unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Hilfsbereitschaft statt Gewalt. Wirkungen von Positive Peer Culture (PPC) in der stationären Jugendhilfe
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2008
Christoph Steinebach
Ursula Steinebach
Für viele Jugendliche gilt die Heimunterbringung als letzte Chance. Häufig verbunden mit der Aufforderung: Lass dir dort helfen! PPC setzt dagegen: Nur wenn du den anderen hilfst, kommst du selbst weiter!
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312 uj 7+8 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 312 - 320 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Hilfsbereitschaft statt Gewalt. Wirkungen von Positive Peer Culture (PPC) in der stationären Jugendhilfe 1 Christoph Steinebach/ Ursula Steinebach Für viele Jugendliche gilt die Heimunterbringung als letzte Chance. Häufig verbunden mit der Aufforderung: Lass dir dort helfen! PPC setzt dagegen: Nur wenn du den anderen hilfst, kommst du selbst weiter! arbeit mit gruppen Können Jugendliche anderen Jugendlichen helfen? Dass Jugendliche anderen Jugendlichen helfen können, wird oft bezweifelt. Auch in der Forschung finden sich viele Hinweise, dass von Gleichaltrigen im Jugendalter Gefahren ausgehen (Dodge u. a. 2006). Die Rede ist von Cliquen und Banden, weniger vom Freundeskreis oder Netzwerk. Dabei fehlt es nicht an Hinweisen, warum, wo und wie sich Jugendliche gegenseitig unterstützen sollten (Brendtro u. a. 2007; Laireiter/ Lager 2006; Othold 2003; Szaday 2004; Weiss u. a. 2005). Positive Peer Culture ist ein Angebot, das in der Heimpädagogik entwickelt wurde und nun auch in außerschulischen (vgl. für den Heimbereich Steinebach/ Steinebach, in Druck) und schulischen Angeboten (Schmidt 2006; Teichmann 2006) umgesetzt wird. Dieser Ansatz, entwickelt in den 1960er Jahren von Harry H. Vorrath und Larry K. Bendtro (2007), nutzt die Kraft der Peergroup konstruktiv. Die Jugendlichen werden angeleitet und aufgefordert, sich innerhalb ihrer Gruppe gegenseitig zu helfen. Durch die Möglichkeit, anderen zu helfen, kann Wertschätzung erfahren und ein positives Selbstbild aufgebaut werden. Wenn ein Jugendlicher sein problematisches Verhalten einstellt und stattdessen anderen hilft, gewinnt er an positiver Bedeutung für die anderen. Indem sie von ihren Freunden positiv erlebt werden, gelangen die Jugendlichen so selbst zu einem positiven Selbstbild. Im Zentrum des Angebots stehen Gruppentreffen. Die Jugendlichen treffen sich regelmäßig mit erwachsenen ModeratorInnen in ihren PPC-Gruppen, um über jeweils ein Problem eines Gruppenmitglieds zu sprechen. Sie überlegen, welche Hilfen sie geben können. In den Gruppen hat keiner das Recht, eine Person zu ignorieren, die Hilfe braucht. Jeder Jugendliche ist für den anderen verantwortlich. In den Gruppen selbst werden nicht „Heiße-Stuhl“-Praktiken angewandt. Statt dass Kritik und Angst vorherrscht, wird ein „Stuhl der Hil- 1 Die vom Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung (IAF) der Katholischen Fachhochschule Freiburg i. Br. durchgeführte Untersuchung hat über den Zeitraum von 2003 bis 2006 die pädagogische Arbeit des St. Augustinusheims in Ettlingen begleitet und diesen Ansatz evaluiert. Wir danken Herrn Andreas Schrenk als Leiter der Einrichtung, den MitarbeiterInnen, den Jugendlichen und ihren Eltern für ihre Offenheit und die aktive Unterstützung der Evaluation. uj 7+8 (2008) 313 arbeit mit gruppen fe“ angeboten, bei dem Vertrauen und Offenheit wichtig sind. Probleme gelten als normal, und es ist richtig, sie zu zeigen. Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Verantwortung untereinander und soziale Kompetenz wachsen; Akzeptanz, Verstehen, Toleranz untereinander nehmen zu. In den Gruppen wächst das Gefühl von Zugehörigkeit. Die Jugendlichen sprechen über eigene Probleme, Schwächen und Stärken; Konflikte und Krisen werden thematisiert. Zuhören wird gelernt. Auch der positivere allgemeine Umgangston im Heim wird als Indiz für wichtige Veränderungen genannt (Steinebach/ Steinebach 2006 a, 2006 b, 2008 im Druck; Beiträge in Opp/ Unger 2006). Was ist PPC? Die Idee, den starken Einfluss der Peergroup zu nutzen, um eine positive unterstützende Kultur unter Jugendlichen zu schaffen, entstand in der Praxis mit schwierigen, verhaltensauffälligen oder delinquenten Jugendlichen. Der Ansatz geht davon aus, dass es einen stärkeren Eindruck hinterlässt, in einem aktiven Prozess zu geben als etwas zu erhalten. Einen Rat oder konkrete Unterstützung zu geben wirkt sich nachhaltig auf das Selbstwertgefühl, das Selbstkonzept und das Gefühl der eigenen Stärke aus. Von den Jugendlichen wird Größe verlangt und die Bereitschaft, ihr Bestes zu geben. Zentrales Anliegen des Ansatzes ist es, Werte zu vermitteln, nicht das blinde Befolgen von Regeln. Als höchster Wert gilt, anderen bei der Lösung ihrer Probleme und bei dem Streben nach ihren eigenen Zielen zu helfen. Vertrauen und Offenheit sind dabei wichtiger als Konfrontation und Bloßstellung. Es geht nicht darum, die Jugendlichen zu demütigen, indem versucht wird, sie zu „knacken“. Dem „Brechen der problematischen Persönlichkeit“ wird das Wachstum in der Forderung nach Größe entgegengesetzt. Der Einfluss der anderen Jugendlichen, besonders wenn sie schon selbst Probleme bewältigt haben, ist dabei wichtiger als der Einfluss der Erwachsenen. Die Fachkräfte im Heim haben in den Gruppensitzungen die Rolle von ModeratorInnen, nicht von BeraterInnen oder gar HelferInnen. Die Fachkräfte sollten den Jugendlichen vermitteln, dass wichtige Arbeit ansteht. Auf keinen Fall sollte die trügerische Sicherheit vermittelt werden, dass auch ohne Anstrengung, alleine durch die Hilfe der anderen, alles gut wird. So sollen die Jugendlichen lernen, Verantwortung für ihre eigenen Probleme zu übernehmen. Probleme zu haben soll keine Entschuldigung dafür sein, Probleme zu machen. Dabei wird erwartet, dass aktuelle und nicht weit zurückliegende Probleme auftauchen, wahrgenommen und benannt werden. Aktuelle Probleme bieten die Möglichkeit der unmittelbaren Unterstützung, Hilfe und Bewältigung. In diesem Sinne gelten die angesprochenen Probleme als gemeinsame Herausforderung, nicht als individuelle Krise. Christoph Steinebach Jg. 1959; Diplom-Psychologe, Prof. Dr. rer. soc.; Direktor des Departements für Angewandte Psychologie und des Instituts für Angewandte Psychologie der ZHAW Zürich Ursula Steinebach Jg. 1962; Diplom-Pädagogin, freie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung der KFH Freiburg 314 uj 7+8 (2008) arbeit mit gruppen Harry Vorrath entwickelte diesen Ansatz bereits in den sechziger Jahren. Sein Anliegen war, die positiven Einflussmöglichkeiten der Peergroups auf Jugendliche zu nutzen und so eine positive Peerkultur zu schaffen. Ein wichtiges Instrument dazu sind die Peergroup-Treffen. 