eJournals unsere jugend60/10

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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Was tun, damit Armut auf Bildung trifft?

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2008
Wolfgang Kern
Das Bildungsprojekt "Kinder beflügeln" ist durch PraktikerInnen aus der Jugendhilfe in Kooperation mit Schule ins Leben gerufen und weiterentwickelt worden. Es zeigt Möglichkeiten auf, wie Kindern und deren Familien mit ganz unterschiedlichen Aktivitäten der Zugang zu Bildung geebnet werden kann.
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uj 10 (2008) 425 Unsere Jugend, 60. Jg., S. 425 - 429 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel bildung Was tun, damit Armut auf Bildung trifft? Wolfgang Kern Das Bildungsprojekt „Kinder beflügeln“ ist durch PraktikerInnen aus der Jugendhilfe in Kooperation mit Schule ins Leben gerufen und weiterentwickelt worden. Es zeigt Möglichkeiten auf, wie Kindern und deren Familien mit ganz unterschiedlichen Aktivitäten der Zugang zu Bildung geebnet werden kann. „Es ist ein beispielloser Skandal, dass der Anteil der Bildungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt gesunken ist, der Ausbau der Ganztagsschulen kaum vorankommt und Schulkinder sich teilweise Hausaufgabenbetreuung und Lernmittel nicht leisten können.“ So der sozialpolitische Vorstand des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche Deutschland, Bernd Schlüter, anlässlich eines evangelischen sozialpolitischen Kongresses zu Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik im Juni 2008. Udo Krolzik, Leiter der Akademie für Kirche und Diakonie, benennt auf dem Kongress den Teufelskreis „schlechte Bildung - wenig Chancen - schlechte Jobs“ und warnt, „Bildungsarmut führt zwangsläufig in finanzielle Armut“. Statements, Statistiken und Studien zeigen: Armut ist in Deutschland Realität. Gemäß einer Studie der Arbeiterwohlfahrt aus dem Jahre 2005 schaffen von 100 Kindern, die bereits während ihrer Kindergartenzeit als arm galten, nach der Grundschule nur vier den Sprung aufs Gymnasium. Arme Familien können oft nicht am kulturellen Leben teilnehmen, da Theaterbesuche, Opernbesuche und Musikunterricht für die Kinder zu teuer sind. Auch Kunstgegenstände oder Bücher werden selten gekauft. So entsteht oft eine kulturelle Diskrepanz zwischen Familie und Schule. Die Zahlen sind dramatisch, bleiben von einigen reißerischen Storys abgesehen doch eher anonyme Codierungen eines gesellschaftlichen Problems, dessen Auswirkungen wir in seiner Gesamtheit erst in einigen Jahren erleben werden. PraktikerInnen wissen, wie es in der Realität aussieht und was notwendig wäre Weitaus konkreter wird es im Gespräch mit PraktikerInnen. Zum Beispiel mit Hanns-Konrad von Oelhafen, seit 1971 Lehrer im Berliner Bezirk Spandau. Dort leitete er die Schule am Grüngürtel, die bis 1992 Sonderschule für Lernbehinderte war und danach als Kooperationsschule strukturiert wurde. Er kennt die Statistiken, die den Zusammenhang zwischen Armut und Bildung herstellen. Doch für ihn stehen konkrete Gesichter und Erfahrungen im Wolfgang Kern Jg. 1964; seit 12 Jahren Leiter des Bereichs Kommunikation und Spenden im Evangelischen Johannesstift Berlin 426 uj 10 (2008) bildung Vordergrund, wenn er über dieses Thema spricht. Er kann beispielhaft aufzeigen, wie und warum weniger Geld im Familienbudget mehr Bildungsprobleme im Familienalltag hervorbringt: „In sozial schwachen Familien herrscht ein für die Kinder reizarmes Klima. Statt miteinander zu reden oder gar gemeinsame Erlebnisse zu organisieren, läuft hier zu häufig der Fernseher. Es klingt platt, aber die Neigung zu einfachem Wortschatz und begrenztem Vokabular, zu Ein- und Zwei-Wort-Sätzen bei Kindern mit Lernbehinderungen, kommt wohl auch aus so einem Alltagsleben im Bildschirmlicht“, vermutet Oelhafen. Gabriele Fliegel, Vorsitzende der Vereinigung Wirtschaftshof Spandau und Lehrerin an der Wilhelm-Leuschner-Schule, weiß, wie wichtig gemeinsame Erlebnisse und Aktivitäten sind. „Wo diese fehlen, da bleibt die Kommunikation zwangsweise auf der Strecke. Die Kinder verkümmern geradezu, und die Gesellschaft ist gefragt, die vielen Potentiale, die bei ihnen brach liegen, zu erschließen.