unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Zwischenruf: Mütterkriege
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C. Wolfgang Müller
Der Streit um die "richtige" Form der Betreuung und Erziehung von Kleinkindern ist alt. So weit wir zurückdenken können, waren es die leiblichen Mütter und ihre Familienverbände, die diese Aufgabe übernahmen. Konnte sich die Mutter auf Pflege und Erziehung konzentrieren, so konnte eine sehr dichte und intime Zweierbeziehung entstehen. Waren Großfamilie, Clan oder Stamm verantwortlich, so spielten wechselnde Betreuungspersonen und bald auch die gleichaltrigen Kinder eine bedeutsame Rolle.
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174 uj 4 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 174 - 176 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zwischenruf: Mütterkriege C. Wolfgang Müller zwischenruf Der Streit um die „richtige“ Form der Betreuung und Erziehung von Kleinkindern ist alt. So weit wir zurückdenken können, waren es die leiblichen Mütter und ihre Familienverbände, die diese Aufgabe übernahmen. Konnte sich die Mutter auf Pflege und Erziehung konzentrieren, so konnte eine sehr dichte und intime Zweierbeziehung entstehen. Waren Großfamilie, Clan oder Stamm verantwortlich, so spielten wechselnde Betreuungspersonen und bald auch die gleichaltrigen Kinder eine bedeutsame Rolle. Vor 150 Jahren erfand Friedrich Fröbel mit seinen „Spielgaben“ Ball, Kugel und Würfel den Kindergarten und leitete Mütter und andere Erziehungspersonen zur Inszenierung kindgemäßen Kinderspiels an, welches die schöpferischen Kräfte schon in frühem Alter wecken und üben sollte. Für Arbeitermütter, die mitverdienen mussten, um ihre Familie zu ernähren und zu kleiden, gründete Johann Friedrich Oberlin schon hundert Jahre vorher „Kleinkinderschulen“, in denen die Kleinen geparkt und zum disziplinierten Sprechen angehalten wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkten sich im gehobenen Bildungs- und Funktionsbürgertum die Vorstellungen, dass vor allem die leibliche Mutter bis zum Schuleintritt die wichtigste und beste Bezugsperson für ihre kleinen Kinder wäre und dass jeder Ersatz eben nur Ersatzfunktionen wahrnehmen und Ersatzerziehung leisten könne. Diese Bewertung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch psychoanalytische Entwicklungslehren von der Dominanz des Mutterbildes und durch empirische Untersuchungen über Entwicklungsrückstände bei Kleinkindern in Findel- und Waisenhäusern im Vergleich zur familialen Erziehung unterstützt. Es gab deshalb in konservativen Zirkeln und Parteien einen Aufschrei des Protestes, als 1974 die damalige SPD-FDP-Bundesregierung das Modellvorhaben „Tagesmütter“ anschob, um berufstätige Mütter von kleinen Kindern durch bezahlte erwachsene Frauen und Männer zu unterstützen, die tagsüber mehrere Kinder in ihre Obhut nahmen, verpflegten, versorgten und erzogen. Die gesamte CDU (wie heute noch die CSU) wollte das Geld für diesen Modellversuch - der inzwischen die Regel geworden ist - lieber als Erziehungsgeld an Mütter geben, die für eine bestimmte Zeit auf ihre Berufstätigkeit verzichten würden. Dabei berief man sich auf eben die empirischen Forschungsergebnisse von René Spitz aus den 30er und 40er Jahren, welche die qualitative Überlegenheit der Erziehung durch die leibliche Mutter in früher Kindheit zu beweisen schienen. Die Gutachterin der Bundesregierung, Professorin Dr. Ursula Lehr, machte allerdings darauf aufmerksam, dass Spitz bei der Interpretation seiner For- C. W. Müller Jg. 1928; emeritierter Prof. Dr. phil. für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin uj 4 (2008) 175 zwischenruf schungsergebnisse zwar die entscheidende Rolle der „Mutter“ für die Entwicklung des Kleinkindes in den ersten beiden Lebensjahren beschrieben hatte, dass er aber gleichzeitig präzisiert habe (Originalton Spitz): „Wenn ich der Kürze halber von ,der Mutter‘ sprechen werde, meine ich damit jenen Menschen, der beim Kinde Mutterstelle vertritt, sei das seine leibliche Mutter oder aber Ziehmutter oder am Ende der verwitwete Vater. Im ersten und oft auch im zweiten Lebensjahr kommt es in erster Linie darauf an, dass dem Kinde die Wärme, die Sicherheit, die Beständigkeit der mütterlichen Haltung geboten werden.