1972 veröffentlichte Harry Vorrath zusammen mit Larry Brendtro das Buch „Positive Peer Culture“, das in seiner veränderten Neuauflage von 1985 bis heute als grundlegendes Werk gilt. Während in den USA große Einrichtungen nach diesem Ansatz arbeiten, allen voran Starr Commonwealth (Fennimore 1988), war er in Deutschland lange Zeit relativ unbekannt. Erst um die Jahrtausendwende begann ein reger Austausch mit Deutschland. So beschäftigt sich das St. Augustinusheim Ettlingen seit 2002 intensiv mit dem Ansatz, und inzwischen wird der PPC-Ansatz auch in anderen Praxisfeldern eingesetzt. Seit 2007 besteht ein informelles Netzwerk aus Praxis, Verbänden der Erziehungs- und Jugendhilfe und Hochschulen. Das Angebot in der Praxis Die pädagogische Grundhaltung des Augustinusheims in Ettlingen findet in dem Slogan „Klare Linie mit Herz“ ihren Ausdruck. Wohlwollen, Zugewandtheit und die Bereitschaft, die Jugendlichen anzunehmen und zu respektieren, wird mit einem eng strukturierten Tagesablauf, einem Stufenplan, bei dem die Jugendlichen durch ihr Verhalten in allen Lebensbereichen des Heims ihre Einstufung direkt beeinflussen können, und der konfrontativen Haltung der MitarbeiterInnen im Falle sozialinadäquaten Verhaltens verbunden. Wiederkehrende gemeinsame Handlungen im Alltag, wie Frühsport, Mahlzeiten, Freizeitprogramm und auch die Peergroup-Treffen, bieten in Alltags-, Lern- und Trainingssituationen Unterstützung (Schmidt 2006 b; St. Augustinusheim 2007). Die Peergroup-Treffen finden zweimal wöchentlich für alle Gruppen immer zur gleichen Zeit statt. Jeder der bis zu 90 Jugendlichen besucht in der Regel jede Woche ein Peergroup-Treffen in einer der acht Wohngruppen, der Tagesgruppe oder der Gruppe für betreutes Wohnen und zusätzlich ein Treffen in einer der drei Gruppen der heimeigenen Schule oder in einer der acht Gruppen in der heimeigenen Ausbildung. Bei den Treffen sitzen zwei Fachkräfte als ModeratorInnen an einem Tisch, die Jugendlichen im Kreis. Die Treffen sollen hauptsächlich der Problemlösung dienen. Um die Gruppen nicht zu überfordern, steht nicht die Psychodynamik Einzelner, sondern das soziodynamische Geschehen der Gruppe im Vordergrund. Die Zusammensetzung der Gruppen bleibt über lange Strecken gleich, jedoch kann es durch die Fluktuation im Heim immer wieder zu Wechseln in der Gruppenbesetzung kommen. Der Ablauf der Gruppentreffen gliedert sich in vier Phasen: 1. Problembenennung anhand konkreter Situationen. Jeder Jugendliche der Runde sollte ein Problem benennen, das prinzipiell lösbar ist. 2. Entscheidung, welcher Jugendliche mit seinem Problem das Treffen bekommt. Die Entscheidung, über welches Problem gesprochen werden soll, muss einstimmig erfolgen. Jeder Jugendliche soll sich dazu äußern. 3. Beratung und Problemlösung: Der Jugendliche, der mit seinem Problem ausgewählt wurde, stellt sachlich, umfassend und in zeitlicher Reihenfolge die mit seinem Problem verbundene Situation dar. Nachfragen aus der Gruppe sind möglich. Die Gruppe versucht, mit dem Jugendlichen zusammen zu erkennen, welche seiner Verhaltensweisen in dieser Situation schädlich oder verletuj 7+8 (2008) 315 arbeit mit gruppen Zusätzlich wurden zum sechsten Erhebungszeitpunkt 47 MitarbeiterInnen über Fragebogen befragt. Zum zweiten und zum fünften Erhebungszeitpunkt wurden Eltern und MitarbeiterInnen von Jugendämtern per Telefon befragt. Die Gruppen, in denen die Peergroup-Treffen stattfanden, waren zu den unterschiedlichen Zeitpunkten durchaus vergleichbar. Die Jugendlichen waren im Schnitt 16 Jahre alt und seit 18 Monaten im Heim. Die MitarbeiterInnen waren im Schnitt 42 Jahre alt. Die schriftlichen Befragungen bestanden jeweils aus unterschiedlichen inhaltlichen Abschnitten. Neben Angaben zur Person wurden in verschiedenen Teilfragebögen Wertungen zur Zufriedenheit mit den Gruppentreffen (allgemeine Bewertung), Wirkungen der Treffen, Bewertung des Heims, Heimklima, Änderungswünsche, eigene Stärken und