“ Sie findet Projekte, die etwas gegen sozial bedingte verminderte Bildungschancen unternehmen wollen, dann besonders wirkungsvoll, wenn mit den Kindern gemeinsam etwas unternommen wird: „Man kann es nur unterstützen, wenn durch Sport, aber auch durch die Beschäftigung mit Pflanzen oder Tieren, das tägliche Einerlei aufgelöst und Mut zum Leben in der Gemeinschaft gemacht wird - das schlägt sich nach meinen Erfahrungen stets in besseren Lernergebnissen nieder.“ Angebote, die die Sinne ansprechen - die Projektidee „Kinder beflügeln“ entsteht Von Oelhafen erinnert sich an das erfolgreiche Projekt „Lesehasser“, das er vor einigen Jahren gemeinsam mit der Spandauer Jugendbibliothek erarbeitete. Bezugnehmend auf das Kinderbuch „Wölfe in den Wänden“ konnten junge BesucherInnen der Bibliothek für einige Zeit kreativ arbeiten. Es entstanden Bilder, Theaterstücke und zum Abschluss eine Hör-CD. Zu ihren Nachmittagsterminen in der Bibliothek oder in einer Werkstatt kamen sie pünktlicher und regelmäßiger als sonst in die Schule. So etwas, meint Hanns-Konrad von Oelhafen, müsse man häufiger schaffen. Wenn man die Kinder in ihren Erlebniswelten erfasst, sie wie selbstverständlich etwas Neues erleben lässt, da fallen auch schnell soziale Barrieren und da eröffnet sich ein Zugang zu Bildung. Problem erkannt … und nun? Wie könnten Kindern Zugänge zu und Erlebnisse mit Bildung geschaffen werden? Dazu braucht man Mittel, Ressourcen und Ideen. Zunächst zu den Mitteln. Hier sind die FundraiserInnen gefragt - und das kann jeder sein, der versucht, für die Bearbeitung eines Problems offensiv Spenden und Unterstützung zu organisieren. Es geht dabei in erster Linie um die Beschaffung privater Mittel, und dies nach allen Regeln der Fundraising-Kunst. Dazu zählen die systematische und breitflächige Anfrage um Spenden, der Kontakt zu gesellschaftlichen Kräften wie Clubs, Stiftungen und Unternehmen sowie eine regelmäßige begleitende Öffentlichkeitsarbeit, die die Aktionen und Erfolge kommuniziert und dokumentiert. Wie nun inhaltlich die Sache angehen? Der Zugang zum Elternhaus ist häufig verschlossen und sehr schwierig. Aber die Kinder aus betroffenen Familien sind in der Regel in Schulen anzutreffen. Und Schulen sind in der Lage, Angebote zu machen, um bildungsferne Kinder und über diesen Weg auch Familien zu erreichen, sofern Schulen über notwendige Mittel und Unterstützung verfügen. uj 10 (2008) 427 bildung Ganz praktisch … Das Evangelische Johannesstift hat sich dieser Sache in Berlin angenommen. Im März 2008 wurde der Aktion der Name „Kinder beflügeln“ gegeben. Zielgruppe sind hauptsächlich Kinder im Grundschulalter. Der Spenderkreis wurde angeschrieben. Das Anliegen fand große Zustimmung, und seitdem fließen die Spenden in ausreichendem Umfang. Unterstützt werden Schulen, die in sogenannten „Verkehrszellen“ liegen, die laut Monitoring der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin besonders schlechte sozialräumliche und sozialstrukturelle Werte aufweisen (Arbeitslosenquote, Anzahl der EmpfängerInnen von Existenzsicherungsleistungen u. Ä.). In Berlin sind solche Orte beispielsweise die Wilhelmstadt und das Neubaugebiet Heerstraße Nord in Spandau, das Märkische Viertel in Reinickendorf und der Soldiner Kiez im Wedding. Schulen aus solchen Stadtteilen sind aufgerufen, Anträge zur Projektförderung zu stellen. Natürlich ist die Unterstützung von Schulen an anderen Orten nicht ausgeschlossen. Voraussetzung für eine Förderung ist, dass die Schule bereit ist, sich aktiv an der Umsetzung des Projektes zu beteiligen, und den Erfolg durch Einsatz von LehrerInnen oder durch das Zur-Verfügung-Stellen von Infrastruktur sicherstellt. Erfüllt eine Schule diese Voraussetzungen, werden gemeinsam mit Schulleitung und LehrerInnen Ideen diskutiert, die an der Schule realisiert werden könnten. Bislang wurden ganz verschiedene Maßnahmen unterstützt oder sind in der konkreten Planung. Hier eine Auswahl: • Zuschuss zu einem Lern-Gewächshaus mit dem Ziel, Biologie erlebnisorientiert zu vermitteln; • Ausstattung einer vorhandenen Küche mit Geschirr und Übergabe eines Schecks an die Schülerfirma, um ein Jahr lang die Essensversorgung sicherstellen zu können; Quelle: Wolfgang Kern 428 uj 10 (2008) bildung • Ferienangebot „Sonneninsel“ während der Schließzeiten des Hortes an einer Schule; • Lesenacht in Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek, um