unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Sozialraumreformen und ihre Wirkungen - eine Bilanz
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2008
Maria Kurz-Adam
Die Kinder- und Jugendhilfe hat sich immer mit der Kraft ihrer Visionen und zugleich mit der kritischen Reflexion ihrer Konzepte weiterentwickelt. Die Sozialraumorientierung ihrer Hilfen war und ist eine solche Vision, die gerade im Feld der erzieherischen Hilfen im Zuge der Sozialraumreformen umgesetzt worden ist und dort erhebliche Erfolge, aber auch Risiken zu verzeichnen hat.
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486 uj 11+12 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 486 - 494 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel sozialraumorientierung Sozialraumreformen und ihre Wirkungen - eine Bilanz Maria Kurz-Adam Die Kinder- und Jugendhilfe hat sich immer mit der Kraft ihrer Visionen und zugleich mit der kritischen Reflexion ihrer Konzepte weiterentwickelt. Die Sozialraumorientierung ihrer Hilfen war und ist eine solche Vision, die gerade im Feld der erzieherischen Hilfen im Zuge der Sozialraumreformen umgesetzt worden ist und dort erhebliche Erfolge, aber auch Risiken zu verzeichnen hat. Die aktuelle und intensiv geführte Kinderschutzdebatte in der Kinder- und Jugendhilfe macht deutlich, dass sich die Sozialraumreformen mit der Frage eines wirksamen Kinderschutzes in Zukunft intensiv auseinander setzen müssen. Eine kritische Reflexion ist hier notwendig, um auch in den Sozialraumreformen „vom Kind aus zu denken“ und die Subjektstellung der Kinder und Jugendlichen im Angebots- und Hilfesystem der Kinder- und Jugendhilfe sensibel zu stärken. Sozialraumreformen als Vision Die Kinder- und Jugendhilfe hat seit Inkrafttreten des SGB VIII 1991 erhebliche Modernisierungswellen durchlaufen - die Lebensweltorientierung ihrer Angebote, ein verändertes, selbstbewusstes und eigenständiges Bildungsverständnis, die Dienstleistungsorientierung ihrer Verwaltungs- und Vollzugsstruktur und die Anpassung an das Neue Steuerungsmodell sind nur einige der wichtigen Stichworte, die diese Modernisierungslinien markieren. Getragen wurden diese Modernisierungslinien von starken Visionen, die eine Professionalisierung und eine sozialpolitische Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe erreichen wollten - weg von der Fürsorge, hin zur Dienstleistung, weg vom Problemansatz, hin zum Ressourcenansatz, weg vom Verwaltungsvollzug, hin zur offenen Partizipation. Eine der stärksten und nachhaltigsten Visionen, die insbesondere im Arbeitsfeld der Erziehungshilfen ihre Wurzeln hat, war die Vision der Sozialraumorientierung aller erzieherischen Hilfen, die sowohl die ambulanten Hilfen - Erziehungsbeistandschaften, die Sozialpädagogische Familienhilfe, die Soziale Gruppenarbeit - als auch die stationäre Unterbringung umfasste. Sie war stark deswegen, weil sie neben einem Programm fundamental zu ändernder Arbeitsansätze ein Organisationsprogramm formuliert hat, das das gesamte Feld der Erziehungshilfen neu sortieren, neu ordnen und strukturieren sollte. Dr. Maria Kurz-Adam Jg. 1961; Diplompsychologin, Leiterin des Stadtjugendamtes München uj 11+12 (2008) 487 sozialraumorientierung Zwei Schlagworte haben die Sozialraumreformen begleitet: Als Arbeitsprogramm war dies insbesondere das Schlagwort „Vom Fall zum Feld“, das eine Abwendung von der einzelfallorientierten Arbeit zur raumorientierten, Ressourcen erschließenden Feldarbeit zum Ziel hatte. Unter dem Schlagwort „Umbau statt Ausbau“ wurde zugleich ein Organisationsprogramm insbesondere für die erzieherischen Hilfen auf den Weg gebracht, das zahlreiche Kommunen, insbesondere im großstädtischen Raum, aufgegriffen und umgesetzt haben. Kernelement dieses Organisationsprogrammes war die konsequente Dezentralisierung insbesondere der Leistungen der ambulanten Erziehungshilfen, eine enge Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und