unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Sechs Wege zu noch mehr Professionalität in der Kindertagesbetreuung
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2008
Stefan Lenz
Kindertageseinrichtungen sind von der Sozialpädagogik bisher sehr stiefmütterlich behandelt worden. Das Feld wurde den Fachschulen überlassen, Fachverbände sind faktisch nicht vorhanden. Aktuell ist die Kindertagesbetreuung in Krippen, Kindergärten und Horten jedoch ein viel diskutiertes Thema. Angestoßen wurde diese Diskussion nicht von Fachleuten der Kinder- und Jugendhilfe, sondern von Wirtschaftsverbänden und von der Politik. Dieser Beitrag will eine Lanze dafür brechen, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe künftig ernsthaft mit dem Thema Kindertagesbetreuung beschäftigt. Im Moment wird das Feld anderen überlassen.
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462 uj 11+12 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 462 - 466 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel kindertagesbetreuung Sechs Wege zu noch mehr Professionalität in der Kindertagesbetreuung Stefan Lenz Kindertageseinrichtungen sind von der Sozialpädagogik bisher sehr stiefmütterlich behandelt worden. Das Feld wurde den Fachschulen überlassen, Fachverbände sind faktisch nicht vorhanden. Aktuell ist die Kindertagesbetreuung in Krippen, Kindergärten und Horten jedoch ein viel diskutiertes Thema. Angestoßen wurde diese Diskussion nicht von Fachleuten der Kinder- und Jugendhilfe, sondern von Wirtschaftsverbänden und von der Politik. Dieser Beitrag will eine Lanze dafür brechen, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe künftig ernsthaft mit dem Thema Kindertagesbetreuung beschäftigt. Im Moment wird das Feld anderen überlassen. „Kinderkrippe und Kindergarten gelten noch heute keineswegs unumstritten als Bildungsinstitutionen“, so schreibt der Paritätische Wohlfahrtsverband (2002, 33) in einem Positionspapier zur Bildungsdebatte in Deutschland. An anderer Stelle ist zu lesen: „Kindergärten mögen einmal nur gut betreute Spielorte gewesen sein, seit der PISA-Studie haben sich die Ansprüche an die Aufgaben einer Kindertagesstätte aber geändert“, so eine Fortbildnerin für den Orientierungsplan einer Stadt im Rhein-Neckar-Kreis (Mannheimer Morgen, 13. 7. 2006). In der Tagespresse kann man die Antwort auf ein vermeintliches Bildungsdefizit im Kindergarten nachlesen: Die „Krippe soll ein Haus der kleinen Forscher werden, in dem Kleinkinder im Alter von bis zu drei Jahren eine wissenschaftliche Frühförderung erhalten“ (Stuttgarter Zeitung, 17. 10. 2007). In einer baden-württembergischen Stadt wird die Weiterbildung im Rahmen der Umsetzung des Orientierungsplanes von der Pädagogischen Hochschule und der Kinder- und Jugendpsychiatrie betrieben - von Institutionen, die sich in der Vergangenheit nie mit Kinder- und Jugendhilfe befasst haben. Träger, die in Baden-Württemberg eine Fortbildung nach dem Orientierungsplan anbieten wollen, müssen sich vom Landesamt für Schulentwicklung und Schulaufsicht zertifizieren lassen. Ein kleiner Ausschnitt aus der aktuellen Debatte: Bildung wird im Kindergarten vor allem unter dem Etikett der „formalen Bildung“ thematisiert. Wer die Diskussionen zur Kindertagesbetreuung verfolgt, Stefan Lenz Jg. 1968; Diplom- Sozialpädagoge (FH), Geschäftsführender Vorsitzender des Postillion e.V. - Kinder- und Jugendhilfe im Rhein-Neckar-Kreis uj 11+12 (2008) 463 kindertagesbetreuung wird feststellen, dass sich vor allem SchulpädagogInnen, Wirtschaftsleute und Berufsverbände äußern. Parallel zur Bildungsdebatte findet die Betreuungsdebatte statt, die oft mit dieser vermischt wird. Nicht selten ist die Forderung zu hören, dass aus Halbtageskindergärten Ganztageseinrichtungen werden müssten, damit Bildung möglich sei. Sicher ist aus Gründen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Umwandlung einiger