer tölpelhaften Dorfpolizisten und vertreibt sie aus ihrem Versteck. Sie finden Zuflucht bei einem alten freien Fischer, der sie versteht und schätzt, nicht zuletzt weil er von dem betrügerischen Fischhändler immer wieder in die Enge getrieben wird. Die Auseinandersetzung bekommt einen gewissermaßen klassenkämpferischen Charakter, weil sich die braven Kinder der Dorf-Honoratoren in ihren schmucken Schuluniformen immer wieder mit Mitgliedern der Roten Zora anlegen und von ihnen in die Flucht geschlagen werden. In die Enge getrieben fürchtet die Gruppe, dass der Neue, den sie bei einem Stelldichein mit der blonden Tochter des Bürgermeisters beobachtet haben, die Rote Zora verrät. Und in der Tat werden sie gefangen genommen, aber durch ein geschicktes Plädoyer des alten Fischers frei gelassen, der den Geschworenen zu bedenken gibt: „Eine Gesellschaft, die ihre Kinder hungern lässt und in den Mundraub treibt, ist selber verbrecherisch.“ Alle Mitglieder der Bande finden Arbeit und Brot bei Gastfamilien, die sich auf diese Weise ihrer Arbeitskraft versichern, und die Rote Zora geht festen Schrittes in eine bessere Zukunft. A uf den ersten Blick ist die gruppendynamische Entwicklung in beiden Gruppen sehr ähnlich. Eine starke und akzeptierte Führerin und ein von allen verehrter Lehrer fordern Gefolgschaft, Gehorsam und Disziplin. In beiden Gruppen entsteht ein Gemeinschaftsgefühl (GruppenpädagogInnen nennen es „Wir-Gefühl“), das in der Erfahrung gipfelt, „dass wir jetzt alle an einem Strang ziehen und dass die alten Konkurrenzkämpfe überwunden sind“. Das schließt allerdings nicht aus, sondern vielmehr auf markante Weise ein, dass sich nun die negativen und aggressiven Gefühle gebündelt gegen „die da draußen“, „die anderen“ richten und verstärkt auch gegen die „Lauen“, die „Abwartenden“ und die „Widerspenstigen“ in der eigenen Gruppe, die man zu Sündenböcken stempelt. Wenn dann die Situation eskaliert und der Bestand der Gruppe auf dem Spiel zu stehen scheint, schrecken beide Gruppen nicht vor peinlichen Strafen für die „Verräter“ zurück. Nach Gründen für abweichendes Verhalten wird nicht mehr gefragt. Der pure Augenschein triumphiert. Strafe muss sein! Je peinvoller, um so besser! Und doch scheint mir im Vergleich zwischen beiden Filmen ein Unterschied aufzuscheinen, den ich für erheblich halte. Er bezieht sich nicht auf die wahrnehmbaren Handlungen und Prozesse, die ähnlich zu verlaufen scheinen, sondern auf den wertbezogenen Hintergrund, vor dem die beiden Führungspersonen agieren. Rainer Wenger ist als Sportlehrer und Wasserball-Trainer bei aller Zugewandtheit zu seinen SchülerInnen „ein harter Hund“. Er ist an Zielen orientiert, nicht am Prozess und nicht an den beteiligten Personen. Er spielt seine Rolle als „Vorantreiber“ und lässt sich von dieser Rolle jagen. Wertorientierungen scheinen für ihn als Variablen seines Handelns keine wahrnehmbare Rolle zu spielen. uj 6 (2008) 281 filmbesprechung Anders die Rote Zora. Sie sagt zwar auch: „Hier bestimmt nur einer. Und das bin ich.“ Aber sie achtet auf die Befindlichkeit der anderen. Sie ist empathisch. Sie treibt nicht auf die Spitze, sondern sie dämpft. Sie agitiert nicht, sie moderiert. Sie scheint mir eine gute, eine für junge Leute verständliche Mischung aus Mutter, Geliebter und androgyner Heldin zu sein. Denn sie ist nicht nur verständnisvoll, sondern gleichzeitig stark. Wie sie den Jungen aus der Gefängniszelle befreit und ihm zur gelingenden Flucht verhilft, das ist schon ein Meisterstück, um das ich sie, wäre ich in ihrem Alter, vorbehaltlos beneiden würde. Und dann gibt es da in der Roten Zora jene politisch-gesellschaftliche Kluft zwischen den Folgen des Bürgerkrieges und dem (relativen) Wohlstand der befriedeten BürgerInnen, getoppt von einer korrupten Stadtverwaltung und einem skrupellosen Monopolisten - beide übrigens (Dominique Horwitz als Bürgermeister und Ben Becker als Fischhändler) spielen ihre Rollen als Slapstick-Komödie. Und es gibt noch einen anderen, wichtigen Unterschied zwischen den beiden Filmen. Die „Welle“ agiert in ihrem politischen Rollenspiel in einem gesellschaftlich luftleeren Raum. Die Rote Zora ist über den alten Fischer mit einer zeitnahen gesellschaftlichen Realität verbunden, welche die jugendlichen Bandenmitglieder und ihre Anführerin mit der Gegenwart konfrontiert und an der Realität rück-orientiert. Um dieser herben Aufgabe der Realitätsorientierung gewachsen zu sein, muss man glaubhaft darstellen können, auf welcher Seite man steht. Mario Adorf als alter Fischer hat diese Rolle so verkörpert, dass ich die Hoffnung habe, dass 15-Jährige sie akzeptieren können. A uf jeden Fall zwei Filme, die mir im wertenden Vergleich mehr gebracht haben als ein Semester Gruppenpädagogik an deutschen und amerikanischen Universitäten. Prof. Dr. Dr. h. c. C. Wolfgang Müller, Berlin