unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Weder zukleistern noch zuspitzen - eine Erwiderung auf Roland Merten
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2008
Dieter Maly
Natürlich liegt es mir fern, in den Chor derer einzustimmen, die immer sagen, die Jugend von heute werde immer schlimmer. Diesen Spruch kannten schon die alten Griechen, und würde er stimmen, hätte unser Nachwuchs längst die Menschheit ausgerottet. Aber die große Harmonie, die Roland Merten in seinem Beitrag in Heft 11+12/2007 von Unsere Jugend verbreitet, passt mir auch nicht ("Gibt es eine Erziehungskatastrophe? Oder: Aus einem krummen Holze lässt sich nichts Gerades zimmern").
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330 uj 7+8 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 330 - 336 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Dieter Maly Jg. 1955; Diplom- Sozialwirt, Leiter des Amtes für Existenzsicherung und soziale Integration - Sozialamt der Stadt Nürnberg Nur leicht verkürzt entnehme ich dem Beitrag Folgendes: Erstens: Die Erziehungsziele der Eltern in unserem Land sind in Ordnung, haben sich laut empirischen Befunden sogar positiv entwickelt (gegenüber früheren „autoritären Zeiten“, denen kaum einer nachweint, eigentlich kein Wunder! ). Zweitens: Die Werte der Kinder und Jugendlichen sind auch in Ordnung, normal, fast alles im grünen Bereich (das kommt auf die Art der Betrachtung einer Gauß’schen Normalverteilung an). Und drittens: Erziehung ist schwierig, ein komplexer, emotions- und fehlerbehafteter Prozess in jedem Einzelfall, und wer sich dabei Hilfe beim Jugendamt oder einer sonst geeigneten Stelle holt, tut recht daran (wenn das Amt angesichts knapper Ressourcen Hilfe leisten kann). Eine Erziehungskatastrophe, das ist Mertens Schlussfolgerung, findet allenfalls im Rauschen des Blätterwaldes statt. Mertens Befunde kann man unterschreiben, wenn man davon ausgeht, dass er in löblicher Absicht einiges an Katastrophengerede zurechtrücken, der Diskussion um massenweise versagende Eltern, Schulen, Jugendämter die Spitze nehmen wollte. Aber angesichts der Dinge rund um Kinder und Jugendliche, rund ums Aufwachsen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, mit Stichworten wie Kinderarmut, Bildungs- und Ausbildungsnot und misslingender Integration von jugendlichen MigrantInnen, springt der Beitrag zu kurz und bringt auch keinen Handlungsnutzen, außer dem, dass man sich entspannt zurücklehnen könnte. Genauso wenig hilfreich ist andererseits die durch Medien und Politik längst übliche Zuspitzung. Im Herbst und Winter 2007 machte eine nicht enden wollende Kette von Meldungen über Kindesmisshandlungen und Kindstötungen durch Eltern Furore im Land: Kinder als Opfer. Hektische poli- Weder zukleistern noch zuspitzen - eine Erwiderung auf Roland Merten Dieter Maly Natürlich liegt es mir fern, in den Chor derer einzustimmen, die immer sagen, die Jugend von heute werde immer schlimmer. Diesen Spruch kannten schon die alten Griechen, und würde er stimmen, hätte unser Nachwuchs längst die Menschheit ausgerottet. Aber die große Harmonie, die Roland Merten in seinem Beitrag in Heft 11 - 12/ 2007 von Unsere Jugend verbreitet, passt mir auch nicht („Gibt es eine Erziehungskatastrophe? Oder: Aus einem krummen Holze lässt sich nichts Gerades zimmern“). erziehungskatastrophe? uj 7+8 (2008) 331 erziehungskatastrophe? tische Betriebsamkeit auf Bundes- und Landesebene und erheblicher Druck auf die Jugendämter auf der kommunalen Ebene waren und sind noch heute die Folge. Im Januar dieses Jahres dann schlugen zwei Jugendliche in einem Münchner U-Bahnhof vor laufender Überwachungskamera einen Rentner brutal zusammen. Die Bilder wurden wieder und wieder im Fernsehen und den Printmedien gezeigt: Jugendliche als Täter. Die daraufhin entbrannte Diskussion um Jugendgewalt, Sanktionen und Abschiebung war aus fachlicher Sicht unerträglich. Auch diese Art, mit den Dingen umzugehen, bringt uns nicht weiter: Fassungslose Betroffenheit oder das Skandalisieren von Einzelfällen sind schlechte Ratgeber und führen meistens zu schlechten Lösungsvorschlägen. Ich plädiere für einen anderen Blick auf die