unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Soziale Arbeit mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen
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2008
Jörg-Michael Wolters
Die Rezeption der Aggressions- und Gewaltforschung und die Erkenntnis um kumulierte Risikofaktoren legen nahe, dass Gewaltprävention nicht nur am Verhalten, sondern immer auch an den Verhältnissen anzusetzen hat. Als handlungsrelevant für konkret praktische pädagogische Arbeit wird hier insbesondere die Lerntheorie gesehen, um in geeigneten Settings systematisch die Gewaltbereitschaft und aggressives Verhalten wieder "ver-lernen" zu können.
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uj 9 (2008) 373 Unsere Jugend, 60. Jg., S. 373 - 381 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Anti-Gewalt-Trainings Soziale Arbeit mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen Jörg-Michael Wolters Die Rezeption der Aggressions- und Gewaltforschung und die Erkenntnis um kumulierte Risikofaktoren legen nahe, dass Gewaltprävention nicht nur am Verhalten, sondern immer auch an den Verhältnissen anzusetzen hat. Als handlungsrelevant für konkret praktische pädagogische Arbeit wird hier insbesondere die Lerntheorie gesehen, um in geeigneten Settings systematisch die Gewaltbereitschaft und aggressives Verhalten wieder „ver-lernen“ zu können. Anstelle „verkopfter“, gesprächsorientiert appellativer Pädagogik müssen mehr am authentischen Erlebnis und praktischen Tun orientierte, altersgemäße spiel-, sport- und körperorientierte Lernarrangements initiiert werden, die besonders in budopädagogischer Ausrichtung umgesetzt werden können. Eine Möglichkeit sozialpädagogischer Praxis mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen besteht in dem für die Zielgruppe attraktiven Angebot „Starke Kids“, bei dem einem geleiteten spielerischen Kämpfen und kämpferischen Spielen (Ringen, Rangeln, Raufen) ein besonderer Wert gewaltpräventiver Arbeit beigemessen wird. „Friedvolle Krieger“-Kurse auf der Grundlage fernöstlicher Kampfkünste bilden eine zweite Möglichkeit der sozialpädagogischen Arbeit. Sie gehen als Anti- Aggressivitäts-Trainings über den Ansatz „Starke Kids“ hinaus, indem sie systematisch Gewalt als Fehler und Schwäche erfahrbar machen und friedfertige Einstellungen und Verhaltensweisen kultivieren. Die „Konfrontative Sozialpädagogik“ wird in der Arbeit mit gewaltbereiten und aggressiven Kindern und Jugendlichen als besonders geeignete Vorgehensweise favorisiert, und es wird für die Entwicklung einer entsprechenden inneren Haltung und Zivilcourage plädiert. Ich werde unter Berücksichtigung grundlegender Erkenntnisse handlungsrelevanter sozial- und erziehungswissenschaftlicher Theorien aufzuzeigen versuchen, wie diese Soziale Arbeit im Sinne sozialerzieherischer Maßnahmen praktisch auszusehen hätte - oder vielmehr anhand zweier Beispiele aussehen könnte. Ich will mich dabei exemplarisch auf zwei jener Modelle konzentrieren, die sich mir selbst im Laufe meiner nunmehr über 20-jährigen Praxis der sozialpädagogischen Arbeit mit gewaltbereiten und aggressiven Kindern und Jugendlichen als besonders bewährte Ansätze erschlossen haben. Dr. phil. Jörg-M. Wolters Jg. 1960; Erziehungswissenschaftler, Dipl.