eJournals unsere jugend 60/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Frauen in sozialer Verantwortung: Alice Salomon

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2008
Manfred Berger
Zum großen Teil waren es Frauen, die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik maßgeblich beeinflussten. Sie haben Akzente gesetzt und Impulse gegeben, die bis heute nachwirken. Zu ihnen zählt auch Alice Salomon.
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430 uj 10 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 430 - 433 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel porträt Frauen in sozialer Verantwortung: Alice Salomon Manfred Berger Zum großen Teil waren es Frauen, die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik maßgeblich beeinflussten. Sie haben Akzente gesetzt und Impulse gegeben, die bis heute nachwirken. Zu ihnen zählt auch Alice Salomon. Seit 1993 trägt die von Alice Salomon gegründete soziale Ausbildungsstätte (wieder) ihren Namen, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feiert. Die Jubiläumsfeier beginnt am 23. Oktober 2008 im Audimax der „Alice Salomon Hochschule Berlin“, gefolgt von zweitägigen Veranstaltungen zum Thema „100 Jahre Alice Salomon Hochschule - Professionalisierung des Sozialen? “ Ferner wird zum dritten Mal der „Alice-Salomon-Award“ verliehen. Alice Salomon steht gleichsam für den Wandel von der Hilfe aus Barmherzigkeit zur professionellen Sozialen Arbeit. Dabei legte sie besonderen Wert auf die soziale Ausbildung von Frauen. Folgerichtig eröffnete sie am 15. Oktober 1908 in Berlin- Schöneberg, unter dem Dach des „Pestalozzi-Fröbel-Hauses“, die erste überkonfessionelle Soziale Frauenschule, die als Vorläuferin unserer heutigen Fachhochschulen für Sozialarbeit/ Sozialpädagogik gesehen wird. Als Motto der Schule hatte sie den Satz des englischen Essayisten Thomas Carlyle ausgesucht: „Gesegnet, wer seine Arbeit gefunden hat. Er braucht keinen anderen Segen mehr empfangen.“ Bis 1927, und ab 1925 in Personalunion, leitete Alice Salomon die von ihr gegründete Bildungsinstitution, die folgenden Intentionen diente: 1. Ausbildung von ehrenamtlichen Leiterinnen (z. B. Vereinsvorsitzende), 2. Ausbildung bezahlter Berufsarbeiterinnen (z. B. Anstaltsleiterinnen), 3. Fortbildung wohlhabender junger Mädchen, 4. Belehrung von Hospitantinnen, die sich ehrenamtlich in sozialer Hilfstätigkeit engagieren und 5. Ausbildung von Lehrerinnen für Schulen, die eine soziale Ausbildung in ihr Programm aufgenommen haben (vgl. Salomon 1908, 79). uj 10 (2008) 431 porträt Für die Schulgründerin sollte in einer Synthese von sozialem Engagement und Frauenbewegung die Ausbildung zum einen die Vermittlung von fachspezifischen Kenntnissen beinhalten, zum anderen die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Mädchen/ Frauen berücksichtigen und zu einer „sozialen Gesinnung“ führen. Schnell avancierte die Berliner Soziale Frauenschule zum Vorbild weiterer Einrichtungen. Bereits 1917 gab es in Deutschland so viele Nachfolgeeinrichtungen, dass eine koordinierende „Konferenz der Sozialen Frauenschulen und Wohlfahrtsschulen“ ins Leben gerufen und Alice Salomon zu deren Vorsitzenden gewählt wurde. Zusätzlich übernahm sie noch den 1. Vorsitz der 1929 gegründeten „International Association of Schools for Social Work (IASSW). N un, wer war diese Frau, die zu einem Synonym für die Anfänge der Sozialen Arbeit in Deutschland geworden ist? Sie erblickte am 19. April 1872 als fünftes von sechs Kindern in Berlin das Licht der Welt. Der Vater, Albert Salomon, dessen Familie sich auf einen eigenhändigen Schutzbrief Friedrich des Großen berufen konnte, betrieb einen Lederhandel mit einer Niederlassung in London. Die Mutter, Anna Potocky-Nelken, entstammte einer bedeutenden jüdischen Bankiersfamilie aus Breslau. Gerne wäre Alice Salomon Lehrerin geworden, doch aus Standesdünkel vereitelten die Eltern ihren Berufswunsch. Es gehörte sich einfach nicht, dass ein Mädchen ihrer Herkunft einem Erwerbsberuf nachgeht. Vielmehr hatte es sich auf eine standesgemäße Ehe vorzubereiten. Um der geistigen und emotionalen Leere des „Haustochterdaseins“ zu entgehen, besuchte Alice Salomon Koch-, Sprach-, Schneider- und Stickkurse. Fünf Jahre hatte sie täglich viele Stunden mit Strickarbeiten