Schwächen, die Stärken und Schwächen der anderen Jugendlichen bei den Treffen, mögliche und erfahrene Unterstützung erfragt. In den Interviews und Fragebögen kommen außerdem Verfahren zur Darstellung der Gruppenstrukturen aus Sicht der Jugendlichen und der MitarbeiterInnen zum Einsatz (GRUSA - Gruppenstrukturanalyse zur Erfassung von Kohäsion und Hierarchie u. a. mittels Klebepunkten auf einem Raster, Steinebach 1995; FAST - Familiensystemtest mittels Figuren und Podeste auf einem Rasterfeld, Gehring 1993). In aller Regel wurden zur Bewertung der Aussagen Skalen von „0“ bis „5“ vorgegeben. Von diesem Muster der Likert- Skalierung wurde nur dann abgewichen, wenn die Antworten mit den Normierungs- oder anderen Erhebungen (Shell- Jugendstudie 2000 oder ALS, Schauder 1996) verglichen werden sollten. In den Interviews sollten das besondere Wissen und die besondere Wahrnehmung der Jugendlichen und der MitarbeiterInnen über die Situation im Heim und die Prozesse der zend waren. Dabei sollen auch Zusammenhänge und Motive des Jugendlichen deutlich werden. Die relevanten Gefühle sollen für den betreffenden Jugendlichen und die Gruppe klarer werden, ebenso wie seine Kognitionen. Eine Liste mit gängigen Denkfehlern soll die Gruppe dabei unterstützen. Danach sollen Vorschläge zu möglichen alternativen Verhaltensweisen oder zur Wiedergutmachung eingebracht und diskutiert werden. Das Bild, das der betreffende Jugendliche von sich selbst hat und das die Gruppe von ihm hat, soll wertschätzend und ehrlich verbalisiert werden. 4. Abschlussrunde: In maximal zehn Minuten fasst einer der beiden ModeratorInnen Inhalte und gruppendynamische Prozesse des Treffens zusammen. Er/ sie gibt eine Rückmeldung zur Gruppe und zu den einzelnen TeilnehmerInnen und würdigt besonders die positiven Punkte. Eventuell kann eine Hausaufgabe an die Gruppe gestellt werden, mit der der/ die betreffende Jugendliche in seinem/ ihrem zukünftigen Verhalten unterstützt werden soll (Breuker/ Bächle-Hahn/ Schrenk 2008). Wege der Evaluation Zu sechs Erhebungszeitpunkten zwischen Mai 2003 und Dezember 2006 wurden halbjährlich jeweils sechs Interviews mit Jugendlichen und zwölf Interviews mit MitarbeiterInnen des Heims geführt. Weiterhin füllten zwischen 55 und 65 Jugendliche zu jedem Erhebungszeitpunkt die Fragebögen aus. Das erhobene Datenmaterial umfasst • 344 Fragebögen, die von insgesamt 163 Jugendlichen bearbeitet wurden, • 30 Interviews, die mit insgesamt 24 Jugendlichen geführt wurden, und • 71 Interviews, die mit insgesamt 40 MitarbeiterInnen geführt wurden. 316 uj 7+8 (2008) arbeit mit gruppen Positive Peer Culture zugänglich gemacht werden. Leitfadenfragen schafften eine starke Strukturierung und eine Begrenzung der Themen. Durch Visualisierung, Ordnen von Begriffen und Verwendung der Materialien des FAST zur Gruppenstrukturanalyse waren die Interviews nicht nur auf Verbalisierungen beschränkt. Die Interviews, die jeweils zwischen zehn und 15 Minuten dauerten, wurden transkribiert und sowohl in Bezug auf thematische Zusammenhänge als auch in Bezug auf Antwortgruppen segmentiert. Thematische Einheiten wurden sortiert und im Hinblick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede geordnet. Kritisch ist anzumerken, dass diese Untersuchung nur männliche Jugendliche in einer stationären Einrichtung berücksichtigen konnte. Es sollte auch bedacht werden, dass noch keine Ergebnisse über die Nachhaltigkeit der Wirkungen ins Erwachsenenalter hinein vorliegen. Ergebnisse Ein wichtiges Indiz in Heimen zum Gelingen des pädagogischen Ansatzes ist sicher das Auftreten und der Umgang mit Gewalt. Bereits die Interviews machen deutlich, dass es aus Sicht der Jugendlichen und MitarbeiterInnen einen Rückgang der Gewalt und allgemeine positive Veränderungen im Heimklima gibt, die in einem deutlichen Zusammenhang mit PPC gesehen werden: „Also ich denk, das allgemeine Klima hat sich auf jeden Fall gebessert durch Peergroup. … Die Jungs lernen natürlich auch, einen Konflikt einmal verbal durchzusetzen und nicht einfach nur die Fäuste zu hämmern. Sie haben einfach im verbalen Bereich mehr drauf als früher.