eJournals unsere jugend 60/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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UNSERE JUGEND wurde 60 Jahre alt

11
2008
C. Wolfgang Müller
Wer in diesem Jahr in Europa herumgekommen ist und dabei einen Blick auf die Entwicklung der Sozialen Arbeit werfen konnte - auch in jenen zentraleuropäi-schen Ländern, die einen engen Kontakt zu Osteuropa suchten -, der wird festgestellt haben, dass unser Land zumindest im Hinblick auf das, was wir über Analysen, Entwicklungen und Perspektiven der Sozialen Arbeit schreiben, drucken und mailen, im Deutsch verstehenden Ausland einen bemerkenswerten, guten Ruf hat. Ich sehe unsere fachspezifischen Handbücher und Wörterbücher in den Regalen stehen, ich sehe einige unserer zahlreichen und reichhaltigen Fachzeitschriften in den Lesesälen liegen. Ich höre immer wieder von KollegInnen, die zu internationalen Konferenzen und nationalen Workshops, Colloquien und Gastvorträgen eingeladen werden.
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uj 1 (2008) C. Wolfgang Müller Jg. 1928; emeritierter Prof. Dr. phil. für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin Wer in diesem Jahr in Europa herumgekommen ist und dabei einen Blick auf die Entwicklung der Sozialen Arbeit werfen konnte - auch in jenen zentraleuropäischen Ländern, die einen engen Kontakt zu Osteuropa suchten -, der wird festgestellt haben, dass unser Land zumindest im Hinblick auf das, was wir über Analysen, Entwicklungen und Perspektiven der Sozialen Arbeit schreiben, drucken und mailen, im Deutsch verstehenden Ausland einen bemerkenswerten, guten Ruf hat. Ich sehe unsere fachspezifischen Handbücher und Wörterbücher in den Regalen stehen, ich sehe einige unserer zahlreichen und reichhaltigen Fachzeitschriften in den Lesesälen liegen. Ich höre immer wieder von KollegInnen, die zu internationalen Konferenzen und nationalen Workshops, Colloquien und Gastvorträgen eingeladen werden. Wir haben in der Tat seit Jahrzehnten eine fachwissenschaftliche und fachpraktische Infrastruktur entwickelt, die sich sehen und lesen (und hören) lassen kann. Das mag damit zusammenhängen, dass wir in Deutschland zusammen mit den skandinavischen Ländern mit einem gewissen Beharrungsvermögen an Grundlagen unseres mehr als einhundertundfünfzigjährigen Sozialstaates (den einige „Rheinischen Kapitalismus“ nennen) festhalten, der in einigen europäischen Ländern als „altmodisch“, in anderen hingegen als „zukunftsweisend“ verstanden wird. Zu den unverzichtbaren Medien einer lebendigen Auseinandersetzung über Ziele, Formen und Bewertungskriterien für UNSERE JUGEND wurde 60 Jahre alt Das ist mein Geburtstagsglückwunsch C. Wolfgang Müller 60 jahre unsere jugend eine humane Gesellschaft (die ich nicht anders als eine „soziale Gesellschaft“ denken kann) zähle ich die reiche Subkultur von Handbüchern, Zeitschriften und Institutionen der Sozialen Arbeit, die immer wieder von Neuem in einen gesellschaftlichen Diskurs über Geschichte, Ist-Zustand und Soll-Zustand von Einrichtungen, Maßnahmen und Gesetzlichkeiten Sozialer Arbeit eintreten, ihn fortführen und manchmal auch revidieren. Unsere Jugend, 60. Jg., S. 2 - 4 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel uj 1 (2008) Zu den erwähnenswerten Fachzeitschriften deutscher Sprache gehört die 1949 von Hermine Albers, Elisabeth Bamberger, Adolf Busemann und Ella Kay herausgegebene „Zeitschrift für Jugendhilfe in Wissenschaft und Praxis“ (später „in Praxis und Wissenschaft“) mit dem Haupttitel „Unsere Jugend“. Sie wurde von Anfang an von Andreas Mehringer redaktioniert und später bis zu seinem Tod (2004) als Mit-Herausgeber verantwortet. Sie hatte sich eine schwierige Aufgabe gestellt: Sie wollte und sollte zwei einander widerstrebende Segmente Sozialer Arbeit begleiten und, wenn es denn gut ginge, miteinander verbinden: • die Erziehungsarbeit in den alten „Waisenhäusern“, die aus christlicher Mildtätigkeit Kleinkinder aufnahmen, die ihren Familien verloren gegangen waren (oder deren Familien ihnen verloren gegangen waren) und • die Erziehungsarbeit in den Jahrhunderte später von Friedrich Fröbel und (mit anderem Klientel) von Johann Oberlin gegründeten „Kinderbewahranstalten“ und „Kindergärten“, welche die „Lebenstüchtigkeit“ der jungen Generation unterstützen sollten, weil sie im beengten Zirkel der Familienerziehung