eJournals unsere jugend 60/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Qualifizierung und Reformierung der Ausbildung - Akademisierung alleine ist keine Lösung

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2008
Ingeborg Becker-Textor
Unsere Jugend hat zwei ausgewiesene Autorinnen gebeten, kurze Statements zur Frage der Akademisierung der Erzieher- ausbildung zu verfassen. Hier der Beitrag von Ingeborg Becker-Textor. Zur Zeit ebbt die Diskussion um die Akademisierung der Erzieherausbildung nicht ab. Meinungen prallen auf Meinungen. Die ersten Hochschulen bilden aus, dennoch ist keine wirkliche Lösung in Sicht - und keine kritische Reflexion der vielen erfolglosen "Reförmchen". Scheut man sich in politischen wie in Fachkreisen, aus Fehlern zu lernen?
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482 uj 11+12 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 482 - 485 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel kindertagesbetreuung Qualifizierung und Reformierung der Ausbildung - Akademisierung alleine ist keine Lösung Ingeborg Becker-Textor Unsere Jugend hat zwei ausgewiesene Autorinnen gebeten, kurze Statements zur Frage der Akademisierung der Erzieherausbildung zu verfassen. Hier der Beitrag von Ingeborg Becker-Textor. Zur Zeit ebbt die Diskussion um die Akademisierung der Erzieherausbildung nicht ab. Meinungen prallen auf Meinungen. Die ersten Hochschulen bilden aus, dennoch ist keine wirkliche Lösung in Sicht - und keine kritische Reflexion der vielen erfolglosen „Reförmchen“. Scheut man sich in politischen wie in Fachkreisen, aus Fehlern zu lernen? Über Reformen wird schon lange geredet, wo bleiben die „großen Würfe“? Im Rückblick der letzten Jahrzehnte gab es bundesweit in den Ländern zahlreiche Weiterentwicklungen in der Erzieherausbildung, aber auch Rückschritte. Sukzessive hat man die Zugangsvoraussetzungen angehoben und die Ausbildungsinhalte mit allgemeinbildenden Inhalten angereichert. Reichte in den 60er Jahren als Zugangsvoraussetzung noch der Hauptschulabschluss, wurde bei der Weiterentwicklung zur Fachschule bereits die Mittlere Reife vorausgesetzt. Bei „QuereinsteigerInnen“, die keine Mittlere Reife nachweisen konnten, setzte man eine berufliche Ausbildung nach der Hauptschule dem mittleren Bildungsabschluss gleich. Diese Entscheidung war m. E. immer sehr fragwürdig. Die Qualifikation in einem anderen Beruf als Zugangsvoraussetzung anzuerkennen, hat eher zu einem Qualitätsverlust geführt. Weiter ging es mit den Reformen, denn Deutschland hinkte im europäischen Vergleich schon immer hinterher. Während in anderen europäischen Ländern ErzieherInnen seit jeher an der Hochschule ausgebildet wurden, machte die Politik in Deutschland vor einer Anhebung die Augen zu. Man darf spekulieren, woran das lag oder liegt. In Bayern führte die Entwicklung zur Fachakademie für Sozialpädagogik (Ausbildungsdauer 4 bis 5 Jahre) aber dennoch nicht zur Europafähigkeit. Allerdings konnte man durch Ablegen einer „Zusatzprüfung“ die Fachhhochschulreife und bei Supernotenschnitt die fachgebundene Ingeborg Becker-Textor Jg. 1946; Kindergärtnerin und Hortnerin, Montessori-Diplom, Fachlehrerin für Werken, Diplom- Sozialpädagogin (FH), Diplom-Pädagogin (Univ.), Mitbegründerin des Instituts für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) uj 11+12 (2008) 483 kindertagesbetreuung Hochschulreife (Zugang zur Universität) erreichen. Je offener der Durchgang nach oben, desto mehr „Abiturstoff“ wurde in die Lehrpläne aufgenommen: Englisch, Biologie, Mathematik etc. Mit der Einführung der Ausbildungsverkürzung für AbiturientInnen stieg die Zahl der BewerberInnen mit Abitur. Oft waren es StudienabbrecherInnen, die sich vom Studienfach etwas anderes erwartet hatten, oder auch AbiturientInnen mit einem Abiturschnitt, der sie die Hürde des Numerus Clausus nicht nehmen ließ. Man erkannte die Bedeutung der frühen Bildung und definierte den Kindergarten als Bildungseinrichtung. Anstatt aber die Ausbildung anzuheben, machten sich Bildungspolitik und Forschung