-Sozialpädagoge, Leiter des Instituts für Budopädagogik 374 uj 9 (2008) Anti-Gewalt-Trainings Ausklammern möchte ich an dieser Stelle meine naturgemäß anders gelagerte Arbeit mit den jugendlichen Psychiatrie- PatientInnen, deren Aggressivität, Gewaltbereitschaft sowie Dissozialität und Delinquenz ebenso wie deren interdisziplinäre Behandlung zwingend im Kontext ihrer psychischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen zu sehen sind. Ich befasse mich im Folgenden also mit dem Gros der „normalen“ gewaltbereiten Kinder und Jugendlichen, die ihr gewalttätiges Verhalten als erfolgreiches Verhalten zur Kompensation von Frust und Langeweile - meist in Cliquen - gelernt haben, und mit den darauf bezogenen sozialpädagogischen Konzepten und Vorgehensweisen. Sie sind sowohl in der Gewaltprävention als auch in der delikt- und defizitspezifischen Behandlung recht erfolgreich zur Anwendung gekommen. Meinem Plädoyer für erlebnis-, sport- und körperbezogene und vor allem handlungsorientierte Konzepte Sozialer Arbeit entsprechend stelle ich die junge Ausrichtung der - das Phänomen „Kampf“ thematisierenden - Budopädagogik als eine sinnvolle Möglichkeit sozialpädagogischer Arbeit gerade mit unserer Zielgruppe dar: Zunächst werde ich die sozialerzieherische Bedeutung pädagogisch geleiteter Kampfspiele (wie Ringen, Rangeln und Raufen) vorstellen und dann das darüber hinausgehende Konzept der „Friedvollen Kriegerinnen und Friedvollen Krieger“ - stärker konzentriert auf männliche Adressaten, was unter Berücksichtigung von Genderfaktoren folgerichtig erscheint. Risikofaktoren und Strategien der Sozialen Arbeit Der neueste Stand des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (laut Christian Pfeiffer in einem Vortrag zur Tagung „Wohin mit den Aggressionen“ am 14. März 2008 an der Hochschule Merseburg), wonach trotz allgemein sinkender Jugendkriminalität ausgerechnet die Gewalt- und vor allem Körperverletzungsdelikte um bis zu 15 % zugenommen haben und hier die ausländischen Jugendlichen viermal häufiger bei Raub- und dreimal häufiger bei Gewaltstraftaten auffallen, bildet den aktuellen kriminologischen Hintergrund dieser Abhandlung. Die Verlautbarung des Kriminologischen Instituts Niedersachsen, wonach junge Türken und Spätaussiedler, die wegen ihrer Identifikation mit ihrer originären Machokultur jede Gewalt als legitimen Ausdruck von Männlichkeit rechtfertigen, das Problem seien, zwingt zu verstärkt integrativer Sozial- und Migrationspolitik - und natürlich vor allem die Soziale Arbeit, mit geeigneten Strategien und Konzepten adäquat zu reagieren. Wir müssen dem endlich mehr Rechnung tragen, dass soziale Benachteiligung und Desintegration, geringere Bildungs- und Lebenschancen, Arbeitslosigkeit und Armut stets mit Subkulturen und vermehrter Kriminalität korrespondieren - und alle möglichen Formen der Gewalt befördern. Somit steht fest: Gewaltprävention muss nicht nur an Verhalten, sondern immer auch an Verhältnissen ansetzen. Durch eine Vielzahl von Erklärungsmodellen und Theorien ist bekannt, dass Gewalt ein sehr komplexes Phänomen ist, das in der komplizierten Wechselwirkung zahlreicher biologischer, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Faktoren wurzelt. Somit sind die Bedingungen für eine erhöhte Gewaltbereitschaft bekannt und auch die situativen Bedingungen der Gewaltauslösung und -verstärkung. Die für uns erkenntnisleitenden wie handlungsrelevanten spezifischen Risikofaktoren sind zusammenfassend besonders auszumachen im Bereich: • biologischer, biosozialer Risiken (wie