“ (Mitarbeiter) „Wir haben gelernt, uns nicht runterzumachen und es irgendwann rauszulassen als Schlägerei, deswegen sprechen wir lieber vorher drüber. Wenn die Peergroup nicht da ist, suchen wir uns Einzelgespräche untereinander. Das ist schon wichtig für uns.“ (Jugendlicher) Abbildung 1 gibt nun einen Eindruck der Einschätzung der Wirkungen allgemein und den Wirkungen auf Gewalt im Heim. Wie die Abbildung zeigt, stimmen mehr und mehr Jugendliche der Aussage zu: „Es gibt weniger Gewalt.“ Am Ende liegen die Werte sogar über dem Durchschnitt aller erfragten Wirkungen. Auch in den Interviews finden wir dazu immer wieder Bestätigungen: „Also in den letzten Monaten ist es deutlich besser geworden, das aggressive Verhalten der Jugendlichen ist deutlich zurückgegangen. Es gibt zwar immer wieder so kleine Einbrüche, aber tendenziell ist die Stimmung gut, ja.“ (Mitarbeiter) „Und dass ich jetzt auch nicht mehr vor meinen Problemen wegrenne oder Sachen durch die Gegend schmeiße oder irgendwas, deswegen war’s halt so weit, dass ich dann halt ausgerastet bin, und wegen Kleinigkeiten, jetzt hab ich mich halt besser unter Kontrolle.“ (Jugendlicher) In den Interviews wird auch deutlich, dass die Entwicklung hin zu weniger Gewalt mit einer veränderten Kommunikation einhergeht. Dies sehen die Jugendlichen folgendermaßen: „Also ich hab ziemlich viel Fäkalsprache genommen. Ziemlich viel. Ziemlich viel beschimpft die Leute und so, das ist eigentlich fast gar nicht mehr. Ich reduzier das so.“ „Also ich red auch anders, also ich tu’s jetzt anders umsetzen. Also nicht mehr wie früher, jetzt bring ich andere Wörter mit ein.“ „Ja, das ist nicht so wie Anschreien oder so was, wir streiten uns schon, bloß auf eine ruhige Art und Weise. Ja, das passt mir nicht und das und das, da sprechen wir uns gegenseitig drauf an.“ Das stimmt mit der Sicht der meisten MitarbeiterInnen überein: uj 7+8 (2008) 317 arbeit mit gruppen „… also ich finde, die interessieren sich gegenseitig mehr und können sich ausdrücken und reden auch, gerade die Buben, mehr miteinander. Also, das finde ich schon gut. Wirklich schon sachlich kompetent muss ich sagen, oh, das hätte sogar ich sagen können. Wenn der dann sagt: Aber du musst doch mal überlegen, wie geht das in deinem Leben weiter. Wo ich erstaunt bin, dass so Gespräche geführt werden.“ „Wenn jetzt einer drei Jahre da ist, dann macht er hundertzwanzig Peergroups mit und aus denen … dass er aus denen so viel Kraft schöpft und lernt, zum Beispiel nicht draufzuschlagen, sondern zu reden mit den Leuten. Sie lernen immens, das ist ein großer Vorteil von Peergroup.“ Auch ein Teil der Eltern nimmt eine veränderte Kommunikation wahr: „Das sagt auch mein Vater. Also mein Vater hat auch gesagt, dass ich, dass meine Umgangssprache viel besser geworden ist und so.“ (Jugendlicher) „Also, letztes Mal, da war es ein bisschen problematisch mit ihm, und dann nach einer gewissen Zeit kam er dann plötzlich, also ich kam zu ihm ins Zimmer, und dann sagt er zu mir: Wollen wir reden? Und das, schon allein das, reden, also das ist was ganz Neues.