daran, die Erziehungspraxis für Kindergärten durch Modellprojekte zu reformieren. Engagierte ErzieherInnen beteiligten sich an Projekten, bildeten sich weiter. Nur sehr wenige Forschungsergebnisse fanden Eingang in die aktuelle Ausbildung, in die Lehrpläne schon gar nicht. Wie lange dauert eine Lehrplanänderung, und wann stehen dann die ersten „neuen“ ErzieherInnen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung? Im Schnitt nach 5 bis 7 Jahren - wenn es schnell geht. Der PISA-Schock löste eine breite Bildungsdiskussion aus. Die Ergebnisse der Hirnforschung legten klar, dass Kinder vor dem Eintritt in die Schule so viel lernen wie nie mehr in ihrem ganzen späteren Leben. Das beunruhigte die Verantwortlichen. Lösungsabsicht: Anhebung der Ausbildung der ErzieherInnen auf Hochschulniveau? ! Es kam zu keinem Boom im Forschungsbereich Elementarpädagogik. Forschungsprojekte - meist auf Länderebene - konnten die fehlende Grundlagenforschung nicht wettmachen. Ergebnisse von Modellprojekten, die unter verbesserten Rahmenbedingungen durchgeführt wurden, verschwanden in den Schubladen. Aus Angst vor Mehrkosten? Wieder scheitert es am Geld. Die Unterstellung, dass die schlechte Bildungssituation auf der unzureichenden Ausbildung der ErzieherInnen beruhe, wird noch dadurch untermauert, dass vielerorts Förderprogramme entwickelt wurden und GrundschullehrerInnen in Kindergärten stundenweise für die frühe Bildung eingesetzt werden. Ich nenne das „Diskriminierung“ des Erzieherberufes und der ErzieherInnen. Was kann die ErzieherIn dafür, dass ihre Ausbildung nicht den aktuellen Anforderungen, Inhalten und Qualitätsstandards entspricht, dass es in vielen Kindergärten neben Fachkräften noch eine große Zahl von KinderpflegerInnen, SozialassistentInnen etc. auf Planstellen gibt? Hier stellt sich die Frage, worin die Qualifizierung von GrundschullehrerInnen für die vorschulische Bildung liegt. Meine Erfahrung ist, dass LehramtstudentInnen, GrundschullehrerInnen und auch SeminarbetreuerInnen der ReferendarInnen über keine besonders vertieften Kenntnisse der Elementarpädagogik oder gar der Methodik und Didaktik des Kindergartens verfügen. Alle bisherigen Reformbemühungen größerer Art haben zu keinem Durchbruch geführt. Ich behaupte, dass sie an der Finanzierung gescheitert sind, und dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen würde die Ausbildung teurer kommen, und zum anderen kann man ErzieherInnen dann nicht mehr mit der derzeitig schlechten Bezahlung abspeisen. Reizwort Akademisierung Wir sind am Ende einer Sackgasse, also ruft man nach Akademisierung. Kaum eine Diskussion befasst sich aber mit der tariflichen Einstufung der akademischen ErzieherInnen. Bereits jetzt gibt es auf dem Ar- 484 uj 11+12 (2008) kindertagesbetreuung beitsmarkt viele arbeitslose SozialpädagogInnen und DiplompädagogInnen - also akademische ErzieherInnen. Warum werden sie von den Trägern nicht angestellt? Seit kurzer Zeit boomt die Errichtung von Ausbildungsgängen. Die gelehrte Didaktik soll handlungsorientiert sein und für eine Tätigkeit in der Praxis qualifizieren. Gleichzeitig gibt es ein Überangebot von Fortbildungen, die insgesamt betrachtet wenig kontrolliert und schon gar nicht zertifiziert werden. Die ErzieherInnen bzw. deren Träger bezahlen viel Geld dafür, weil sie hoffen, durch die Zusatzqualifizierung mehr Anerkennung zu erhalten. Vor diesem Hintergrund sollten Zusatzausbildungen dringend zertifiziert werden, damit sich die „Spreu vom Weizen trennt“. Eine Verknüpfung mit einer modulhaft ausgerichteten Aus- und Fortbildung wäre sicher nützlich. BA-Studiengänge locken viele ErzieherInnen, vorausgesetzt, ihre Zugangsvoraussetzungen stimmen - ein finanzielles Investment, das sich vielleicht nach zwei Jahrzehnten rechnet! „Frühkindliche Bildung“ heißen die neuen Studiengänge. Die Inhalte reichen von einer grundständigen Ausbildung bis hin zu Schwerpunktsetzungen im Bereich Management, Evaluation, Integration u. Ä. Alles scheint mit sehr „heißen Nadeln gestrickt“. Folgende Fragen stellen sich beispielsweise