männliches Geschlecht - das diesbezügliche Geschlechterverhältnis von 90 : 10 ist bekannt -, uj 9 (2008) 375 Anti-Gewalt-Trainings ferner Neurotransmitter-Dysfunktion/ Serotonin oder hormonelle Faktoren/ Testosteron, Cortisol); • familiärer Risiken (wie Vernachlässigung oder ungünstige Erziehungsstile, d. h. zu aggressiv und streng, zu lax und inkonsistent, schlagende Eltern, Konflikte oder Trennung der Eltern, auch Armut); • früher Persönlichkeits- und Verhaltensrisiken (wie Impulsivität, ein Hyperaktivitäts-Aufmerksamkeits-Defizit oder Intelligenzdefizit, vor allem auch ein früher Beginn dissozialen, aggressiven Verhaltens); • schulischer Risiken (z. B. Leistungsschwächen, Schulschwänzen); • von Peergroup-Risiken (vor allem wenig prosoziale Kontakte oder lokale Konzentration devianter Kinder und Jugendlicher); • von Risiken in den Denkweisen (stereotype Feindseligkeits-Attribution, subkulturelle Identifikation oder ein geringes oder fragil überhöhtes Selbstwert-Erleben); • von Risiken im Lebensstil (wenig strukturiertes Freizeitverhalten, Alkohol, Drogen); • von Risiken in der Gemeinde (Armut, Ghettoisierung von Problemfamilien, ethnische Probleme). Diese Risiken weisen auf die unterschiedlichsten Aufträge für die Disziplin „Soziale Arbeit“ im Bereich primärer, sekundärer und tertiärer Gewaltprävention hin. Sich damit auftuende Tätigkeitsfelder können und müssen - je nach Kompetenz, die SozialpädagogInnen erwerben, und je nach persönlicher Vorliebe - von diesen Fachkräften zukünftig in Angriff genommen werden. Ich plädiere in diesem Zusammenhang für einen nicht nur schon theoretisch plausiblen, sondern auch praktisch bewährten erlebnis-, spiel-, sport- und körperorientierten Zugang und für einen aktivitätenwie handlungsbezogenen Umgang mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen. Dies insbesondere auch deshalb, weil in der heutigen Zeit der Reizüberflutung (z. B. exzessiver Konsum elektronischer Massenmedien) auf der einen Seite und Erlebnisverarmung und Langeweile auf der anderen Seite sich ein natürliches, aber eben unbefriedigtes jugendtypisches Bedürfnis nach Abenteuer, Erlebnis, Wagnis und Risiko, dem Kick, dem Thrill auch in physischer Gewalt Bahn bricht. In diesem Bedürfnis sind gerade auch körperliche Aspekte des Sich-Erprobens, Sich-Darstellens und Sich-Bewährens stets integriert. Diese aufzugreifen, ihnen zu sinnvoller, sozial adäquater Befriedigung zu verhelfen und sie prosozial zu wandeln, ist pädagogisches Anliegen. Denn Appell, Belehrung, Beratung, Diskutieren und Mal-drüber- Reden, also übliche rein „kopflastige“ oder gesprächsbasierte Methoden, sind allzu oft ungeeignet, die Probleme, die die Jugendlichen haben, und die, die sie machen, in den Griff zu kriegen. Als Folge einer Kritik am „verkopften“ und körperfeindlichen Bildungs- und Erziehungssystem sollen nunmehr in erlebnis- und handlungsorientierten Ansätzen „Kopf, Herz und Hand“ gleichermaßen beansprucht und ausgebildet werden. Erleben statt Reden ist die Devise. Die Praxis, die konkrete, authentische Erfahrung, das Erleben am eigenen Leib ist es, was lehrt, was bildet, fördert, stabilisiert - worauf ja auch die nachweislich effizient arbeitende leib- oder körperorientierte Psychotherapie nicht müde wird, hinzuweisen. Kinder und Jugendliche über deren Kopf hinweg erreichen und zur Einsicht, zum Verstehen überreden zu wollen, ist ebenso uneffektiv wie - allzu oft - pädagogisch bemäntelte Zumutung. Was kennzeichnet attraktive Angebote der Sozialpädagogik? Will man Kinder und Jugendliche, erst recht gewaltbereite, erreichen und wirksam beeinflussen, muss man schon echte Alternativen bieten, die nicht nur kind- 376 uj 9 (2008) Anti-Gewalt-Trainings und jugendgemäß, sondern auch wirklich für die Klientel attraktiv sind: Die Angebote müssen real, konkret-praktisch und handlungsbetont sein. Sie müssen emotionale wie auch körperliche Aktivität erfordern, müssen im Interessenbereich und in der Erlebniswelt der Kinder und Jugendlichen liegen und so eine konkrete Bedeutung für sie haben - z. B. derart, dass man stolz auf die - vielleicht privilegierte - Teilnahme oder gar das Erlernte (Exklusive) sein kann. Überhaupt sei hier am Rande - aber bedeutsam - angemerkt: Attraktive Angebote, verbunden mit Privilegien, Gratifikation und Statusgewinn bei Erfolg, sind wichtige pädagogische Instrumente, um die Teilnahmemotivation, Identifikation mit der Sache, dem Thema, der Gruppe sowie Mitarbeits- und gar Veränderungsbereitschaft der AdressatInnen zu erhöhen. Spiel-, sport- und körperorientierte Ansätze haben, weil alters- und bedürfnisadäquat, gerade deshalb eine weitaus größere Chance, die Zielgruppe anzusprechen, sie zum Mitmachen zu motivieren und am Ende auch nachhaltiger zu fördern. Das gilt besonders bei Jungen aufgrund des heute für sie sehr problematischen Sozialisationsprozesses zur Erlangung einer sozial-verträglich-friedlichen, gelungenen Männeridentität. Und dies gilt noch mehr bei den gewaltbereiten und aggressiven Kids. Mini- Rambos und Schläger-„Machos“, da sind deutsche wie ausländische ganz ähnlich, haben eine besondere Affinität zur körperlichen Stärke, zum Kampf, zum Sieg, Erfolg und oft auch zum Kampfsport. Es leuchtet daher sehr ein, dieses Interesse aufzugreifen, zum bearbeitbaren Gegenstand, ja zum zentralen Inhalt und sogar zur Methode der gewaltpräventiven Arbeit zu machen. Zwei Beispiele für Budopädagogik: „Starke Kids“ und „Friedvolle Krieger“ Es sollen zwei Ansätze vorgestellt werden, in denen der Kampf und das Kämpfen zu einem sozialpädagogischen Anti-Gewalt- Konzept generieren. Beide können wegen ihrer systematischen Betonung des Aspektes des „Kämpfens um des Nicht-Kampfes“ willen, also der systematischen Entwicklung prosozialer, friedfertiger Einstellungen und Verhaltensweisen gerade durch das rechte Kämpfen-Lernen, als „budopädagogische“ Variante Sozialer Arbeit verstanden werden (japanisch heißt Budo etwa: „Nicht-kämpfen-wollen-Weg“). „Starke Kids“ Es geht zunächst um den sozialpädagogischen Wert kämpferischen Spielens und spielerischen Kämpfens in der Gewaltprävention bei dem sich an die Jüngeren wendenden Modell „Starke Kids“. Hier nehmen Rangeln, Raufen und Ringen einen besonderen Stellenwert ein. Warum? In sozialpädagogisch geleiteten Spielhandlungen wird ein sehr attraktives soziales Lernfeld angeboten, in dem der altersgemäße Spaß am Toben und Tollen, am Sich-Verausgaben, am intensiven und ganzheitlichen Spüren seiner selbst, am Aufbringen letzter Kräfte und des eigenen ganzen Willens angemessen berücksichtigt und positiv gelenkt wird. Lebendigkeit, Präsenz und Authentizität sind wesentliche Elemente des in der Auseinandersetzung mit dem Anderen am ganzen Leibe Gefühlten. Diese „Starke Kids“-Kurse werden in der Regel an Grundschulen über ein halbes Schuljahr (1 Stunde in der