“ (Eltern) Die Reduktion von Gewalt ist ein zentrales Anliegen. Die Verringerung unerwünschten Verhaltens ist jedoch nicht genug. Es geht auch - und das ganz zentral - um den Aufbau positiver Verhaltensweisen. Im Vordergrund der Gespräche in den PPC- Gruppen steht daher das Anliegen, anderen zu helfen. Dabei geht es nicht nur um konkrete Lösungen für die angesprochenen Probleme, es geht auch um ein Klima gegenseitiger Sorge im Alltag des Heims oder über das Heim hinaus in die Gemeinde (Vorrath/ Brendtro 2007; Brendtro/ Larson 2006). Sich gegenseitig zu helfen soll attraktiv werden. Helfen, so die theoretische Kernannahme, stärkt das Selbstvertrauen und ermöglicht so eine positive Stabilisierung der Persönlichkeit des Jugendlichen. „Ja, hilfsbereit gegen Menschen, das lernen sie auch in der Peergroup, weil sie müssen ja entscheiden, wer kriegt das Treffen, und da kommt immer mal wieder so eine Aussage wie - der braucht’s jetzt, das sehen wir ein. Das Problem habe ich auch schon gehabt, das ist wichtig für ihn.“ (Mitarbeiter) Abb. 1: Wirkungen allgemein und mit Blick auf Gewalt im Heim 318 uj 7+8 (2008) arbeit mit gruppen „Ja, ich denke, da gibt es einen Zusammenhang, dass ich mich selbst fördere und unterstütze und andere fördere und unterstütze. … Und es ist wahrscheinlich einfacher, den Jungs beizubringen, wie sie anderen helfen, und sie dabei dann merken, wie sie sich selbst helfen, als immer andersrum - wir sind doch da, um zu helfen, und du tust das alles für dich. Die andere Schiene ist einfacher, wenn man sagt, na guck mal, wie kannst du ihn unterstützen, und dem da was einfällt und der da was hinkriegt, dann wird er auch lernen, sich selbst unterstützen zu können.“ (Mitarbeiter) „Weil es, durch die Peergroup, denk ich, haben wir uns alle unterstützt zusammen, ich denk da schon, dass wir uns dort auch helfen können und dass wir zusammenwachsen, dass wir halt eine Gruppe werden, uns unterstützen können, dass wir also stark werden zusammen, nicht dass wir uns gegenseitig noch fertig machen.“ (Jugendlicher) Zu Beginn der Arbeit in den Peergroup- Treffen war die Bereitschaft, anderen zu helfen, bei einigen Jugendlichen noch nicht stark ausgeprägt: „Durch die Peergroup kann man ja dann auch, wenn einer schwach ist, jemandem helfen zum Beispiel, und man muss dann halt auch wollen. Und es sind dann die meisten, die können es, aber die wollen es dann nicht. Zum Beispiel, wenn man jemanden sieht, ah, dem geht’s voll schlecht und so, der braucht ein Gespräch, ich kann zum Beispiel ein Gespräch führen mit anderen, ich kann mit anderen Leuten reden.“ (Jugendlicher) Wie Abbildung 2 zeigt, nimmt die Bereitschaft, anderen Jugendlichen zu helfen, deutlich zu. Sie übersteigt hier sogar den Skalenmittelwert. Hier zeigt sich eine Veränderung, wie sie in anderen Feldern, etwa in der Frage, von wem man sich beeinflussen lässt, nicht abgebildet wird. In den Interviews erzählen Jugendliche von Situationen, in denen sie anderen helfen: „Auch Leute außerhalb, die man kennt, und Freunde außerhalb, wenn die zum Beispiel Probleme haben, dann fangen wir mit denen an zu reden, weil das bei uns schon normal ist, über Sachen zu reden, die nicht okay sind, eigentlich ganz gute Sachen.