“ Der nicht psychoanalytisch sondern historisch-materialistisch orientierte Sozialwissenschaftler Rüdiger Koch ging damals allerdings nicht mehr davon aus, das es die intensive Zweierbeziehung zwischen Säugling und Bezugsperson und die „affektive Zufuhr von seelischen Energien“ sei, welche Entwicklung stimuliert und Lernprozesse befördert, sondern dass es vielmehr die sensorische und soziale Versorgung mit Reizen wäre, die Entwicklungsprozesse in Gang setze. Nicht dass die Bezugsperson „lieb“ zum Säugling wäre, sei entscheidend, sondern dass sie/ er sich immer wieder mit dem Säugling beschäftige, mit ihm spreche, ihn hochnehme und ihm Dinge zeige, Geräusche und Töne erzeuge und einen (auch nicht-verbalen) Dialog anbahne … also nicht „Liebe“ spende, sondern Anregungen und - bis zu einem gewissen Grade - auch „Aufregungen“ für die Sinne des Kleinkindes vermittle. Die Stimulierung der Sinne durch sensorische Zufuhr - das waren die bildungspolitischen Schlussfolgerungen - finde selten in der Enge des familialen Kinderzimmers oder im Kinderwagen mit hochgeklappter Haube statt, sondern in der Krabbelstube, in der Kinderkrippe, im Umgang unter Gleichaltrigen, denen die traditionelle Entwicklungspsychologie bisher die Fähigkeit abgesprochen hatte, ein echtes und dauerhaftes Interesse an anderen Kleinkindern zu entwickeln und Ansätze von Spielhandlungen zu erproben. Es ist schon erstaunlich, dass wir im Jahre 2008 die alten Diskussionen und Kontroversen aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in einem historischen Rollenspiel mit viel Engagement und wenig Sachkenntnis wiederholen. Nun aber nicht mehr nur auf der Ebene der Partei- und BildungspolitikerInnen, sondern auch auf der Ebene der jeweils betroffenen Eltern, der Mütter, der Frauen. Christine Brinck hat den gegenwärtigen Streit zwischen „Nur-Müttern“ und „berufstätigen Müttern“ in einem neuen Buch mit dem Titel „Mütterkriege“ und der leider in die Irre führenden Frage im Untertitel „Werden unsere Kinder verstaatlicht? “ zusammengefasst. Brinck (2007, 29) erinnert noch einmal an die alten Vorurteile, die selten von Männern, aber meist von Frauen wiederbelebt werden: „Rabenmutter, das ist die Karrieresau, die ihr Kind vernachlässigt. Hausfrau, das ist das Heimchen, das in die KKK-Seligkeit zurückdriftet … Vorurteile schaffen sich die Fakten selber, die kaum jemand überprüft.“ Die Autorin bemüht sich, den ideologischen Druck aus dem Hochdruckkessel der veröffentlichten Meinungen entweichen zu lassen und die Probleme „sachlich“ zu erörtern - obwohl sie ein offensichtlich großes Vertrauen in die Erziehungskraft der Familie (und das heißt jeder Familie) hat und ein großes Vertrauen in die Kompetenzen von Müttern (und das heißt allen Müttern) besitzt, ihren Kindern dauerhaft und zuverlässig das zu geben, was sie brauchen, um sich zu trainieren, zu entwickeln und zu bilden. Denn die Fähigkeit zur Selbst-Erziehung und zur Selbst-Bildung ist immer noch, das wird häufig vergessen, die wichtigste 176 uj 4 (2008) zwischenruf Kompetenz, die wir Kindern mitgeben können. Und bei diesem Prozess sind Familien eine wichtige, eine treibende und vor allem eine für die ersten Lebensmonate des Babys entscheidende Kraft. Deshalb scheint für eine gelingende Krippenerziehung, die komplementär zur Familienerziehung wirkt, zu gelten: nicht zu früh und nicht zu lange in der Woche. Die qualitative Verbesserung der gegenwärtigen Rahmenbedingungen in den Krippen und Kindertagesstätten werden die wichtigsten Aufgaben der nächsten Jahre sein. Christine Brinck (2007, 90): „Kleine Gruppen, Kinder über 18 Monate und eine Verweildauer von nicht mehr als 20 bis 30 Stunden pro Woche - das ist kein lässlicher Luxus, sondern Voraussetzung für eine gute Krippe. Wenn Mütter/ Väter lieber bei ihren Kleinkindern bleiben, ist das nicht nur ihrer konservativen elterlichen Seele geschuldet, sondern häufig genug auch eine Antwort auf den nicht gerade Vertrauen erweckenden Personalschlüssel, den häufigen Personalwechsel und die mangelnde Intimität in vielen Stätten frühkindlicher Erziehung.“ Wenn Mütter/ Väter ihre Kleinkinder dennoch einer solchen Stätte anvertrauen - und dies oft mit ungutem Gefühl und mehr als 40 Stunden -, ist das oftmals der Notwendigkeit geschuldet, berufstätig zu sein, um die Familie zu ernähren. Das aber ist das eigentliche Dilemma von Eltern, die auf verantwortliche Weise ihre Kleinkinder erziehen: Dazu gehört viel Geduld und viel Zeit, die nicht durch mehr oder weniger anspruchsvolle Formen des Broterwerbs blockiert wird. Der Streit um das „Entweder (Krippe) - oder (Herd)“ ist altmodisch. Es geht um ein komplementäres „Sowohl-als-auch“. Und dazu brauchen wir eine neue, gesamtgesellschaftliche Verteilung von Lebenszeit auf Männer und Frauen. Bei niemandem allein darf der Schwarze Peter kleben bleiben, der in vielen Fällen mit dem Verzicht auf Berufsarbeit verbunden ist. Literatur Brinck, C., 2007: Mütterkriege. Werden unsere Kinder verstaatlicht? Freiburg Der Autor Prof. Dr. Dr. h. c. C. W. Müller Bozener Straße 3 10825 Berlin