Woche) durchgeführt, in denen Jungen wie Mädchen (ab der 2. Klasse) gemeinsam und miteinander in der Gruppe (je um 20 Kinder) spielen, rangeln und raufen. Meist uj 9 (2008) 377 Anti-Gewalt-Trainings geht es um soziale „Spiele ohne Sieger“ und nach Regeln, die zuvor nach Maßgabe der Fairness entwickelt werden. Körperlichkeit und Bewegungsorientierung sind die Grundpfeiler dieser „Erlebnispädagogik“. Partnerweise und in Rollenspielen werden Konflikte und Lösungsmöglichkeiten „durchlebt“. Spielerischer Zweikampf als wesentliches Element Zweikampfspiele beinhalten jene psychophysische und psycho-emotionale Spannung, die einen ganz und gar bei der Sache sein lässt. Sie ermöglichen in einem geschützten Rahmen und im spielerischen Umgang „lebenswichtige“ Erfahrungen mit Sieg und Niederlage, Oben und Unten, Stärke und Schwäche, Gut und Böse, Wut und Angst - der eigenen übrigens wie der der anderen. Das Konzept, Gewaltimpulse so erfahrbar zu machen, dass sie sich echt anfühlen und tatsächlich erlebbar sind, ohne dass sie real werden, vermeidet auch jede kontraproduktive Tabuisierung und Unterdrückung, Leugnung oder Verdrängung der in der emotionalen und kognitiven Entwicklung ganz normalen kindlichen Gewaltimpulse. Primitiv bleibende und in ihrer Kontrolle ungeübte Gewaltimpulse sind gefährlich, nicht aber die im Spiel phantasierten und nur in der Imagination gelebten. Wer nicht lernt, seine destruktiven Impulse, Wünsche, Affekte und Kräfte zu dosieren, läuft, wie uns die Psychoanalyse lehrt, erhöhte Gefahr, sie eines Tages plötzlich, unkontrolliert ausagieren, womöglich in einer exzessiven Entladung realisieren zu müssen. So ist sinnvoll, den Kampf im Spiel seiner kriegerischen, barbarischen und existenziellen Inhalte zu berauben und ihn in eine ritualisierte Banalität - ohne jedweden Ernst - zu transformieren. Spielerischer Zweikampf ist undramatisch, wenn Regeln (am besten im Gruppengeschehen gemeinsam entwickelte) jede verbotene Eskalation, echte Wut und Verletzungstendenz verhindern und schädliche Folgen eindämmen. Diese Regeln zielen auf der sportlichen Basis des Fairplay natürlich insbesondere auf die Entwicklung von Verantwortungsbewusstsein Quelle: privat 378 uj 9 (2008) Anti-Gewalt-Trainings und Rücksichtnahme gegenüber dem Gegner ab. Erst das fördert das zum Abbau von Gewaltbereitschaft notwendige Soziale Lernen und eröffnet in der speziellen Beziehungsdynamik prosoziale Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten - und zwar im praktischen Tun. Die explorative und übende Lenkung und Transformation kampfbezogener Aggressivität zugunsten des nämlich zum Partner gewordenen Gegners schult - durch entsprechende Wiederholungen - die charakterlichen Qualitäten wie Achtung, Respekt und Fairness. Und es funktioniert … „Friedvolle Krieger“ Das Beispiel „Starke Kids“ bildet eine Vorstufe zu dem folgenden Ansatz, der sich als „sporttherapeutisches Anti-Aggressivitäts- Training“ mit gewalttätigen und aggressiven Jugendlichen außerordentlich bewährt hat und weite Verbreitung findet. Es handelt sich um die sogenannte „Ausbildung zum Friedvollen Krieger“ (um hier auf die weitaus häufigere Variante für die Mehrzahl der männlichen Kandidaten zu fokussieren), die speziell ausgewählte budopädagogische Elemente aus dem Bereich asiatischer Bewegungs- und Kampfkünste beinhaltet. Durch deren Übung und die dadurch gemachten Erfahrungen sollen systematisch Gewaltbereitschaft