freiem Träger der Erziehungshilfen und eine klare Zuweisung von Verantwortung des Trägers für den sozialen Raum, in dem er seine Leistungen erbringt. Neue - von der Einzelfalllogik abweichende - Finanzierungsformen waren notwendig, Pauschalierungen in Form von Sozialraumbudgets wurden für die zu erbringenden Leistungen verhandelt, Versorgungsaufträge für die Leistungserbringer im Sozialraum festgelegt. Wesentlich für die Attraktivität, die dieses Organisationsprogramm für die Kommunen hatte, war die Transparenz der Verbindung von Fachlichkeit und Ökonomie, die gerade in den Erziehungshilfen angesichts einer seit Inkrafttreten des SGB VIII zu verzeichnenden enormen Fall- und Kostensteigerung dringend notwendig war. Neben einer fachlichen Qualitätsdebatte über die Wirkungen erzieherischer Hilfen waren für die Sozialraumorientierung auch unleugbar ökonomische Impulse handlungsleitend, die insbesondere auf eine Überschaubarkeit und bessere Steuerbarkeit der finanziellen Transferleistungen in den Erziehungshilfen abzielten. Unter dem Konsolidierungsdruck, dem die Kommunen gerade in den Erziehungshilfen regelmäßig auch heute unverändert unterliegen, waren gute Handlungsformen notwendig, die fachliche Antworten mit organisatorischen und ökonomischen Antworten verbunden haben, um die Chancen von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien auf Erziehungshilfeleistungen langfristig zu sichern und die niedrigschwelligen Zugänge in die Hilfen ohne dramatische Rationierungen weiterhin in den Kommunen zu ermöglichen. Als wesentliches Zugangselement für solche sozialräumlichen Hilfechancen wurde die präventive niedrigschwellige familienergänzende Hilfe vor Ort identifiziert, auf die sich das Programm aller ambulanten Hilfeformen von der Erziehungsbeistandschaft bis hin zur intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung oder der Sozialen Gruppenarbeit ausrichten sollte. Unter dem Dach der Sozialraumorientierung wurde daher der Grundsatz „ambulant vor stationär“ in der Organisation der Erziehungshilfen konsequent aufgegriffen. Stärkung und Ausbau der ambulanten Hilfen vor Ort sollten ressourcenorientierte Hilfen im Sozialraum ermöglichen, damit unnötig gewordene stationäre Hilfen sollten vermieden werden. Der Ausbau der ambulanten Hilfen und die Neuorganisation von Verantwortung des öffentlichen Trägers und der freien Träger für eine Sozialregion mit verbindlichen Handlungs- und Controllingstrukturen waren die wesentlichen Schritte der Sozialraumreformen. Sie sollten die Visionen in reales organisatorisches Handeln vor Ort übersetzen und das Arbeitsprogramm einer ressourcenorientierten Felderschließung nicht nur strukturell ermöglichen, sondern auch verwirklichen. 488 uj 11+12 (2008) sozialraumorientierung Die Vision hat der Wirklichkeitssicht Platz gemacht Der Weg von der Vision zur Wirklichkeit der Sozialraumreformen war ein langer Weg, den sich die Jugendhilfeplanung durch den fachlichen, den sozialpolitischen, den rechtlichen und schließlich durch den ökonomischen Alltag der Erziehungshilfen bahnen musste. Fachlich wurde dem Programm „Vom Fall zum Feld“ vor allem die Kritik an einer unreflektierten Euphorie der Ambulantisierung und Entpädagogisierung der Hilfen entgegengehalten, die den Bedarf an kontinuierlichen - eben auch stationären - Hilfen und den Bedarf einer fallorientierten Pädagogik verkennen würde. Zunächst sozialpolitisch und dann auch rechtlich wurden insbesondere Fragen des Verhältnisses von öffentlichem Träger zu den freien Trägern problematisiert. Die Frage nach dem Gleichgewicht und der Stellung von öffentlichem Träger und den freien Trägern der Jugendhilfe trat bald scharf als eine Schlüsselstelle der Kritik an den Reformprozessen hervor. Das Prinzip der Partnerschaftlichkeit wurde und wird als bedroht angesehen. Gerade unter Bedingungen eines für alle Träger zugänglichen Wettbewerbs, aber