Kindergärten mit Öffnungszeiten von 8 bis 12 Uhr und Schließzeiten von 6 bis 8 Wochen hin zu Ganztageseinrichtungen sinnvoll. Eine Bildungskritik kann daraus aber nicht begründet werden. Rächt sich hier, dass in der Vergangenheit der Kindergarten von der Sozialpädagogik als „Spielstube“ abgetan wurde? Dass es an den Fachhochschulen für Sozialpädagogik zu wenige Lehrstühle für Kindertagesbetreuung gibt? Wo bleiben die Diskussionsbeiträge aus der Kinder- und Jugendhilfe, die die Arbeit der ErzieherInnen verteidigen und die bei der ganzen Betreuungs- und Bildungsdebatte Sprachrohr für Kinder sind? Die Kindertagesbetreuung - so heterogen sie ist - ist besser als ihr Ruf. Wir müssen dennoch einiges tun. Kindergärten und Krippen bleiben Teil der Kinder- und Jugendhilfe Krippen und Kindergärten müssen Teil der Kinder- und Jugendhilfe bleiben. Die mitunter diskutierte Eingliederung in das formale Bildungssystem der Schule macht keinen Sinn. An dieser Stelle darf daran erinnert werden, welche Innovationskraft von allen Bereichen der Jugendhilfe ausgeht. Die Angebote und Methoden in der Jugendhilfe haben sich innerhalb der letzten 30 Jahre stark verändert, während in der Schule vieles beim Alten geblieben ist. Die Jugendhilfe ist demgegenüber eine Erfolgsgeschichte. Erziehung, Bildung und Betreuung sind die gesetzlich schon lange vorgeschriebenen Aufträge des Kindergartens - was auch Einzug in die Praxis gehalten hat. Im Gegensatz zur Schule kennt die Kinder- und Jugendhilfe einen Bildungsbegriff, der sehr viel umfassender ist als eine rein kognitive Wissensvermittlung. In Theorien und Konzeptionen der Kindertageseinrichtungen finden sich sehr gute ganzheitliche Bildungsbegriffe, die auch in die Praxis umgesetzt werden. Zahlreiche bedeutende PädagogInnen haben sich intensiv mit frühkindlicher Entwicklung beschäftigt: Montessori, Malaguzzi, Fröbel, Pikler, um nur einige zu nennen. Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände kritisiert hingegen: „Bisher hat sich der Kindergarten weitgehend auf die Vermittlung nur sehr elementarer Sachverhalte und das soziale Lernen konzentriert. Die kognitiven Fähigkeiten der Kinder spielen dagegen kaum ein Rolle und werden zu wenig oder nicht gezielt gefördert“(BDA 2006, 7). Es wird also ein verbindlicher Bildungsplan gefordert. Hier stellt sich die Frage nach dem Sinn dieser Forderung, denn obwohl es in den Schulen bereits einen verbindlichen Bildungsplan gibt, haben sie bekanntermaßen in der PISA-Studie, die kognitives Wissen verglichen hat, nicht so gut abgeschnitten. Schaffung bedarfsgerechter Angebote mit einer Debatte über deren Grenzen aus Sicht der Kinderbedürfnisse Die mit der demografischen Entwicklung einhergehenden Veränderungen in Familie und Berufsleben erfordern einen ständigen 464 uj 11+12 (2008) kindertagesbetreuung Spagat zwischen Berufstätigkeit und Elternschaft. Immer noch sind es meist die Mütter, die diesen Spagat leisten müssen. Kongresse und Publikationen, neue Träger versprechen auf Hochglanzbroschüren eine echte Vereinbarkeit. Viele Anbieter aus der Jugendhilfe sind unkritisch auf diesen Zug aufgesprungen. Es bleibt die Frage, was aus dem politischen Anspruch der Jugendhilfe, besonders die Interessen von Kindern und Jugendlichen zu vertreten, wird. Sicher sind wir der Wirtschaft dankbar, die Kindertagesbetreuungsdebatte angestoßen zu haben, und gerne richten wir Tageseinrichtungen ein, die Berufstätigkeit der Eltern ermöglichen. Wir müssen dafür sorgen, dass es den Eltern gut geht, und dazu gehören arbeitnehmerfreundliche Öffnungs- und Schließzeiten. Dies darf aber nicht dazu führen, dass dabei die Kinder aus dem Blick geraten. Kinder haben ein Recht auf ihre Eltern, und sie haben ebenfalls ein Recht auf Freizeit außerhalb der organisierten Kinderbetreuung. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf darf keine Einbahnstraße sein, bei der nur die Bedürfnisse der Arbeitgeber berücksichtigt werden. Hier ist die Jugendhilfe gefordert, nach dem Kindeswohl zu schauen und eine entsprechende Debatte zu beginnen. Beibehaltung und Weiterentwicklung der Erzieherausbildung Vor allem von Berufsverbänden kommt die Kritik, dass ErzieherInnen durch ihre Fachschulausbildung nicht ausreichend auf das Berufsleben vorbereitet sind. Die Forderung geht in Richtung „Akademisierung der ErzieherInnen“. Doch kann dies nicht die Lösung des vermeintlichen Problems sein. Schulen sind zu 100 % akademisiert und stehen auch in der Kritik. Fachschulen bilden ErzieherInnen sehr gut aus. Eine Mischung aus Theorie und Praxis bildet eine gute Basis für BerufseinsteigerInnen. Im Gegensatz zu den HochschulabsolventInnen verfügen sie über ein hohes Methodenrepertoire, um sinnvolle Arbeit umzusetzen. Natürlich sind Fachschulen in das Schulsystem eingebunden. Präsenzpflicht, Klassenarbeiten und weitgehend verschulte Unterrichtsstrukturen sind nach wie vor Hemmschuh bei der Ausbildung von sozialpädagogischen Fachkräften. Wir brauchen an den Fachschulen weniger durch Schule geprägte FachlehrerInnen, sondern in den fachpraktischen Fächern sozialpädagogische Fachkräfte (Diplom-PädagogInnen und SozialpädagogInnen). Hier anzusetzen und die Schulen weiterzuentwickeln, wäre wichtig und gut. Sicher ist auch eine bessere Vernetzung zu den Fachhochschulen für Sozialpädagogik anzustreben. Die immer wieder geforderte verbindlichere Abstimmung von Praxis und Schule bei den PraktikantInnen sollte eine wichtige Weiterentwicklung der Ausbildung von ErzieherInnen werden. Kitas brauchen Unterstützung von fachlich starken Trägern Leider lassen sich Kindergärten allzu leicht in einen fachfremden Aktionismus drängen. Da werden formalisierte Programme gestartet, die gerne in der Regionalpresse stehen und das Gewissen der Eltern beruhigen (z. B. Faustlos, Würzburger Trainingsprogramm etc.). Zwischenzeitlich lassen sich auch - mit der Argumentation, „Zeitfenster nutzen zu wollen“ - Konzepte verkaufen, die eine „Turbobildung“ versprechen. Englisch in der Krippe, wissenschaftliche Ausuj 11+12 (2008) 465 kindertagesbetreuung bildung im Kindergarten und weiteres, damit ja nichts verpasst wird. Dabei forderte schon die Kinderärztin und Pädagogin Pikler (2001), den Kindern Zeit zu lassen. Die Fähigkeit zur Selbstbildung von Kindern wird noch immer unterschätzt. Wir schaffen über die Weiterverfolgung dieser Hysterie in Richtung Turbo-Entwicklung - vor allem im kognitiven Bereich - Sozialwaisen. Sind die Programme im Einzelnen oft nicht schlecht, sie haben eins gemeinsam: Sie bestechen durch ihren dem Schulsystem stark angenäherten Bildungsbegriff. Meist handelt es sich um feste Programme, an dessen Ende man schon fast ein Zeugnis ausstellen könnte. Oft fehlt auch ein schlüssiges Gesamtkonzept, aus dem hervorgeht, warum solche Programme im Kindergarten etabliert werden. Um unsere Ziele zu erreichen, benötigen wir nicht solche Programme, sondern wir brauchen gut umgesetzte Alltagskonzepte. Und wir brauchen ErzieherInnen, die den Kindern Zeit lassen und ihnen altersspezifisches Lernen ermöglichen. Doch das lässt sich leider so schlecht medial aufbereiten. Hier sind fachlich starke Träger gefragt, die hinter den ErzieherInnen stehen und auch gegebenenfalls den von außen gesteuerten Aktionismus bremsen, dabei aber auch fachliche Anleitung und Kontrolle bieten. In der Kindertagesbetreuung fehlt uns das oft. Kindergärten in Trägerschaft einer Kirchengemeinde oder einer Gemeinde haben häufig keine sozialpädagogisch geschulten Träger hinter sich. Fachberatungen sind oft in unzureichender Zahl vorhanden und können nur punktuell beraten. Wie soll in einem solchen Kindergarten strukturell hohe Fachlichkeit eingefordert und entwickelt werden? Gute Teams und Leitungen können das im Einzelfall ersetzen, aber gute Arbeit muss strukturell abgesichert