“ (Jugendlicher) Gerade in den Interviews der letzten Erhebungszeitpunkte werden auch von MitarbeiterInnen häufig beobachtete Situationen geschildert, in denen Jugendliche sich gegenseitig helfen: Abb. 2: Wünsche und Erwartungen an das Leben im Heim uj 7+8 (2008) 319 arbeit mit gruppen • Für Jugendhilfe, Soziale Arbeit und Pädagogik zeigt diese Untersuchung, dass mit PPC ein Ansatz vorliegt, der bei Jugendlichen, die als schwierig gelten, tiefgreifende Veränderungen möglich macht. Die Veränderungen gehen über reine Verhaltensänderungen hinaus und greifen, wie weitere Ergebnisse der Untersuchung zum Selbstwert und zur Emotionalität zeigen, nachhaltig in die Persönlichkeitsentwicklung ein. • Unsere Gesellschaft hat ein Interesse daran, dass Jugendliche, die bereits auffällig waren, integriert werden. Abnahme von Gewalt ist hier ein wichtiges Ziel und zugleich Prüfkriterium für gelingende Integration (Hurrelmann/ Bründel 2007). Eine positive Kultur unter Gleichaltrigen unterstützt den einzelnen Jugendlichen in seinem Sozialisationsprozess (Wetzstein/ Erbeldinger u. a. 2005). Damit gilt auch für die stationäre Jugendhilfe, was Richard Lerner allgemein fordert: „Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, damit Kinder und Jugendliche endlich als gleichwertige Partner gesehen werden. Das ist durchaus als Aufruf an Politik und Gesellschaft zu verstehen. Meine Studien zeigen, dass Verhaltensauffälligkeiten und Kriminalitätsraten unter den Jugendlichen zurückgehen, die sich individuell entfalten und gesellschaftlich engagieren können. Wieso sollten sie auch der Gemeinschaft schaden, um die sie sich kümmern und sorgen? “ (Lerner 2007, 2) Literatur Brendtro, L. K./ Larson, S. J., 2006: The resilience revolution. Bloomington Brendtro, L. K./ Mitchell, M. L./ McCall, H., 2007: Positive Peer Culture: Antidote to „Peer Deviance Training“. In: Reclaiming children and youth, 15. Jg., H. 4, S. 200 - 206 Breuker, K./ Bächle-Hahn, U./ Schrenk, A., 2008: Positive Peer Culture im St. Augustinusheim in Ettlingen. In: Opp, G. (Hrsg), in Druck: PPC in der Praxis. Bad Heilbrunn, S. 103 - 128 „Ja, dann halt doch Gespräche suchen mit Jugendlichen, was sie halt … Vorher war der Krieg der Jugendlichen zwischeneinander, auch in der Gruppe, noch viel, viel stärker. Und jetzt - ich denk mal, dass dann der eine weiß über die Probleme des anderen und sich damit auch beschäftigt - und das ist dann doch anders, positiv, viel positiver.“ „Ich merk das: Wenn Jugendliche sich selbst beraten, miteinander selber reden, sich selber Ratschläge geben, fällt es ihnen viel leichter, diese anzunehmen und sich zu öffnen und zu verändern. Jugendliche, die vom Meister dann irgendwelche Ratschläge kriegen, das ist doch immer was ganz anderes. Ein anderes Niveau. … Ich hab grad gestern wieder so eine Situation erlebt, wo ein Jugendlicher einem anderen wirklich gesagt hat, hör zu, ich hab das gleiche Problem gehabt, und ich hab mich so und so verhalten und denk an deine Ausbildung, was die anderen sagen, ist scheißegal, und der Jugendliche konnte dann da damit, gell. Und das hat ihn sehr motiviert und da hat er sich bestätigt gefühlt. Man merkt das einfach, das ist etwas anderes, wenn ich das sag, ich hab das drei Sätze vorher auch gesagt, vielleicht mit ein paar anderen Worten, aber - wenn das dann von einem Gleichaltrigen oder sogar noch von einem Jüngeren kommt, fällt es leichter, das anzunehmen. Der war eigentlich noch jünger wie er.“ Ausblick Die vorliegende Untersuchung zeigt: Im Zuge der regelmäßigen Gruppentreffen wächst die Bereitschaft, anderen zu helfen. Zugleich lässt die Gewalt im Heim nach. Stellt man nun im Sinne einer Evaluation die Frage nach dem Nutzen eines Ansatzes, ergeben sich hier aus den verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Hinweise: • Aus der Perspektive des PPC-Ansatzes bestätigt die vorliegende Evaluation, was als Kernannahme gilt: Mit der zunehmenden Hilfsbereitschaft verbessert sich das Sozialverhalten allgemein. 