auch mit Blick auf den gesetzlichen Grundsatz des Wunsch- und Wahlrechts für die in Anspruch Nehmenden sind die Sozialraumreformen bald „auf den Prüfstand“ der Frage ihrer Rechtskonformität geraten. Deutlich wurde in dieser Debatte, dass die subjektiven Rechtsansprüche von Personensorgeberechtigten und deren Kindern auch in den Sozialraumreformen, zu deren wesentlichen Kennzeichen die Versorgungsaufträge und Sozialraumbudgets gehören, weiterhin Vorrang haben müssen. Im weiten Feld des Umsetzungsalltags wurden Fragen von „Risiken und Nebenwirkungen“ der Sozialraumreformen aufgeworfen, die sich mit den Tücken der Details vorgefundener Strukturen vor Ort beschäftigen mussten - etwa dem Aufbau, dem Qualifizierungsgrad und den Konkurrenzen in den Stadtteilteams oder regionalen Fachteams, dem Aufbau und dem Differenzierungsgrad von bedarfsgerechten Budgetformen, dem Aufbau und der Umsetzung eines Fach- und Finanzcontrollings bis hin zu Zuständigkeitsklärungen in der Praxis von Fallzuweisung und Fallübernahme. Die Wirklichkeit der Sozialraumreformen war - mit Blick auf die zahlreichen Veröffentlichungen und Tagungen zu diesem Thema - eine Wirklichkeit, die sich vor allem mit der Umsetzung der Reformen vor Ort befasst hat. Dies ist zunächst nicht verwunderlich: Die VordenkerInnen der Reformen haben zu Beginn eine Landschaft in den Erziehungshilfen vorgefunden, die sich zuweilen regelrecht hinter den Mauern ihrer institutionellen Versäulung befunden hat. Fragen von Wirkungen, Fragen der Bedarfsgerechtigkeit und der Chancengleichheit für all diejenigen, die Anspruch auf Hilfe haben, aber diese mangels offener und flexibler Angebote nicht oder bruchstückartig bekommen haben, wurden vor die Mauern verbannt. Als besonderer Mangel wurde die hohe Spezialisierung innerhalb der ambulanten Hilfen ebenso identifiziert wie die Getrenntheit der Welten zwischen ambulanten und stationären Hilfen, zwischen und in denen keine durchlässigen und bedarfsgerechten Hilfesettings möglich waren. Eine professionelle Auseinandersetzung mit Systemkritik schien vielfach nicht möglich, die Ängste vor Kürzungen, vor Konkurrenzen und Nachteilen waren zu Beginn des Reformprozesses vielfach zu groß. In den mühsamen und aufwendigen Prozessen der Umsetzung, wie sie bundesweit berichtet wurden, hat sich dieses Arbeitsfeld der Erziehungshilfen beeindruckend gewandelt. uj 11+12 (2008) 489 sozialraumorientierung Wohl kaum ein Feld in der Kinder- und Jugendhilfe hat sich so intensiv mit seiner Organisation, seinen Fehlern, aber auch seinen Möglichkeiten, seinen Wirkungen und seinen Effekten befasst, und wohl kaum ein Feld hat sich so intensiv einem - durchaus schmerzhaften - Selbstreflexionsprozess unterzogen, den dieser Umsetzungsprozess der Sozialraumreformen bis hin in die Details von Leistungsabrechnungen von der Steuerung des öffentlichen Trägers, aber gerade von den freien Trägern abverlangt hat. So sehr die Wirklichkeit der Reform von diesen Fragen der Umsetzung innerhalb der Organisationen und Institutionen geprägt war, so sehr blieb und bleibt im Blick etwa auf die einschlägigen Publikationen und Tagungsbände jedoch häufig offen, welche Erfolge und welche Wirkungen diese Reformen für die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien selbst erzielt haben. Es scheint so, als wäre - um es kritisch zu formulieren - die Wirklichkeit der Reformen eher eine Wirklichkeit der Organisationsveränderung und ihrer Darstellung und der Vermessung anhand von Kennzahlen zu Fallzahlentwicklungen und Kostensteuerung gewesen, hinter die die fachlichen Fragen der nützlichen Leistungserbringung vor Ort oftmals zurückgetreten sind. Das Wissen über die Erfolge von flexiblen Hilfen im Einzelfall findet sich zumeist in Einzelbeispielen in Lehrbüchern oder auf Fachvorträgen; hingegen ist wenig systematisches Wissen vorhanden über die systematischen Erfolge eines ressourcenorientierten Handelns im