in diesem Zusammenhang: • Welche Berufsbezeichnung sollen diese „ErzieherInnen“ bekommen? • Ist die Ausbildung staatlich anerkannt und in den Förderrichtlinien für die Kitas in den Ländern verankert? • In welche Entgeltgruppe sollen die AbsolventInnen eingestuft werden? • Kann sich das Studium auch für erfahrene Erzieherinnen rechnen? • Ist die neue Ausbildung auch wieder eine Breitbandausbildung? Wenn nicht, wie werden dann die ErzieherInnen für das breite Spektrum der Einsatzfelder im Bereich der Jugendhilfe ausgebildet? Festzustellen ist, dass kaum neue Professorenstellen an den Hochschulen geschaffen werden, also lehren die Personen frühe Bildung, die sich bis jetzt z. B. mit klassischer Sozialarbeit beschäftigt haben, oder sie sind gar gänzlich fachfremd. Die Lehrenden sind selbst Lernende in einem für sie neuen Fachgebiet - da wird der Mathematiker plötzlich zum Elementarmathematiker. Mangels einer Didaktik des Kindergartens kann jede Hochschule ihr eigenes Konzept entwickeln. An den meisten Hochschulen sind mittlerweile klassenähnliche Strukturen entstanden. Ist das das Ziel der Akademisierung? Wenn nur wenig Praxis, aber viel Wissen vermittelt wird, muss man sich fragen, wer die Alltagstauglichkeit verantwortet. Und wo bleibt die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, der dann künftig in der Lehre aktiv werden kann? Fragen über Fragen. Je mehr unbeantwortete Fragen, desto mehr muss man sich von der vorschnellen (Pseudo-)Akademisierung der Ausbildung distanzieren. Denn eines ist klar: Die Reförmchen der letzten Jahre reichen nicht aus, um die Erzieherausbildung bedarfsgerecht zu qualifizieren. Ebenso ist es nicht genug, „nur“ zu akademisieren. Es fehlen ein klares Konzept der Inhalte und Strukturen der Ausbildung und der Mut, alte Pfade zu verlassen. Bevor wir weitere pädagogische Abschlüsse anstreben, sollten wir darüber nachdenken, welche Berufsbilder wir dann ersatzlos streichen wollen (z. B. KinderpflegerIn, SozialassistentIn …), wie die Eingruppierung der neuen ErzieherInnen aussehen soll und ob es nicht an der Zeit wäre, eine bundeseinheitliche Ausbildung zu konzipieren und einzuführen. uj 11+12 (2008) 485 kindertagesbetreuung Mehr Bildung und Pädagogik wäre auch jetzt schon möglich, wenn die Rahmenbedingungen verbessert würden. Das ist längst überfällig! Wissen allein genügt nicht. Die neue Erzieherin bzw. der neue Erzieher muss dieses erweiterte Wissen auch anwenden und in professionelles Handeln umsetzen können. Eine neue Ausbildung muss sich die Förderung der Kompetenzen jedes Studierenden zum Ziel setzen. Dies würde allerdings an den Hochschulen einen Paradigmenwechsel erfordern. Akademisierung als bildungspolitische Lösung reicht demnach nicht aus. Konzepte sind gefordert, Ziele müssen klar formuliert werden. Dann kann es zu einer wirklichen Reform kommen und wird nicht bei unbefriedigenden Reförmchen bleiben. Mit Blick nach Europa kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass dort, wo wir seit jeher eine akademische Ausbildung für ErzieherInnen haben, die frühe Bildung keineswegs immer besser ist. Vielmehr fehlt oft das praktische Handwerkszeug bezogen auf Inhalte, Vermittlung, Methodik und Didaktik. Die Autorin Ingeborg Becker-Textor Fichtestraße 14 a 97074 Würzburg becker-textor@freenet.de 2008. 196 Seiten. (978-3-497-02031-7) kt Prozesse der Selbstbildung werden bislang weitgehend mit Blick auf das einzelne Kind untersucht. Dass Kinder auch in Gruppen wesentliche Prozesse selbst anregen, steuern und modellieren, wird zu selten berücksichtigt. In diesem Buch wird vor dem Hintergrund systematischer Praxisbeobachtungen eine fundierte sozialkonstruktivistische Perspektive auf Kindergruppen entwickelt. Diese Grundlegung eröffnet einen neuen Blick auf die Entwicklungspotentiale und die Selbstbildungsprozesse insbesondere von spontan gebildeten Kleingruppen in Kindergärten. Ausgehend hiervon werden Anregungen für den Umgang mit Kindergruppen und für die konzeptionelle Arbeit von Einrichtungen entwickelt. a www.reinhardt-verlag.de