Situation und Befindlichkeit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland und auf die Bedingungen des Aufwachsens in unserer Gesellschaft, der weder zukleistert noch zuspitzt und Arbeitsfelder und fachliche Ansatzpunkte finden lässt, Risiken und Fehlentwicklungen beim Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen angemessen und erfolgreich zu begegnen. Es gibt keinen ausgeprägten Erziehungsnotstand in Deutschland, so weit muss man Merten recht geben; aber es gibt ausgeprägte soziale Notstände, die auf Kinder, Jugendliche und ihre Familien wirken - und das hat Auswirkungen auf die Erziehungssituation. Ich will nur auf die drei wichtigsten Entwicklungen eingehen, die ich mit Zahlen und Beispielen aus der Praxis der Nürnberger Jugend- und Sozialbehörde illustrieren will. Das Beispiel Nürnberg habe ich gewählt, weil mir als langjährigem Mitarbeiter in verschiedenen Positionen in Jugendamt, Allgemeinem Sozialdienst und Sozialamt die Erfahrungen und die Zahlen leicht zugänglich sind. Ich gehe davon aus, dass dies auf andere (groß-)städtische Gesellschaften in Deutschland übertragbar ist.Es geht um Bildung und Ausbildung, Integration und wachsende Kinderarmut und deren Bekämpfung - drei Felder, in denen eindeutig Handlungsbedarf besteht. Handlungsfeld Bildung und Ausbildung Es kann und soll hier nicht die gegenwärtige Schuldebatte über Pisa, G 8 und das schlechte Abschneiden von Deutschlands SchülerInnen im internationalen Vergleich aufgegriffen werden - das würde den Rahmen sprengen und ist außerdem ein eigenes Thema. Aber ein Punkt der Schuldebatte ist zu betrachten, wenn es um Risiken für das Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen geht: unser dreigliedriges Schulsystem und die Mechanismen, mit denen es Ausgrenzung produziert. Noch vor 30, 40 Jahren war dieses dreigliedrige, wenig durchlässige System durchaus in Ordnung und sorgte auf seinen drei Ebenen für den benötigten Nachwuchs in den jeweiligen Milieus oder Schichten: Die Söhne und Töchter von ArbeiterInnen und kleinen Angestellten besuchten die Volksschule und machten anschließend eine Ausbildung im gewerblichen Bereich oder gingen gleich ungelernt in die Fabrik. Die Kinder der Mittelschicht gingen auf die Realschule und angelten sich dann die eher „edlen“ Ausbildungsberufe bei Banken, Versicherungen oder im kaufmännischen Bereich der Betriebe, und die Kinder des Bildungsbürgertums absolvierten das Gymnasium und anschließend ein Universitätsstudium. Jede dieser Ebenen garantierte weitgehend eine auskömmliche Erwerbsbiografie für 332 uj 7+8 (2008) erziehungskatastrophe? ihre AbsolventInnen. Eine der großen Leistungen der sozialliberalen Koalition der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts waren die Ansätze, unter der Überschrift der Chancengleichheit dieses dreigliedrige System durchlässiger zu machen, wobei natürlich Durchlässigkeit von unten nach oben gemeint war und ist. Noch heute wird seitens vieler BildungspolitikerInnen dieses dreigliedrige Schulsystem - Durchlässigkeit, duales System der Berufsausbildung und zweiten Bildungsweg als Teilaspekte eingeschlossen - als die beste aller möglichen Schulwelten dargestellt. Dabei ist längst ausgemacht, wo genau dieses seit etlichen Jahren nicht mehr stimmt: Es sind die HauptschülerInnen, die eben nicht mehr auf Ausbildung, Beruf und eine auskömmliche Lebensperspektive vertrauen können. In Nürnberg waren in den Jahren 2005 und 2006 am Ende der Schulpflicht ca. 80 % der HauptschulabsolventInnen ohne Ausbildungsplatz bzw. ohne überhaupt eine berufliche Perspektive; an einzelnen Schulen in Stadtteilen mit sozialen Problemen gab es Klassen ohne eine/ n einzige/ n SchülerIn mit positiven Zukunftsaussichten. Um die 30 % der SchülerInnen wiederholten freiwillig die Abschlussklassen, um Zeit zu gewinnen und eventuell auch bessere Abschlussnoten zu schaffen. Die Diskussion, warum das so ist und was man zur Abhilfe tun könnte, wird je nach Blickwinkel mit sehr unterschiedlichen Akzenten geführt: Die LehrerInnen beklagen die Rahmenbedingungen: zu große Klassen, desinteressierte Eltern und überhaupt „dumme und flegelhafte Kinder“ (so drücken sie es allerdings