sozialen Raum, das Hilfekarrieren wirkungsvoll und kostenrelevant vermeiden hilft. Die aktuellen Zahlen der Bundesstatistik vermelden bundesweit im Fünfjahreszeitraum 2000 - 2005 einen nur geringfügigen Rückgang stationärer Hilfen trotz eines massiven Ausbaus ambulanter Hilfen und eines hohen Fallzahlanstiegs in diesen Hilfen im gleichen Zeitraum. Auch wenn angesichts sozialdemografischer Entwicklungen zur Belastung von Familien dieser Anstieg in den Bedarfssituationen sehr gut erklärbar ist, so ist mit Blick auf die Versprechen der Reformen zu fragen, inwieweit die Organisationsreformen die versprochenen präventiven Wirkungen erzielt haben. Dies ist nur auf lokaler Ebene, von Kommune zu Kommune unterschiedlich beantwortet worden und ist wenig - gerade mit Blick auf die Bundeszahlen - für das Gesamtsystem der Erziehungshilfen systematisiert. Regionale Kontingenzen prägen weiterhin die Kinder- und Jugendhilfe und erschweren den Blick auf Erfolge, aber auch Misserfolge sozialer Reformen in diesem Feld. Im Umsetzungsprozess der Sozialraumreformen ist daher nun vielfach eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Diese lässt die kritischen Stimmen lauter werden: Ist der Sozialraum angesichts der Zunahme virtueller Lebenswelten wirklich noch die richtige Bezugsgröße für soziales Handeln mit Kindern und Jugendlichen? Sind mit einer veränderten Bildungslandschaft - dem Ausbau der Ganztagsschulen, dem Ausbau der Kindertagesbetreuung - nicht ganz neue Fragen an die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe und hier insbesondere das Feld der Erziehungshilfen zu stellen? Ist nicht auch der Blick auf den Mangel in der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen, der für dieses Feld der Erziehungshilfen konstitutiv ist, wieder zu schärfen? In dieser Ernüchterung selbst wird auch deutlich, dass die Sozialraumreformen den „grauen Alltag“ des Handelns mit den Problemen von Familien in Armut, mit Kindern, die Vernachlässigung und Gewalt erleiden müssen, mit Jugendlichen, die perspektivlos am Rande der Delinquenz leben, nicht bunt schreiben und noch weniger bunt organisieren können. Die Vision hat der Wirklichkeitssicht Platz gemacht. Und so muss sich auch 490 uj 11+12 (2008) sozialraumorientierung die Wirklichkeit der Sozialraumreform nun denselben nüchternen Fragen stellen, die sie einst vor die Mauern der Versäulung der Erziehungshilfen getragen hat. Sozialraumreformen und ihre Wirkungen Die Wirkungsfrage in den Sozialraumreformen ist heute unterschiedlich zu stellen - sie ist fachlich zu stellen, sie ist ökonomisch zu stellen und sie ist sozialpolitisch zu stellen. Unbestritten ist, dass die Sozialraumreformen in ihrem Organisationsprogramm die Kinder- und Jugendhilfe und hier vor allem die Erziehungshilfelandschaft als modern auszugestaltendes Versorgungssystem neu und effektiv geordnet haben. Die Erziehungshilfen sind im Kontext der Sozialraumreformen mehr als nur isoliert zu bearbeitende Einzelfallhilfen. Sie sind eine systematische Versorgungsleistung sozialer Daseinsfürsorge in den Kommunen, und als diese Versorgungsleistung bedürfen sie der systematischen Steuerung und Beobachtung. Die Leistungen der Sozialraumreformen sind hier nicht hoch genug einzuschätzen. Der systematische Blick auf den zu versorgenden Raum, auf die damit verbundenen Qualitätsparameter, auf sozialregionale Kennzahlen und auf Finanzsysteme ist ungeachtet der rechtlich nach wie vor offenen Fragen allein Verdienst der Reformen. Wenn es also heute um eine Bilanz der Sozialraumreformen geht, ist Folgendes festzustellen: Mit dem Ausbau sozialräumlicher ambulanter Hilfen, die für ihre jeweilige Region einen Versorgungsauftrag haben, haben viele Kinder, Jugendliche und ihre Familien Zugänge in die erzieherischen Hilfen gefunden, die ihnen vor den Reformen vielfach aus Mangel an Angeboten und aufgrund von starren Hilfegrenzen verwehrt waren. Die Sozialraumreformen