zugebracht in der Überzeugung, dass „jede Betätigung besser sei als gar keine“ (Salomon 1983, 27). Aus dieser Enge befreite die 21-Jährige eine Einladung (Handzettel) zur Gründungsversammlung (1893) der „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“, sie wurde Mitglied, stieg auf und übernahm im Jahre 1899 die Hauptverantwortung für die Gruppen, die sich äußerst erfolgreich entwickelten; 1912 gab es in Deutschland insgesamt 140 Gruppen. Unterstützt von Emil Münsterberg, Leiter der Berliner Armenverwaltung, organisierte Alice Salomon im Herbst 1899 den ersten Jahreskurs zur beruflichen Ausbildung in der Wohlfahrtspflege - der erste auf dem europäischen Kontinent und Grundstein für die professionelle Ausbildung in Sozialer Arbeit. Im gleichen Jahr nahm sie auch als Delegierte der deutschen Frauen an einer Konferenz des „International Council of Women“ teil, in dessen Vorstand sie 1909 als Schriftführerin und 1920 als Vizepräsidentin gewählt wurde. Zwischen 1900 und 1920 war Alice Salomon Vorstandsmitglied des „Bundes Deutscher Frauenvereine“ (gegr. 1894 von Helene Lange), dem sie bis 1910 als Schriftführerin und bis 1920 als stellvertretende Vorsitzende angehörte. Ab 1920 begann sie, Nationalökonomie zu studieren, schrieb als eine der ersten Frauen in Deutschland und gegen den Widerstand mancher Professoren eine Dok- Manfred Berger Jg. 1944; Leiter des Ida-Seele-Archivs zur Erforschung der Geschichte der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik 432 uj 10 (2008) porträt torarbeit. Ihr (damals wie heute aktuelles) Thema: „Über die Bestimmungsgründe der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit“. Die Dissertation wurde mit der selten vergebenen Note „valde laudabile“ (weithin zu loben) bewertet. Alice Salomon kam in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu dem Fazit, dass die ungleiche Entlohnung Gesetzmäßigkeiten aufweise, die jedoch keine Naturgesetze sind und somit beseitigt werden könnten. Vielmehr müsste das Ziel sein, der Frauenarbeit auf der ganzen Linie ihren dilettantischen, provisorischen und zufälligen Charakter zu nehmen. Eine weitere These lautete, dass nicht die Konkurrenz der Frauen mit den Männern, sondern die Konkurrenz schlecht ausgebildeter Frauen untereinander die Ursache ihres geringen Lohnes sei (vgl. Salomon 1906). Im Herbst 1925 gründete Alice Salomon die „Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“. Diese war eine „Stätte zur Förderung besonderer weiblicher Kulturleistungen“, in der Fürsorgerinnen, Gewerbelehrerinnen, Jugendleiterinnen, Hortnerinnen und Hochschulabsolventinnen für Leitungspositionen in der Wohlfahrtspflege und als Lehrkräfte für soziale und sozialpädagogische Bildungsanstalten (Frauenschulen, Wohlfahrtsschulen, Jugendleiterinnenseminare u. a.), sowie für die Lehrerinnenbildungsanstalten der wirtschaftlichen Frauenschulen aus- und weitergebildet wurden. Alice Salomon war eine Frau der flinken Feder. Sie veröffentlichte ca. 30 Bücher, vor allem Lehrbücher der Sozialen Arbeit, sowie weit über 500 Aufsätze zu Fragen des Mutter- und ArbeiterInnenschutzes, der Wohlfahrtspflege sowie zu Mädchenbildungsfragen u. dgl. m. in nationalen und internationalen Zeitschriften (vgl. Feustel 2004). 1926 publizierte sie eines ihrer bedeutendsten Lehrbücher: „Soziale Diagnose“. Dieses Werk gilt als erster Ansatz einer „Theorie des Helfens“. Folgerichtig geht Alice Salomon davon aus, dass Grundlage und Voraussetzung für jede persönliche Hilfe eine „soziale Diagnose“ ist, da viele Auffälligkeiten der KlientInnen nur Symptome, aber nicht die „Krankheit“ selbst darstellen. Demnach ist es Aufgabe der Wohlfahrtspflegerin, zuerst die sozialen Ursachen eines Verhaltens zu eruieren, indem sie Informationen einholt und schließlich „deutet“. Abschließend kommt sie zu dem Fazit: „Wahre Hilfe kann der Mensch dem Menschen nur bringen, wenn fremde Not, wenn fremdes Leid für ihn zum eignen wird, wenn es ihm im Herzen brennt. Die bessere Technik, die durchdachte Methode ist nur ein Werkzeug - als solches nützlich und unentbehrlich“ (Salomon 1926, 66). Zu ihrem 60. Geburtstag wurden Alice Salomon hohe Ehrungen zuteil. Vom preußischen Kabinett erhielt sie eine Silbermedaille und von der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin den Ehrendoktor der Medizin. Die Zeitschrift „Die Frau“ widmete ihr eine Sondernummer, und die Soziale Frauenschule erhielt ihren Namen. Bereits ein Jahr später verlor sie auf Druck der Nazis alle ihre Ämter. Alice Salomon, die Dezember 1914 zum evangelischen Glauben konvertierte, rechnete sich seit 1934 der Bekennenden Kirche zu. In der Dahlemer Gemeinde Martin Niemöllers hatte sie die Nähe zu Anna von Gierke, Elisabeth von Thadden, Theodor Heuss, Helmut Gollwitzer u. a. m. Sie erinnerte sich in ihrer Autobiografie an Niemöllers Gottesdienste in der Dahlemer Dorfkirche, zu denen die Menschen in solchen Massen gekommen sind, „dass die Fahrkartenkontrolleure der U-Bahnstation Dahlem verstärkt werden mussten. Die Menschen kamen schon eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes … Gegen Ende seiner dortigen Zeit predigte Niemöller jeden Tag, im sicheren Bewusstsein davon, uj 10 (2008) 433 porträt dass seine Freiheit und vielleicht sein Leben bald vorbei sein würden. Während des letzten Jahres seiner Freiheit hatten wir das Gefühl, dass er bewußt seinem Golgatha entgegenging“ (Salomon 1983, 292). Die vielgerühmte und hochgeachtete Frau musste nach einem Gestapoverhör Deutschland innerhalb von drei Wochen verlassen, „um Konzentrationslager zu vermeiden“ (Salomon 1983, 301). Sie konnte und wollte es nicht fassen, obwohl der Verstand ihr sagte, dass nichts anderes zu erwarten wäre: „Natürlich repräsentierte ich, obwohl ich nie einer politischen Partei angehört hatte, all das, was den Nazis missfiel. Ich war von jüdischer ‚Rasse‘; ich gehörte der kämpfenden protestantischen Kirche an, ich war eine progressive Frau, international eingestellt und daher pazifistisch“ (Salomon 1983, 295). Am 12. Juli 1937 verließ Alice Salomon ihre Heimat. Während des Exils in den USA wurden ihr 1939 der Doktortitel und die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Zur Tragik ihres Lebens gehörte, dass sie die elf Jahre im Exil keine sie erfüllende und befriedigende Tätigkeit mehr gefunden hatte, obwohl sie 1945 zur Ehrenvorsitzenden der „Internationalen Vereinigung der Schulen für Sozialarbeit“ ernannt wurde. Kritisch konstatierte die Exilantin 1940 über die USA: „Die Sozialarbeiter hier tun, als ob alles, was in Europa gelernt und gemacht wird, völlig inferior ist“ (zit. n. Wieler 1987, 299). Alice Salomon starb am 30. August 1948 während einer Hitzewelle vereinsamt in New York. Bei der Beerdigung auf dem Evergreens Cemetery in Brooklyn folgten nur vier oder fünf Trauernde dem Sarg. Die New York Times, eine belgische Zeitung und der Aufbau brachten Nachrufe, während man in Deutschland ihren Tod so gut wie nicht zur Kenntnis nahm, abgesehen von einer Trauerfeier im Berliner „Pestalozzi-Fröbel-Haus“ und einem unvollständigen bis unakzeptablen Nachruf im Nachrichtendienst des Deutschen Vereins. In neuerer Zeit wurde Alice Salomon offiziell rehabilitiert. Die Aberkennung des Doktortitels wurde wegen Sittenwidrigkeit für nichtig und ungültig erklärt. Auch trägt die von ihr gegründete soziale Ausbildungsstätte wieder ihren Namen. Durch die Verleihung des „Alice-Salomon-Award“ soll die Erinnerung an die „Grande Dame“ der Sozialen Arbeit wachgehalten werden. Mit dem 2001 gestifteten Preis werden Persönlichkeiten gewürdigt, „die zur Emanzipation der Frau und der Entwicklung der Sozialen Arbeit beigetragen haben und die im übertragenen Sinn das Werk Alice Salomons unter heutigen Bedingungen weiterführen und verstärken“. Literatur Berger, M., 1998: Alice Salomon. Pionierin der sozialen Arbeit und der Frauenbewegung. Frankfurt am Main Feustel, A. (Hrsg.), 2004: Die Schriften Alice Salomon. Bibliographie 1896 - 2004. Berlin Kuhlmann, C., 2000: Alice Salomon. Ihr Lebenswerk als Beitrag zur Entwicklung der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Weinheim Salomon, A., 1906: Die Ursachen der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit. Leipzig Salomon, A., 1908: Soziale Frauenbildung. Leipzig Salomon, A., 1926: Soziale Diagnose. Berlin Salomon, A., 1983: Charakter als Schicksal. Weinheim Wieler, J., 1987: Er-Innerung eines zerstörten Lebensabends. Alice Salomon während der NS-Zeit (1933 - 1937) und im Exil (1937 - 1948). Darmstadt Der Autor Manfred Berger Am Mittelfeld 36 89407 Dillingen manfr.berger@t-online.de