und Aggressivität abgebaut und friedfertige Einstellungs- und Verhaltenweisen entwickelt und stabilisiert werden. Die asiatischen Kampfbzw. Budo- Künste (Aikido, Kempo, Tai Chi, Kung Fu) haben sich insofern als sozialerzieherisch besonders wirksam erwiesen, als in ihnen systematisch gelehrt und gelernt wird, Gewalt als Fehler und Schwäche sowie Friedfertigkeit als Souveränität und Stärke des Meisters zu begreifen. Dies unter der Bedingung, dass sie als traditionelle, vom friedliebenden Zen-Buddhismus geprägte Weg-Kunst und nicht etwa als moderner Wettkampfsport betrieben werden. Das ist nicht nur eine Horizont-Erweiterung, sondern extreme Kontrast-Erfahrung für Gewaltbereite. Der wahre Kampfkunst-Meister aber beherrscht nicht nur seinen Körper, die schwierige Technik, sondern ebenso seinen Geist, seine negativen Gefühle, vor allem der Wut oder Angst. Körper- und psychische, psycho-emotionale Selbstbeherrschung sind die zu entwickelnden Fähigkeiten, um in allen Situationen, gerade auch konfliktären und Krisen, jedwedem Angriff - physischer, psychischer oder auch nur verbal-provokativer Art - gewachsen zu sein. „Friedvolle-Krieger“-Kurse wenden sich an „problematische“ Kids, Jungen wie Mädchen, in Schule, Heim oder auch im Rahmen der offenen Jugendarbeit. Je jünger die TeilnehmerInnen, desto besser ist eine gemischtgeschlechtliche Gruppe, Ältere bzw. Teenager trainieren besser unter sich. Je nach Angebot, dessen Intensität sich an der Zielgruppe und dem Auftrag orientiert, finden die Einheiten einbis dreimal wöchentlich (bis zu einem halben Jahr Dauer) statt. Die „Budopädagogik“, die auf traditionellen Köper-Seele-Geist-Übungen zwischen dynamischem Kampf und spiritueller Meditation baut, will Einstellungs- und Verhaltensänderungen durch in speziellen Lernarrangements initiierte Erfahrungen bewirken - das braucht Zeit. Am Ende steht der Friedvolle Krieger, ein zu Sanft-Mut fähiger und Gewaltverzicht entschlossener „Ritter“, der tugendhaft seine Fähigkeiten und Stärke ausschließlich gegen Gewalt und Ungerechtigkeit einsetzt. Grundlage ist die für sozialerzieherische Arbeit wesentliche Lerntheorie, nach der jedes Verhalten, auch das aggressive, erlerntes Verhalten ist. Es kann auch wieder „ver-lernt“ werden, wenn nur ausreichend gegenteilige Kontrast-Erfahrungen, in denen aggressives Verhalten als nunmehr nichterfolgreich erlebt wird, gemacht werden. uj 9 (2008) 379 Anti-Gewalt-Trainings Ein solches Programm für gewaltbereite Kinder und Jugendliche muss bei der Auswahl der geeigneten Übungen Folgendes berücksichtigen: durch Lernen am Modell, durch Nachahmung nur noch nicht-aggressives, prosozial-friedfertiges Verhalten als einziges erfolgreiches Verhalten zu vermitteln. Diese alternativen Lernarrangements sind jedoch nur wirksam, wenn sie in Qualität und Quantität das Bisher-Gelernte durch das Neu-Gelernte in den Erfahrungs- und Bedeutungshintergrund treten lassen und das Neu-Gekonnte sozial aufwerten und verstärken - so z. B. durch die erwähnten Belohnungen durch Privilegien und Statuserhöhung bei erfolgreicher Teilnahme. Erfolg, also Fortschritt in Richtung des pädagogisch Gewünschten, wird im Budo - wie hier - mit höheren Graduierungen, mit der Übernahme von Co- Traineraufgaben oder Tutor-Funktionen des „Älteren Bruders“ belohnt und so der hilfreiche Einfluss durch die „guten“, vorbildlichen Gruppenmitglieder auf ihre Mitschüler genutzt. Partnerübungen