haben die Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche, Hilfe und Unterstützung zu bekommen, hochgradig erhöht. In ihrem sozialpolitischen Ansatz haben sie die freien Träger stark in die Verantwortung vor Ort einbezogen und haben so konsequent den subsidiären Auftrag ihrer Leistungen im Stadtteil oder der Region auch ökonomisch ausbuchstabiert, der - vom Einzelfall aus gesehen - zuvor eher auf dem Papier als in der Handlungspflicht im Alltag aufgeschienen ist. Die Grenzen von Zuständigkeiten und Leistungen wurden neu definiert und in einem umfassenden Reflexionsprozess fachlicher Methoden neu gesteckt. Die Steuerbarkeit der Erziehungshilfen wurde für viele Kommunen durch die Sozialraumreformen, auch wenn sie selbst diese nicht umgesetzt haben, zu einer Frage, die sie ernsthaft auch organisatorisch beantworten mussten; geeignete Finanzierungsinstrumente und Controllingsysteme mussten überall entwickelt werden. Die Transparenz im Geschehen der Erziehungshilfen wurde für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufseiten der Leistungsgewährer ebenso wie aufseiten der Leistungserbringer und schließlich auch für die Politik hochgradig erhöht, dezentrale Handlungsstrukturen wie etwa die Stadtteilteams oder etwa in München die Regionalen Fachteams in den Sozialbürgerhäusern wurden etabliert und gestärkt. Als fachpolitische Qualitätsdebatte und als neue Organisation eines Versorgungssystems sind die Sozialraumreformen ein höchst erfolgreiches Projekt. Offen geblieben sind jedoch Fragen nach der Leistungsfähigkeit der sozialräumlichen Hilfen vor Ort im Gefüge der Schweregrade der Problemlagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Hier wurden neue Linien eingezogen, die zugleich die Grenzen des Sozialraumkonuj 11+12 (2008) 491 sozialraumorientierung zepts im gesamten Jugendhilfespektrum markieren. Der Verdacht, dass etwa die stationären Hilfen zunehmend aus dem Sozialraum ausgegrenzt werden und zur Letzthilfe für Kinder und Jugendliche mit schwersten Problemlagen werden - ein Status, den die stationären Hilfen seit Inkrafttreten des SGB VIII zu verlassen suchen -, liegt nahe und scheint sich leider noch vielfach zu bestätigen. Im Umsetzungsprozess der Reformen berichten Kommunen davon, mittlerweile Fallgruppensysteme bis hin zu Stufenbudgets ausschließlich nach Schweregraden gebildet zu haben, um die Hilfezuweisungen nach niedrigschwelligen Beratungen, ambulanten oder stationären Hilfen zu systematisieren. Es scheint, als habe sich entlang der Schweregrade eine neue Grenze zwischen ambulanten und stationären Hilfen im Sozialraum etabliert, die den Hilfeprozess vieler Kinder und Jugendlicher zusätzlich belastet, statt diesen zu entlasten. Dies betrifft insbesondere die Gruppe der psychisch extrem belasteten oder von seelischer Behinderung bedrohten Kinder: Der Sozialraum scheint hier eher prekärer Übergangsraum in aufwendige stationäre Spezialhilfen als ressourcenstarker Unterstützungsort. Offen geblieben ist auch die Frage der Kosteneffektivität der Sozialraumreformen. Dies ist ein kritisches Feld, das derzeit nur vorsichtig vermessen werden kann. Die Frage, inwieweit sich der Aufwand des Umbaus der Erziehungshilfen sowohl fachlich als auch ökonomisch im Sinne des richtigen Ressourcenaufwandes gelohnt hat, ist nicht immer eindeutig zu beantworten; ebenso offen geblieben ist vielfach die Antwort auf die Frage, ob mit dem Mehr an Organisation auch die Qualität der Hilfen in der Praxis erhöht wurde. Und schließlich unterliegen vielerorts die Sozialraumreformen dem zunehmend scharf vorgetragenen Verdacht, eher Sparprogramme zu sein als fachlich und organisatorisch erfolgreiche Lösungen, um den Anspruch guter Erziehungshilfen vor Ort auch bei begrenzten Ressourcen umzusetzen. Datengestützte Forschung über Wirkungen ist daher notwendig und unerlässlich, um auch bundesweit eine fundierte Diskussion über Ergebnisse und Perspektiven