sein. Einrichtungen und MitarbeiterInnen müssen einen trägerübergreifenden Fachverband gründen In der Jugendhilfe gibt es eine Vielzahl an Fachverbänden, in denen sich Einrichtungen, Einzelpersonen und Ämter zusammengeschlossen haben und fachpolitisch arbeiten. Am Beispiel der Hilfen zur Erziehung wird dies deutlich: Forderungen nach geschlossener Unterbringung wird von Fachverbänden stets offensiv begegnet. Wenn der Kindergarten kritisiert wird, fehlt ein solcher Fachverband, der antwortet. Das können Berufsverbände nicht, da deren Aufgabe die Vertretung der Fachkräfte ist. Und auch das ist wichtig. KollegInnen vor Ort müssen sich auf Tagungen vernetzen und voneinander lernen. In der Kindertagesbetreuung gibt es keinen solchen trägerübergreifenden Verband. Die Schweiz macht es mit dem Verband Kindertagesstätten der Schweiz (www.kitas. ch) vor. Wir brauchen in Deutschland auch einen Verband, der fachpolitisch arbeitet, vernetzt und einen Innovationsschub betreibt. Rein konfessionelle Trägerverbände decken hier nicht alles ab. Schaffung multiprofessioneller Teams In der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten immer verschiedene Berufsgruppen zusammen: studierte SozialpädagogInnen und ausgebildete ErzieherInnen, mitunter auch AbsolventInnen anderer Berufsrichtungen. Das hat sich in vielen Bereichen als äußerst effektiv erwiesen. Der Kindergarten bildet hier die Ausnahme: Interdisziplinäre Teams trifft man sehr selten an. Dabei handelt es sich nicht immer um ein 466 uj 11+12 (2008) kindertagesbetreuung Finanzierungsproblem; viele Leitungen werden wie SozialpädagogInnen eingruppiert. In Deutschland beträgt der Akademikeranteil in der Kindertagesbetreuung 2,6 %, bei Leitungen immerhin 19,6 % (Lange/ Riedel 2007, 11). Hier stellt sich sicher die Frage, ob erfahrenen ErzieherInnen nicht Studienangebote an den Fachhochschulen für Sozialpädagogik gemacht werden sollten, um ihnen eine berufsbegleitende Weiterbildung zu ermöglichen. Dieser Prozess läuft langsam an. Der Versuch der Fachschulen, einen sogenannten „Fachwirt für Führung und Organisation“ einzuführen, scheint hier eine halbherzige Lösung. Studiengänge an den Pädagogischen Hochschulen, wie in Baden- Württemberg neuerdings eingeführt, sind zumindest fragwürdig. Die Schaffung von Lehrstühlen an den Fachhochschulen für Sozialpädagogik scheint hier erfolgversprechender. Literatur BDA, 2006: Bessere Bildungschancen durch frühe Förderung - Positionspapier zur frühkindlichen Bildung. Berlin Gemeindetag Baden-Württemberg, 2007: Ländliche Städte und Gemeinden - ein starkes Stück Heimat. Grundlagenpapier des Gemeindetages. In: Die Gemeinde, 130. Jg., H. 19, S. 784ff Lange, J./ Riedel, B., 2007: Fachkräfte - das pädagogische Personal in Kindertageseinrichtungen. In: KomDat Jugendhilfe, 10. Jg, Heft 1, S. 10 - 13 Paritätischer Wohlfahrtsverband, 2002: PISA und die Folgen. Positionen und Forderungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Frankfurt am Main Pikler, E., 3 2001: Lass mir Zeit. München Der Autor Stefan Lenz Fliederweg 35 69259 Wilhelmsfeld stefan.lenz@postillion.org 2003. 150 Seiten. 11 Abb. 7 Tab. (978-3-497-01653-2) kt Kindertagesstätten betreuen Kinder pädagogisch, fördern sie spielerisch; Kitas haben einen Erziehungs- und Bildungsauftrag zu erfüllen, sollen die Qualität ihrer Arbeit nachweislich entwickeln und ihr Haus professionell managen. Keine Frage, das Team einer Einrichtung muss sich diesen Aufgaben stellen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Konzeption der Kita und ihre Entwicklung. Die Konzeption ist die Grundlage und bildet den roten Faden für die solide Arbeit im Team und mit den Kindern, sie gibt maßgebliche Impulse für eine qualitativ hochwertige Arbeit. Ein unerlässliches Arbeitsbuch für ErzieherInnen und FachberaterInnen und für die gezielte Professionalisierung im Arbeitsfeld Kindertagesstätten. a www.reinhardt-verlag.de