die Lust am Lesen zu wecken; • Hörspielproduktion zur Förderung des Lesens; • Tanzprojekt, um Kinder aus armen Familien in die Gemeinschaft zu integrieren; • Fahrräder, um Verkehrserziehung und Ausflüge zu ermöglichen. Was kosten die Bildungsaktionen und -projekte? Eine Bildungsaktion muss nicht teuer sein. Zur Illustration hier das Beispiel der Kalkulation für das Erstellen eines Hörbuches „Wölfe in Wänden“ von Neil Gaiman und Dave McKean, um damit die Lust am Lesen zu fördern und 25 Kindern mit ihren Familien ein einmaliges Bildungserlebnis zu schaffen. Insgesamt werden E 2200,- ausgegeben. Sie setzen sich zusammen aus folgenden Einzelposten: • Einstieg ins Projekt: Zoo-Besuch mit einer Klasse von 25 Kindern, inklusive Eis am Stiel ( E 200,-) • eine Sprechwissenschaftlerin, die auch die Tonaufnahmen macht, Umfang 30 Stunden ( E 750,-) • Material, um das Stück „Wölfe in Wänden“ bildnerisch nachzustellen (Kulissen, Kostüme, Material). Dies ist wichtig, um auch Kinder, die mit dem geschriebenen Wort nicht so viel anfangen können, mit einzubeziehen ( E 200,-) • 50 CDs, die für Tonaufnahmen und als Geschenk für die Familien verwendet werden können ( E 10,-) • Gestaltung eines attraktiven Lernumfeldes ( E 40,-) • Regiekosten durch den Träger ( E 1.000,-) Dieses Bildungsprojekt kostet also pro Kind E 88,-. Der Zeitumfang umfasst pro Kind mit Zoobesuch, Leseübung und Aufnahmen sowie Aufführungen ca. 15 Stunden. Unbürokratische Projektförderung Die Herausforderung besteht darin, die Vergabe der Mittel der Aktion „Kinder beflügeln“ wirkungsvoll und gerecht zu gestalten. Deshalb wurde ein Beratungsgremium eingerichtet mit VertreterInnen des Johannesstifts, ExpertInnen aus dem schulischen Bereich und VertreterInnen von Unternehmen. Bei den Meetings werden grundlegende Fragen der Projektförderung diskutiert und Entscheidungen getroffen. Die Mittelvergabe - in der Regel 1500 Euro je Projektlaufzeit - geschieht nach festgelegten Kriterien durch den Projektleiter der Aktion „Kinder beflügeln“ in Rücksprache mit dem Geschäftsführer der Jugendhilfe und dem Leiter Fundraising des Johannesstifts. Es wurde ein gut praktizierbares Verfahren entwickelt, damit Schulen die Förderung von Projekten oder die Anschaffung von Lernmitteln ohne hohen Aufwand beantragen können. Die Zusage oder Absage geschieht zeitnah, die Zuweisung der Mittel erfolgt unbürokratisch. Zum Schuljahresbeginn 2008/ 2009 soll wegen des erfolgreichen Anlaufens der Projektförderung auch die Einzelförderung von Kindern in den Blick genommen werden. Unter Einhaltung bestimmter Kriterien wird einzelnen Kindern und Familien geholfen, wenn andere Förderinstrumente staatlicherseits nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Dabei geht es nicht um eine allgemeine finanzielle Zuwendung an die Familie, sondern um die gezielte Übernahme von entstehenden Kosten, wenn Kindern Zugang zu mehr sozialen Kontakten und Bildungsaktivitäten geschaffen werden soll: so z. B. die Mitgliedschaft in einem Sportverein, das Erlernen eines Instrumentes an einer Musikschule, der Einkauf von Schul- und Lernmaterialien, die Teilnahme an Ausflügen oder Kinderfreizeiten. uj 10 (2008) 429 bildung Wer Näheres zu diesem Bildungsprojekt erfahren möchte, ist davon nur einen Klick weit entfernt: www.kinder-befluegeln.de. Literatur Arbeiterwohlfahrt Bundesverband (Hrsg.), 2005: Zukunftschancen für Kinder! ? Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit. Bonn Der Autor Wolfgang Kern Evangelisches Johannesstift Schönwalder Allee 26 13587 Berlin E-Mail: wolfgang.kern@evangelischesjohannesstift.de Erziehung zwischen Risiko und Resilienz 2., völlig neu bearbeitete Auflage 2007. 332 Seiten. (978-3-497-01908-3) kt € [D] 29,90 / € [A] 30,80 / SFr 50,50 Kinder sind verletzlich - zahlreiche Risikofaktoren können sie in ihrer Entwicklung beeinträchtigen. Manchmal können Kinder auch schwierigste Lebenssituationen erfolgreich bewältigen - dann spricht man von „Resilienz“. Wissenschaftler aus verschiedensten Disziplinen und Ländern stellen aktuelle Ergebnisse der Resilienzforschung vor und leiten neue Wege der (heil-)pädagogischen Förderung von Kindern ab. Neu in der 2. Auflage: (Neuro-)biologische Aspekte, Psychologie der Lebensspanne, Rolle des Geschlechts, Bindungsforschung, Migration. a www.reinhardt-verlag.de