zur Umgestaltung einer wichtigen Versorgungsleistung sozialer Daseinsfürsorge zu ermöglichen. Die Landeshauptstadt München hat aus diesem Grund zusammen mit der Katholischen Jugendfürsorge München Freising e.V. und der Katholischen Stiftungsfachhochschule Benediktbeuern im Rahmen eines von der Stiftung Jugendmarke geförderten Projektes diese Wirkungsfrage an die sozialräumliche Reform der Erziehungshilfen in München gestellt; dies aus verschiedenen Perspektiven der öffentlichen und der freien Träger, in Bezug auf die Hilfequalität im Einzelfall vor und nach der Reform. Es konnten so wesentliche Wirkungsfragen beantwortet und sowohl intern als auch im bundesweiten Bezug zur Diskussion gestellt werden. Deutlich wird als eines der wesentlichen Ergebnisse des Projektes, dass die sozialräumliche Organisation der Erziehungshilfen in ihrer Organisationsumsetzung hoch erfolgreich war: Mit einer tief greifenden Umstrukturierung des öffentlichen Trägers und der freien Träger wurde ein flächendeckendes Hilfesystem ambulanter, teilstationärer und mittlerweile partiell auch stationärer Hilfen geschaffen, das trotz gleichzeitiger Konsolidierungsbedingungen zu erheblichen Fallzahlsteigerungen ohne weiteren Kostenanstieg im ambulanten Bereich geführt hat und die Chance auf stationäre Unterbringun- 492 uj 11+12 (2008) sozialraumorientierung gen und damit den subjektiven Rechtsanspruch auf Hilfe unverändert erhalten hat. Im Blick auf den Einzelfall und die Hilfebiografien der Kinder und Jugendlichen wird aber ebenso deutlich, dass wesentliche fachliche Fragen in den Erziehungshilfen der weiteren Bearbeitung bedürfen und durch die Organisationsreform allein noch nicht gelöst sind. So bestätigt sich auf der Basis von Aktenanalysen von 126 im Zufallsverfahren gezogenen Hilfeplanfällen vor und nach der sozialräumlichen Reform der erzieherischen Hilfen: • Trotz großer Flexibilisierung der ambulanten Hilfen besteht auch hier der Befund einer Differenzierung der Hilfen entlang der Schweregrade, in der die stationären Hilfen nach wie vor den Platz der hoch spezialisierten und damit versäult bleibenden Letzthilfen einnehmen und die ambulanten Hilfen vielfach den Charakter von Eingangshilfen haben. • Hilfekarrieren mit hoher Hilfeintensität und Hilfedichte gibt es auch nach dem Ausbau ambulanter Hilfen weiterhin. • Die Kooperationen im Einzelfall sind ungeachtet hoher Vernetzungsaktivitäten der Träger der Erziehungshilfen weiterhin stark institutionell geprägt - eine gut dokumentierte Stärkung sozialräumlicher und eher hilfe-unspezifischer Kooperationsbezüge im Einzelfall ist noch nicht überall erreicht. • Als „reformresistent“ hat sich die Zahl der Gefährdungsfälle in den erzieherischen Hilfen erwiesen, die etwa ein Viertel aller im Projekt ausgewerteten Fälle ausmachen. Gefährdungsfälle unterliegen, so zeigen es die Befunde, nicht den bloßen subjektiven Deutungsmustern der Fachkräfte, sondern sie sind vielmehr fester und objektivierbarer Bestandteil der Indikation zu den Erziehungshilfen. Besonders angesichts von schweren und belastenden Problemlagen verliert das Programm „Vom Fall zum Feld“ an Überzeugungskraft in der Praxis; für die Fachkräfte bleibt angesichts des Risikos sozialpädagogischen Handelns gerade in Gefährdungsfällen dieses Programm eher Theorie als hilfreiche Praxis. Flexible ambulante und sozialräumliche Hilfen können nicht alle Fälle wirkungsvoll erreichen, und sie sind als Eingangshilfe nicht immer die richtige Hilfe. Die Realität von Not und Leid der Kinder und Jugendlichen existiert auch im Sozialraum weiter, und sie bedarf nach wie vor einer Form von Hilfe, die die Risiken für die Kinder minimiert und einen sicheren Ort für diese herstellen kann. Die fachlichen Hoffnungen, die in ein ressourcenorientiertes sozialräumliches Handeln gesetzt wurden, erfüllen sich in vielen Fällen und schaffen Zugänge in flexible Hilfen vor Ort. Angesichts des Handlungsdrucks