320 uj 7+8 (2008) arbeit mit gruppen Dodge, K. A./ Dishion, T. J./ Lansford, J. E., 2006: Deviant peer influences in intervention and public policy for youth. In: Social policy report, 20. Jg., H. 1, S. 3 - 19 Fennimore, K., 1988: Faith made visible. The History of Floyd Starr & his school. Albion, Michigan Gehring, T. M., 1993: Familiensystemtest (FAST). Weinheim Hurrelmann, K./ Bründel, H., 2007: Gewalt an Schulen. Pädagogische Antworten auf eine soziale Krise. Weinheim Laireiter, A.-R./ Lager, C., 2006: Soziales Netzwerk, soziale Unterstützung und soziale Kompetenz bei Kindern. In: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 38. Jg., H. 2, S. 69 - 78 Lerner, R. M., 2007: Wer Gutes tut, ist auch gut in der Schule. In: Die Zeit, 3. Mai 2007. www. zeit.de/ 2007/ 19/ C-Interview-Lerner, 26. 7. 2007 Opp, G./ Unger, N. (Hrsg.), 2006: Kinder stärken Kinder. Positive Peer Culture in der Praxis. Hamburg Othold, F., 2003: Jugendcliquen und Jugenddelinquenz. In: Schumann, K. F. (Hrsg.): Delinquenz im Lebensverlauf. Bremer Längsschnittstudie zum Übergang von der Schule in den Beruf bei ehemaligen Hauptschülern. Band 2. Weinheim, S. 123 - 144 Schauder, T., 2 1996: Die Aussagen-Liste zum Selbstwertgefühl für Kinder und Jugendliche. Weinheim Schmidt, M., 2006: Reden befreit die Seele. Das Peerprojekt in Halle an der Saale. In: Opp, G./ Unger, N. (Hrsg.): Kinder stärken Kinder. Positive Peer Culture in der Praxis. Hamburg, S. 103 - 109 Shell Deutschland Holding (Hrsg.), 2000: Jugend 2000. 13. Shell Jugendstudie. Wiesbaden Shell Deutschland Holding (Hrsg.), 2006: Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. Frankfurt am Main St. Augustinusheim, 2007: St. Augustinusheim, Ettlingen. www.augustinusheim.de, 15. 11. 2007 Steinebach, C., 1995: Gruppenstrukturanalyse (GRUSA). Freiburg i. Br. Steinebach, U./ Steinebach, C., 2006 a: Jugendberatung. In: Steinebach, C. (Hrsg.): Handbuch Psychologische Beratung. Stuttgart, S. 355 - 373 Steinebach, U./ Steinebach, C., 2006 b: Neue Wege der Jugendberatung: Evaluation von Positive Peer Culture (PPC). In: Kösler, E. (Hrsg.): Forschen und Weiterbilden für eine soziale Zukunft. Konstanz, S. 85 - 95 Steinebach, U./ Steinebach, C., in Druck: Positive Peer Counselling. Evaluation eines Beratungsmodells für Jugendliche. Freiburg i. Br. Steinebach, U./ Steinebach, C., 2008: Best Practice prüfen. Zur Evaluation von PPC-Projekten. In: Opp, G./ Teichmann, J. (Hrsg.): Positive Peerkultur. Bad Heilbrunn, S. 157 - 173 Szaday, C., 2004: Intervention mit einer Unterstützungsgruppe bei Mobbing. In: P & E, 30. Jg., H. 1, S. 32 - 35 Teichmann, J., 2006: „Gemeinsam statt einsam.“ Peer Counseling in Halle an der Saale. In: Opp, G./ Unger, N. (Hrsg.): Kinder stärken Kinder. Positive Peer Culture in der Praxis. Hamburg, S. 110 - 135 Vorrath, H. H./ Brendtro, L. K., 2007 2 : Positive Peer Culture. New Brunswick Weiss, B./ Caron, A./ Ball, S./ Tapp, J./ Johnson, M./ Weisz, J. R., 2005: Iatrogenic effects of group treatment for antisocial youth. In: Journal of consulting and clinical psychology, 73. Jg., H. 6, S. 1036 - 1044 Wetzstein, T./ Erbeldinger, P./ Hilgers, J./ Eckert, R., 2005: Jugendliche Cliquen. Wiesbaden Die AutorInnen Prof. Dr. Christoph Steinebach Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Departement für Angewandte Psychologie Minervastraße 30 CH-8030 Zürich Christoph.Steinebach@zhaw.ch Ursula Steinebach Katholische Fachhochschule Freiburg Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung Karlstraße 63 D-79104 Freiburg Ursula.Steinebach@t-online.de