aus dem Bereich der Budo-Künste liefern nun gerade diese lerntheoretisch erforderlichen Erlebnisse, denn offensives, aggressives oder gar gewalttätiges Verhalten wird immer durch Misserfolgserlebnisse „bestraft“, weil immer der Andere, der emotional gelassener, konzentrierter und bedachter Handelnde, „gewinnt“ und damit konsequent dafür belohnt wird. Das ist lehrreich - ganz ohne moralische Belehrung und pädagogischen Appell … Das dazugehörige körperlich-technische Repertoire fortgeschrittenerer Budo- „Künstler“ des „Siegens durch Nachgeben“, „Siegens durch Ausweichen und Umlenken“ usw. macht die Teilnehmer natürlich und berechtigtermaßen auch stolz auf das nunmehr - durchaus anspruchsvolle - Gekonnte. Das ist wichtig, denn der Aufbau eines realistischen höheren Selbstwertgefühls aufgrund von Kompetenzzuwachs ist in der Arbeit mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen immer eine zentrale Aufgabe. Soziale Sport-, Bewegungs- und Zweikampfpiele, Meditation, Entspannungsübungen und die strenge Etikette mit ihren verbindlichen Verhal- Quelle: privat 380 uj 9 (2008) Anti-Gewalt-Trainings tensregeln gegenseitiger Wertschätzung - und nicht zuletzt der autoritative (nicht etwa autoritäre) Erziehungsstil der TrainerInnen/ PädagogInnen (übrigens Männern wie Frauen), die hier ganz selbstverständlich als Leitung von der Gruppe akzeptiert werden -, tun ein Übriges, die Teilnehmer in umfassende prosoziale Lernarrangements und Bezugsrahmen einzubinden. Schlussbemerkung Die bisherigen Evaluationen über die Wirksamkeit dieses - auf den ersten Blick sicher paradox anmutenden - Ansatzes belegen empirisch seine hohe (und bisher kaum erreichte) Effektivität in der Arbeit mit gewaltbereiten und sogar hoch-aggressiven Jugendlichen. Die beiden beschriebenen Angebote heben darauf ab, den Kampf, das Kämpfen und Gewalt und Gewaltbereitschaft zum Thema aktiver Auseinandersetzung und sozialer Lernprozesse mit PartnerInnen und in Gruppen zu machen, um Destruktivität konstruktiv zu wandeln. Abschließend möchte ich eines besonders hervorheben: Es geht um die erwähnte innere Haltung, die ich für die Arbeit mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen für wichtig erachte. Ich plädiere für eine professionelle Haltung, die neuerdings mit dem Begriff „Konfrontative Sozialpädagogik“ auch methodisch zu fassen versucht wird. Es wird nach Erzieherpersönlichkeiten verlangt, die mit dem nötigen Fachwissen und einer dazu passenden eigenen inneren Einstellung sich der Gewalt, auch ganz konkret den Gewaltbereiten und -ausübenden, so frühzeitig wie möglich und - als professionell Verantwortung Tragende - auch so energisch und konsequent wie möglich entgegenstellen. Das muss man aushalten können - und wollen! Kritisch-konfrontativ der Gewalt zu begegnen, erfordert einen direkten und direktiven, autoritativen (selbstverständlich nicht autoritär-diktatorischen) Erziehungsstil, in dem der/ die PädagogIn unmittelbar interventionistisch und initiativ, klar und konsequent, deutlich und eindeutig, anleitend und leitend tätig ist. Die anlässlich eines aktuellen Fehlverhaltens von Kindern und Jugendlichen hervorgerufene sofortige Kritik und Konfrontation vonseiten der PädagogInnen und der so entstehende Konflikt zwischen beiden ist dann grundsätzlich gewollt und quasi die eigentliche Arbeitsgrundlage hinsichtlich des Erziehungsauftrages, für den wir als Profis ja