der Fachkräfte gerade bei schweren Problemlagen verlieren sie im Alltag doch deutlich an Kraft. Hier gilt es, vor überzogenen Erwartungen an das Sozialraumkonzept zu warnen und die Sozialraumorientierung für den Schweregrad des Einzelfalls und dessen Folgen für den Handlungsdruck der Fachkräfte konzeptionell sensibel zu machen. Sozialraumreformen und ihre Zukunft Ein wohl beispielloses mediales Ereignis in der jüngsten Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe hat diese fachliche Frage der wahrgenommenen Schweregrade und damit auch die Frage der Perspektiven der Sozialraumreformen massiv verschärft. Mit dem Fall „Kevin“ in Bremen hat sich unvermutet ein großer Schatten auch über die Reformen gelegt. Es scheint so, als sei Kinderschutz nicht wesentlicher Teil der Sozialraumreformen. In einer ausgesprochen detailliert vorgetragenen Presseberichterstattung wurde nicht allein der praktizierte Vorrang ambulanter und ressourcenorientierter scheinbarer Alltagshilfen massiv kritisiert; mehr noch wurde das uj 11+12 (2008) 493 sozialraumorientierung Verständnis einer Kinder- und Jugendhilfe an den Pranger gestellt, die ihre Legitimation eher aus Theorien, diskursiven Konzepten und Organisationsfragen speise als aus ihrer ureigensten Aufgabe, das Wohl der Kinder wirksam zu schützen und ihnen Entwicklungsperspektiven zu sichern. Die Sozialraumorientierung und ihre Organisation erscheint in dieser Kritik als ein Konzept, das durch die Akzentuierung der feldbezogenen Ressourcenorientierung in die Gefahr gerät, eher der Verharmlosung sozialer Problemlagen zu dienen als der Hilfe bei Problemen von Kindern und Jugendlichen selbst. Der Schatten dieser Kritik schiebt eine ungemein substanzielle Frage in die gegenwärtige Praxis der Sozialraumreformen und des Sozialraumorientierungskonzeptes hinein, die zugleich als Frage an das Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe zu gelten hat: die Frage nämlich, inwieweit Not und Leid der Kinder und Jugendlichen im Paradigma der Dienstleistungsorientierung, dem auch die Sozialraumreformen folgen, immer Gehör finden. So sehr eine Generalkritik an der Kinder- und Jugendhilfe und ihrer Dienstleistungsorientierung falsch ist, weil sie das breite, fachlich hoch qualifizierte und hoch erfolgreiche Leistungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe einem unzulässigen Generalverdacht unterzieht, so sehr muss doch dieser Stimme von Not und Leid der Kinder und Jugendlichen in ihrer Lebenswelt Gehör verschafft werden. Hier gilt es für die Kinder- und Jugendhilfe, Lernfähigkeit zu zeigen und Fehlerfreundlichkeit zu kultivieren. Denn alle Reformen unterliegen auch der Veränderung; sie handeln nie ganz im gesicherten Raum einer klar prognostizierbaren Zukunft, und sie müssen sich zwangsläufig auch mit ihren unbeabsichtigten Folgen auseinandersetzen. Ohne Metaanalysen verharren Reformen im Stillstand. Ein Paradigmenwechsel kündigt sich auch in den Sozialraumreformen und damit in allen sozialraumorientierten Konzepten der Kinder- und Jugendhilfe an. So sehr das Konzept einer lebensweltlichen Organisationsstruktur und regionalen Versorgung feldbezogen richtig ist, weil es an den Lebenslagen und Bedürfnissen der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien ansetzt, so sehr ist doch heute auch zu fragen, inwieweit eine netzwerk- und raumorientierte Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe systematische Handlungslücken aufweist, deren Auffüllen an andere Systeme sozialer Hilfe und Kontrolle delegiert wird. Die unliebsamen eingriffsorientierten Handlungsmuster werden - so die Gefahr - zunehmend anderen Organisationen und Institutionen wie Polizei, Justiz, Psychiatrie und Gesundheitshilfe überlassen. Der Diskurs über den Fall „Kevin“ und all die jüngsten medial veröffentlichten Fälle von Verhungern, schwerer Vernachlässigung bis hin zum bewussten Mord an Kindern haben jedoch gezeigt, dass