nicht leistbar wäre (Fröbel) oder weil berufstätige Arbeiterfrauen nicht die Zeit aufbringen konnten, sich um die Kinder zu kümmern (Oberlin). „Unsere Jugend“ sah sich also vor zwei Aufgaben gestellt: Sie wollte einerseits die traditionelle „Heimerziehung“ von dem Makel befreien, pure „Ersatzerziehung“ für verloren gegangene Familienerziehung zu sein und Kinder ruhig zu stellen, mit denen man eigentlich nichts zu tun haben wollte - und andererseits die vorhandene bürgerliche Familienerziehung weiterentwickeln und Mütter (später auch Väter) und Kinder Dinge lehren, die sie brauchen würden, um vollgültige, kreative und lebenszugewandte Erwachsene zu werden. Das war von Anfang an die große, aber auch widersprüchliche Hauptaufgabe der Sozialpädagogik zwischen Elternhaus und Schule, zwischen Individualisierung und Sozialisierung. „Unsere Jugend“ ist bei dieser schwierigen Aufgabe einen interessanten Mittelweg gegangen - ich könnte auch schreiben: sie ist auf ein Drahtseil gestiegen. Sie hat einerseits von der Sozialen Arbeit gefordert, sie müsse leisten, „was die Familie, auch die intakte und die scheinbar intakte Familie und die Schule den Kindern schuldig bleiben, was sie ihnen antun und was sie versäumen“ (Mehringer 1993). Sie hat andererseits Position gegen die „falsche intellektuelle Begabungsförderung für Kleinkinder“ bezogen, die auch in Bayern institutionelle Befürworter hatte (Zusammenfassung von Andreas Mehringer in „Unsere Jugend“, Heft 1/ 1993). Neue Redakteure als Pfadfinder in der unüberschaubar gewordenen Bildungslandschaft der Sozialen Arbeit haben neue Wege gewiesen. Da war Marika Meyer als Schriftleiterin (1987 bis 2000), da war Roland Merten, der die Zeitschrift 60 jahre unsere jugend uj 1 (2008) auf die neuen Themen und Probleme des 21. Jahrhunderts orientierte und dabei neuen, gesellschaftswissenschaftlichen Sachverstand einband, da sind heute Gabriele Bindel-Kögel und Sabine Behn, die funktionierende Kontakte zu einer neuen Praxis der Sozialen Arbeit in unterschiedlichen Bereichen dieses explodierenden Arbeitsfeldes einbringen. Es ist nicht einfacher geworden, das Versprechen, Theorie und Praxis in zwei unterschiedlichen Segmenten Sozialer Arbeit gleichgewichtig einzubringen, zu pflegen und zu kommunizieren. Es ist auch nicht leichter geworden, über Soziale Arbeit in den beiden Teilen Deutschlands zu sprechen und zu schreiben, die sich seit 1991 entschlossen haben, künftig miteinander zu reden, zu schreiben und zu arbeiten. Die DDR ist ja im Hinblick auf Vorschulerziehung, Schulpädagogik, Heimerziehung und Jugendhilfe zum Teil andere Wege gegangen als die (alte) Bundesrepublik Deutschland. Wir haben von allem Anfang an diese anderen Wege sehr kritisch beäugt. Wir befinden uns jetzt teilweise in der misslichen Lage, dass wir in den neuen Bundesländern Maßnahmen empfehlen, bei denen altgediente PädagogInnen dort müde lächeln: „Das hatten wir doch alles schon.“ Das gilt für den Bereich der Krippenerziehung, der Vorschulerziehung, der Schuleingangsstufe. Das gilt auch für Teile der Heimerziehung, wenn einige Hardliner unter uns nach den „Boot Camps“ schielen und einige KollegInnen aus den neuen Bundesländern an die verflossenen „Jugendwerkhöfe“ denken. Hier scheint mir eine wichtige Zukunftsaufgabe dieser Zeitschrift zu liegen, die sich vielversprechend, aber auch viel erwartend „Unsere Jugend“ nennt. Sie wird versuchen müssen, ohne ideologische Scheuklappen - also post-modern - ungelöste Probleme und uneingelöste Versprechungen der Sozialen Arbeit kritisch zu ventilieren, die wir bisher noch nicht Erfolg versprechend anpacken konnten. Das ist nicht eine Aufgabe von ideologischen Statements und Positionserklärungen, die aus einem überkommenen „Lagerdenken“ stammen. Auch in der praktizierten Pädagogik und in der sie begleitenden Erziehungswissenschaft gibt es so etwas wie ein „Lagerdenken“. Es hat uns bisher nicht weitergebracht, und es scheint uns auch nicht weiter zu bringen. Deshalb brauchen wir kommunikative Plattformen, die uns helfen, das Gelände jenseits des eigenen „Lagers“ zu ergründen, in das wir uns möglicherweise eingegraben haben. Die Zeitschrift „Unsere Jugend“ sollte uns dabei weiterhelfen. Das ist meine Hoffnung. Das ist mein Wunsch. Das ist meine Erwartung. Der Autor C. Wolfgang Müller, Prof. Dr. Dr. h. c. Bozener Str. 3 10825 Berlin 60 jahre unsere jugend