schließlich zuständig sind. Dort unmittelbar zu protestieren, Grenzen zu setzen, Konsequenzen zu ziehen oder „nur“ authentische Ablehnung zu zeigen, wo der Zögling (ich sage dies bewusst so) sich falsch verhält oder zu verhalten droht, mit dem Ziel, seinen erzieherischen Einfluss geltend zu machen: Damit gewinnt die Pädagogik an Kontur - und der/ die PädagogIn an Profil. Auch Zivilcourage als eine prosoziale und Verantwortung übernehmende Fähigkeit, zugunsten anderer einzugreifen, sich einzumischen, sich für Werte einzusetzen sowie sich gegen akute Zumutungen und Angriffe zu wehren, ist erlernbar. Darin liegt m. E. eine noch nicht hinreichend genutzte sozial- und auch friedenspädagogische Kraft sowie Basiskompetenz zur weiteren Demokratieerziehung und Menschenrechtserziehung, für die ich Sie, liebe LeserInnen, ermuntern möchte. Literatur Fischer, D./ Klawe, W./ Thiesen, H.-J., 1985: (Er-) Leben statt Reden. Weinheim Frischenschlager, U. u. a., 1982: Erzieherpersönlichkeit und Handlungskompetenz im Alltag sozialpädagogischer Arbeitsfelder. Tübingen uj 9 (2008) 381 Anti-Gewalt-Trainings Gugel, G., 2006: Gewalt und Gewaltprävention. Tübingen Neumann, U./ v. Saldern, N./ Pöhlers, R./ Wendt, P. (Hrsg.), 2004: Der friedliche Krieger. Budo als Methode der Gewaltprävention. Marburg Weidner, J./ Kilb, R. (Hrsg.), 2004: Konfrontative Pädagogik. Wiesbaden Wolters, J.-M., 1992: Kampfkunst als Therapie. Frankfurt/ Bern/ New York/ Paris Wolters, J.-M., 2007: „Starke Kids“ - mit Kopf, Herz und Hand. Ein budopädagogisches Anti- Gewalt-Programm für Mädchen und Jungen. In: Sozialmagazin, 32. Jg., H. 2, S. 34 - 40 Wolters, J.-M. (Hrsg.), 2008: Budopädagogik. Kampfkunst in Pädagogik, Therapie und Coaching. München (erscheint Sommer 2008) Der Autor Dr. phil. Jörg-Michael Wolters ANTI-GEWALT.ORGanisation Tilsiter Straße 11 21680 Stade Tel./ Fax: (0 41 41) 6 26 57 www.anti-gewalt.org www.budopaedagogik.de Kooperation in Zwangs- und Kontrollkontexten ANMELDESCHLUSS: 01. Oktober 2008 REFERENT: Rainer Schwing und Dr. Wilhelm Rotthaus INHALT: Die Arbeit mit Menschen, die aus eigener Initiative eine Hilfe aufsuchen, kann schon fordernd genug sein. Konstellationen, in denen Klienten geschickt werden oder in denen Druck und Kontrolle im Spiel ist, stellen für die Fachkräfte in der Jugendhilfe regelmäßig besondere Herausforderungen dar. Unser Fachtag will zum Austausch anregen und Wege aufzeigen, wie in der Jugendhilfe und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sorgfältig und konstruktiv mit Kontrollaufgaben verfahren werden kann. Der Fachtag wird in Kooperation mit dem „praxis-institut für systemische beratung“ und der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familietherapie e.V. (DGSF) durchgeführt. ZIELGRUPPEN: Alle psychosozialen und pädagogischen Berufsgruppen, die mit Familien arbeiten, psychologische Psychotherapeut/ innen TEILNEHMERZAHL: Max. 80 Teilnehmer/ innen LEISTUNGSPUNKTE: 6 Leistungspunkte nach der LPPKJP Hessen für psychologische Psychotherapeut/ innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/ innen TERMIN: 29. Oktober 2008 UHRZEIT: 09: 00 Uhr bis 17: 00 Uhr KOSTEN: 100 € inkl. Tagungsgetränke und Mittagsimbiss VERANSTALTUNGSORT: Olof-Palme-Haus Pfarrer-Hufnagel-Straße 2 63454 Hanau NÄHERE INFORMATIONEN: Frau Marr/ Tel. 06181-2709 18 E-Mail: connect@ask-hessen.de www.connect-fortbildung.de FACHTAG (FT IV) 29. OKTOBER 2008 Anzeige