Gefährdungen von Kindern Alltag in eben jenem Sozialraum sind, für den die Kinder- und Jugendhilfe sich mit ihren raumorientierten Konzepten zuständig erklärt hat. Der Sozialraum ist aber nicht nur Ressource, sondern auch Gefahr; und dies sowohl in Gestalt von Verdichtung von Problemlagen, von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als auch von Gleichgültigkeit der Erwachsenen. W ie sieht die Zukunft der Reformen aus? Das Organisationsprogramm der Reformen ist unbestritten erfolgreich und hat zu einer verbindlich ausgestalteten Versorgungslandschaft in den umsetzenden Kommunen geführt. Im Arbeitsprogramm jedoch sind wesentliche fachliche Fragen noch einmal neu zu stellen. Insbesondere ist die Frage zu stellen, ob in diesem sozialen 494 uj 11+12 (2008) sozialraumorientierung Raum und dessen ressourcenstärkender Kraft der Subjektperspektive des Kindes oder des Jugendlichen selbst wieder mehr Gewicht verliehen werden muss - angesichts von steigender Kinderarmut, einer auch räumlichen Festschreibung von Bildungsarmut, der zuweilen erschreckenden Gleichgültigkeit der Erwachsenen und unmittelbarer körperlicher und seelischer Not von Kindern und Jugendlichen. Die jüngste Diskussion über die Stärkung und über die rechtliche Verankerung der Kinderrechte ist auch eine Diskussion, mit der sich die sozialräumlich organisierten Kommunen konzeptionell befassen müssen. Sie stellt die Frage danach, ob die Stimme der Kinder und Jugendlichen in Zukunft genug Gehör finden wird. Dies ist eine substanzielle Frage, die nicht mit dem Verweis auf den „tragischen Einzelfall“ zu lösen ist. „Vom Kind aus zu denken“ ist auch in den Sozialraumreformen unerlässliches Programm der Kinder- und Jugendhilfe. Hier neue und frühe Unterstützungsformen für Kinder, Jugendliche und Familien zu entwickeln, die die Chancengerechtigkeit auf Hilfe im Einzelfall erhöhen und in schweren Problemlagen tragfähig helfen, hier konsequent Sorge zu tragen für die Kinder und Jugendlichen, ist Zukunftsprogramm der Sozialraumreformen in der Kinder- und Jugendhilfe. Literatur Fendrich, S./ Pothmann, J., 2005: Hilfen zur Erziehung - über quantitative Ausweitungen und qualitative Strukturveränderungen. In: Rauschenbach, T./ Schilling, M.(Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport 2. Analysen, Befunde und Perspektiven. Weinheim/ München, S. 85 - 107 Früchtel, F., 2001: Umbau der Erziehungshilfen. Von den Anstrengungen, den Erfolgen und den Schwierigkeiten bei der Umsetzung fachlicher Ziele in Stuttgart. Weinheim/ München Hinte, W./ Litges, G./ Springer, W., 1999: Soziale Dienste: Vom Fall zum Feld. Soziale Räume statt Verwaltungsbezirke. Berlin Hinte, W., 2005: Sozialraumorientierung: Bemerkungen zu einer missglückten Rezeption. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 85. Jg., H. 10, S. 359 - 362 Kurz-Adam, M./ Frick, U./ Sumser, M., 2006: Ökonomie und Bedarfsfeststellung in den Erziehungshilfen. Anmerkungen und empirische Befunde zur Indikationsfrage in den sozialräumlich organisierten Erziehungshilfen. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, 1. Jg., H. 4, S. 171 - 180 Kurz-Adam, M./ Frick, U./ Sumser, M.: Forschungsprojekt „S(ozialräumliche)E(rziehungs)-H(ilfen) - Qualitätsentwicklung und Effektivität der Erziehungshilfen in einer sozialräumlich organisierten Kommune - Evaluation der sozialräumlichen Reform der Erziehungshilfen in München“. Endbericht. Unveröffentlichtes Manuskript Merchel, J., 2008: Sozialraumorientierung: Perspektiven, Unklarheiten und Widersprüche einer Konzeptformel in der Jugendhilfe. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 56. Jg., H. 1, S. 33 - 51 Verein für Kommunalwissenschaften e.V., 2007: Sozialraumorientierter Umbau der Hilfen zur Erziehung: Positive Effekte, Risiken und Nebenwirkungen. Band 1 und 2. Berlin Die Autorin Dr. Maria Kurz-Adam Leitung Stadtjugendamt München Prielmayerstraße 1 80335 München