meistens nicht aus). Die VertreterInnen der Betriebe jammern über immer schlechtere BewerberInnen, die nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können und bei denen die notwendigen Sekundärtugenden nur sehr schwach ausgeprägt sind, und die SchulpolitikerInnen mäandern zwischen den Forderungen nach Abschaffung der Hauptschule und Aufwertung der Hauptschule. Dabei sind die HauptschülerInnen in erster Linie Modernisierungs- und GlobalisierungsverliererInnen: Die Arbeitsplätze in der Produktion, in denen sie früher ihr Auskommen finden konnten, werden in Deutschland unaufhaltsam abgebaut. Die Arbeitsplätze im Bereich der einfachen Dienstleistungen sind zwar noch vorhanden, aber durch Lohndumping und die Entwicklung des Billiglohnsektors reichen die dort erzielbaren Einkommen nicht mehr für eine Existenz ohne Armut aus - das belegen die steigenden Zahlen der ALG- II-Empfänger, die Leistungen bekommen, obwohl sie - nicht selten in Vollzeit - bezahlte Arbeit verrichten. Aus alldem ist nur ein Schluss möglich: Wir brauchen für unsere Kinder und Jugendlichen in Deutschland so viel Bildung wie möglich für alle. Bildung für alle darf allerdings nicht in der Hauptschule beginnen; sie muss in der Kinderkrippe beginnen, im Kindergarten und im Hort oder in schulischen Ganztagessettings weitergehen. Diese Erkenntnis von der eminenten Bedeutung der Bildung wurde schon von Renate Schmidt in der rot-grünen Koalition transportiert, unter der Ägide von Ursula von der Leyen ist die Botschaft jetzt auch bei der Bevölkerung angekommen. Das Krippenbauprogramm, aber auch der qualitative und quantitative Ausbau von KiTas und schulischen Angeboten sind richtige Ansätze, um mittelfristig Bildung zu vermitteln und der Ausgrenzung entgegenzuwirken. Entscheidend ist allerdings die Qualität der Umsetzung vor Ort, in den Kommunen und Landkreisen, und wichtig ist auch, dass man über dieser Zukunftsaufgabe diejenigen nicht vergisst oder aufgibt, die heute von der Misere betroffen sind. uj 7+8 (2008) 333 erziehungskatastrophe? Jedem/ jeder einzelnen perspektivlosen AbsolventIn muss nachgegangen werden, mit Maßnahmen, Programmen, Projekten an der Schnittstelle von Agentur, ARGE, Schule und Jugendhilfe. Wir können uns eine Generation (oder auch mehrere Generationen) finanziell und gesellschaftlich nicht leisten, von der 20 % oder mehr ihr Leben lang auf Transferleistungen angewiesen ist. Handlungsfeld Migration und Integration Die Stadt Nürnberg hat bei einer Gesamteinwohnerzahl von ziemlich genau 500.000 einen Ausländeranteil von 17,5 %, dazu kommen noch einmal etwa genau so viele BürgerInnen, die in den letzten Jahrzehnten als deutschstämmige AussiedlerInnen in die Stadt gekommen sind. Das ergibt etwa 35 % oder gut ein Drittel der Mitglieder der Stadtgesellschaft, die einen Migrationshintergrund haben. Bei den Kindern und Jugendlichen ist der Anteil noch größer. Die Zahlen sind zumindest mit den Großstädten der alten Bundesländer vergleichbar, in den neuen Bundesländern ist der Migrationsanteil in den Großstädten deutlich geringer. Allein der große Anteil von MigrantInnen macht deutlich, dass eine gelungene Integration dieser Zuwanderergruppen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe höchster Priorität ist. Auch hier spielt - wie bei der Organisation von Bildung für alle - die „Musik“ vor allem auf der kommunalen Ebene, auch wenn der Bund den notwendigen rechtlichen Rahmen beisteuert. Die Stadtgesellschaft muss sich dieser Aufgabe stellen. Dabei gilt es zunächst, sich über Ziele und Wege in einem breiten Diskurs zu verständigen. Die Ideengeschichte des Umgangs mit ZuwandererInnen ist lang und vielfältig. Sie reicht von der Vorstellung einer bunten, multikulturellen Gesellschaft einerseits bis zur Forderung nach „Assimilierung“ der ZuwandererInnen andererseits. Es muss eine Zieldefinition für das Handeln auf lokaler Ebene entwickelt werden, die für den größten Teil der Einheimischen und der ZuwandererInnen akzeptabel ist und die irgendwo zwischen den o. g. Extremen liegt. Auch über den Weg bzw. die Wege einer örtlichen Integrationspolitik muss eine Verständigung erfolgen. Die Zuständigkeit darf nicht