unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Die „Rheinische Erklärung“ des Landesjugendamtes Rheinland
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Die "Rheinische Erklärung" vom 15.9.2006 ist die pädagogische Position des Landesjugendamtes Rheinland zu freiheitsbeschränkenden und entziehenden Angeboten der Jugendhilfe.
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uj 7+8 (2008) 327 Unsere Jugend, 60. Jg., S. 327 - 329 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel zwangskontexte Die „Rheinische Erklärung“ des Landesjugendamtes Rheinland Die „Rheinische Erklärung“ vom 15. 9. 2006 ist die pädagogische Position des Landesjugendamtes Rheinland zu freiheitsbeschränkenden und -entziehenden Angeboten der Jugendhilfe. Präambel Das Landesjugendamt Rheinland steht in der Verantwortung, zur Betreuung fremdaggressiver, schwerstdelinquenter Kinder und Jugendlicher eine pädagogische Position zu beschreiben. Diese soll auf der Grundlage des bereits vorliegenden Regelwerks des „Rheinischen Modells“ (Mindeststandards zur Erteilung einer Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII) dem pädagogischen Auftrag der Persönlichkeitsentwicklung gerecht werden, der vor allem unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs nur schwer umzusetzen ist. Mit Hilfe dieser Position soll Tendenzen entgegengewirkt werden, pädagogische Konzepte von gesellschaftlichen Strömungen und jeweiligem Zeitgeist abhängig zu machen. Es geht darum, den an die Jugendhilfe gerichteten gesellschaftlichen Doppelauftrag der Erziehung und der Gefahrenabwehr praxisgerecht zu erfüllen und einen mit den „Regeln pädagogischer Kunst“ übereinstimmenden fachlichen Handlungsrahmen für freiheitsbeschränkende und freiheitsentziehende Jugendhilfeangebote zu beschreiben. Die Position des Landesjugendamtes Rheinland legt in diesem Zusammenhang nahe, Intensivangebote freiheitsbeschränkenden Charakters solchen mit Freiheitsentzug vorzuziehen, sofern dadurch der Aufsichtsverantwortung im Einzelfall Rechnung getragen werden kann. Nur in Fällen, in denen eine Gefahr für Leib oder Leben dies unbedingt erfordert, wird ein die Betreuung begleitender, freiheitsentziehender Rahmen vorübergehend unumgänglich sein. Dieser muss in eine Intensivgruppe eingebettet sein. Definition Die Freiheitsbeschränkung ist Teil des pädagogischen Konzeptes. Sie beinhaltet das Erschweren oder den kurzfristigen Ausschluss der Bewegungsfreiheit und liegt vor, wenn z. B. Ausgang begleitet oder ein Ausgangsverbot für maximal wenige Stunden ausgesprochen wird. Der Freiheitsentzug ist hingegen der längerfristige Ausschluss der Bewegungsfreiheit im Rahmen der Abwehr einer Leib- oder Lebensgefahr. 1. Freiheitsbeschränkung beruht idealerweise auf einer pädagogischen Vereinbarung und damit auf der Zustimmung eines einsichtsfähigen Minderjährigen. Daher ist Freiheitsbeschränkung Teil eines pädagogischen Konzeptes. 2. Freiheitsbeschränkung grenzt sich gegenüber Freiheitsentzug durch die pädagogische Zielsetzung ab. Der Minderjäh- 328 uj 7+8 (2008) zwangskontexte rige sieht sich durch intensive pädagogische Tagesstrukturen und Grenzsetzungen in seiner Freiheit beschränkt, während Freiheitsentzug ausschließlich die Abwehr einer Eigen- oder Fremdgefahr bezweckt. Im Unterschied zu sonstigen Intensivangeboten ist der unbegleitete Ausgang vorübergehend ausgeschlossen. Auch wird Druck in der Weise aufgebaut, dass für den Fall des Nichtbeachtens von Grenzsetzungen Konsequenzen in Aussicht gestellt werden, z. B. die Beendigung der Erziehungshilfe oder Untersuchungshaft bei Maßnahmen der Haftvermeidung. Nicht verantwortbar ist ein Konzept, das eine intensive Tagesstruktur therapeutischer und schulischer Aktivitäten durch Verschließen der Gruppentür ermöglicht. Darin läge eine problematische Vermischung pädagogischer Elemente mit Sicherungsstandards der Gefahrenabwehr, im Ergebnis ein freiheitsentziehendes Angebot, das fälschlicherweise als Freiheitsbeschränkung beschrieben wird und mangels richterlicher Genehmigungen rechtswidrig ist. 3. Freiheitsentzug stellt ein Element intensiven Zwangs der Gefahrenabwehr dar. Er ist pädagogisch nicht begründbar, da Pädagogik das Ziel hat, zu einem eigenständigen Leben in der Gesellschaft zu befähigen. Ob eine den Freiheitsentzug begründende Gefahr für Leib oder Leben vorliegt, muss in jedem Einzelfall schlüssig hinterfragt und dokumentiert werden. Freiheitsentzug darf nicht initiiert werden, weil Jugendhilfeinstitutionen mit einem „Schwierigen“ bisher „nicht zurechtkamen“. 4. Freiheitsentzug erfordert ein spezifisches pädagogisches Konzept, das durch verlässliche Beziehung, Überzeugen und Glaubwürdigkeit in der Lage ist, die auf die Psyche des Minderjährigen wirkenden Belastungen des Freiheitsentzuges zu mindern und damit die Voraussetzungen für einen auf Vertrauen gestützten pädagogischen Prozess zu eröffnen. 5. Ein solches Konzept erfordert vorrangig Rollenklarheit und Glaubwürdigkeit des Pädagogen in seiner Doppelfunktion der Erziehung und der Aufsicht. Voraussetzung ist, dass der Minderjährige den Freiheitsentzug auch als Ausdruck zwischenmenschlicher, persönlicher Auseinandersetzung empfindet. Glaubwürdig handelt dabei der Pädagoge, der dem Minderjährigen die normativen Grundlagen des Freiheitsentzuges erläutert und in Zusammenhang mit dessen Aufrechterhaltung fortlaufend die weitere Notwendigkeit im Dialog überprüft. 6. Das spezifische pädagogische Gruppenkonzept erfordert hohe personelle und fachliche Standards, Beziehungskontinuität durch bleibende Bezugspersonen und transparente Struktur. Ziel des Konzeptes ist es, auch perspektivisch gemeinsame Wege zur Überwindung des Freiheitsentzuges zu finden. Der Minderjährige soll die Möglichkeit besitzen, entstehende Probleme mit einer externen, professionellen Vertrauensperson zu besprechen. Im Rahmen des Gruppenkonzeptes wird jeder individuell gefördert. Ziel ist es, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu stärken und damit die Voraussetzungen für eine Beendigung des Freiheitsentzuges zu erarbeiten. 7. Die Jugendhilfe verfolgt im Rahmen des Freiheitsentzuges nicht primär das Ziel, Entweichungen zu verhindern. Selbst die in der Haftvermeidung praktizierten Sicherungsstandards unterscheiuj 7+8 (2008) 329 zwangskontexte den sich von Justizstandards in personeller und baulicher Hinsicht. Es handelt sich nur um eine allgemeine Sicherung von Fenstern und Türen, also eine relative Erhöhung der Entweichungsschwelle. Die Betreuungssituation ist trotz intensiver Tagesstruktur mit adäquaten Freiheiten zur Wahrnehmung persönlicher Bedürfnisse wie Hobbys, Bewegung und Sich- Zurückziehen verbunden. Wichtig sind außerdem ein attraktives und wertschätzendes Ambiente sowie vielfältige Freizeitangebote. Begleiteter Ausgang ist unumgänglich. Der Einschluss in einem Raum kann keine pädagogische Maßnahme darstellen und ist allenfalls bei Gefahr für Leib oder Leben in Begleitung eines Pädagogen verantwortbar. 8. Eine Betreuung, die den Freiheitsentzug dadurch ausschließt, dass der Minderjährige eine Freiwilligkeitserklärung unterschreibt, wird nicht empfohlen. Ein solches, in der Psychiatrie praktiziertes Verfahren ist problematisch, weil angesichts der jederzeitigen Widerrufbarkeit der Aufsichtsverantwortung nicht Rechnung getragen werden kann. 9. Es ist wichtig, abschließend darauf hinzuweisen, dass der Gewaltprävention eine besondere Bedeutung zufällt. Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentzug sind vermeidbar, wenn Erziehungsdefiziten und Kindeswohlgefährdungen durch rechtzeitiges Erkennen und Beraten entgegengewirkt wird, vorrangig in den Bildungs- und Erziehungsaufträgen von Kindertageseinrichtungen und Schulen. Es bestehen sicherlich genügend Gründe, den Leistungsansatz des Sozialgesetzbuchs VIII durch Frühwarnsysteme und verstärkte „staatliche Wächteramtsfunktion“ zu ergänzen, gerade auch im Hinblick auf den Verantwortungsbereich der Erziehung in der Herkunftsfamilie. Letztlich wird ein Gelingen jedoch davon abhängen, normativ ordnungspolitische Ansätze der Gefahrenabwehr so umzusetzen, dass sie mit fachlichen Notwendigkeiten kompatibel sind und darüber hinaus von den Fachkräften auch verstanden werden. Es wird also entscheidend darauf ankommen, eine Brücke zwischen pädagogischen und normativen Anforderungen herzustellen, was vorrangig Aufgabe der Landesjugendämter ist.