einem Ressort zugeschoben werden (Kultur oder Soziales); sie muss „Chefsache“ sein und von der Stadtspitze als Querschnittsaufgabe definiert werden, deren Koordination möglichst beim Oberbürgermeister liegt. Sehr bewährt hat sich in Nürnberg als politisches Steuerungsgremium eine Integrationskommission aus StadträtInnen und VertreterInnen von Verbänden und Interessensgruppen. Nach diesen grundsätzlichen Bemerkungen komme ich wieder zu den Kindern und Jugendlichen. Das Grundproblem ist, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund von der im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Bildungsproblematik weit überproportional betroffen sind. Bildung für alle heißt also unter dem Blickwinkel der Integrationsaufgabe Bildung für Migrantenkinder. Wir müssen dafür keine neuen Einrichtungen und Angebote erfinden, sondern wir müssen die oben beschriebene Bildungsoffensive für die Kinder der ZuwandererInnen öffnen und - wenn nötig - die Vermittlung von Sprachkompetenz vorschalten oder integrieren. Ein Nebenschauplatz soll hier kurz angesprochen werden: Das Ausländerrecht „bevorzugt“ neue ZuwandererInnen gegenüber den sogenannten „Bestandsaus- 334 uj 7+8 (2008) erziehungskatastrophe? länderInnen“ sowohl bezüglich der Integrationskurse als auch bezüglich der Beratungsmöglichkeiten durch die Migrationsdienste. Das entspricht nicht dem tatsächlichen Bedarf und der tatsächlichen Nachfrage und sollte im Konzept des Innenministeriums und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge noch nachgebessert werden. Handlungsfeld Kinderarmut Das Risiko, mangels Bildung ausgegrenzt zu werden und Armut zu erleben, bezieht sich auf die Zukunft der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Die Armut ihrer Elternhäuser hier und jetzt führt zu aktueller Kinderarmut. Nimmt man die Transferleistungen nach dem SGB II, nach dem SGB III, nach dem SGB XII (Sozialhilfe und Grundsicherung) sowie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zusammen, dann beherbergt die Stadt Nürnberg etwa 70.000 EmpfängerInnen dieser sozialen Sicherungsleistungen in ihren Mauern. Nicht einbezogen sind die „Grenzfälle“, die im alten Sozialhilfesystem als „minderbemittelt“ betrachtet wurden und einmalige Leistungen erhalten konnten. Nimmt man diese als geschätzte Größe dazu, dann sind wir bei knapp 100.000 und damit knapp 20 % der Bewohnerschaft, die von Armut bedroht oder betroffen sind. Auch diese Werte sind keine nürnbergspezifischen Ausreißer, sondern vergleichbar mit anderen Großstädten, das wissen wir aus dem con_sens-Vergleichsring, an dem Nürnberg seit vielen Jahren beteiligt ist.Kinderarmut oder - genauer - das Aufwachsen von Kindern in armen Elternhaushalten hat Auswirkungen, das ist seit Langem bekannt. Ich will hier nur an wenige, aber wichtige Aspekte erinnern: • Armut birgt gesundheitliche Risiken, d. h. arme Kinder sind kränker und öfter fehlernährt als der Durchschnitt; • Armut bedeutet soziale Ausgrenzung in der Gruppe, in der Klasse, in der Peer- Group, was wiederum psychische oder psychosoziale Probleme nach sich ziehen kann; • Armut beeinträchtigt das „Erziehungsklima“ in einer Familie; arme Eltern sind nicht automatisch schlechte Eltern, ganz sicher nicht, aber der Anteil sozial schwacher Familien an den EmpfängerInnen von Hilfe zur Erziehung ist überproportional hoch; • Kinderarmut beinhaltet das Risiko einer lebenslangen prekären Einkommens- und Jobsituation, sprich einer Vererbung der Armut von einer Generation auf die nächste; es entstehen Armutskarrieren und Armutsdynastien. Wir dürfen es uns also nicht einfach machen, indem wir z. B. sagen, aufgrund unserer sozialen Sicherungssysteme gibt es in Deutschland keine offene Armut, sondern allenfalls bekämpfte Armut („Wer arm ist, bekommt Leistungen, und dann ist er nicht mehr arm“); ich bin sehr froh, dass diese im Grunde zynische Argumentation in letzter Zeit mehr und mehr verschwindet und - wenn auch noch oft unausgesprochen - eingeräumt wird, dass wir mit unserer sozialen Sicherung zwar ein Überleben in Armut ermöglichen, nicht aber den Ausgang aus der Armut. Das wird deutlich, wenn man sich den Regelsatz nach dem SGB II für Kinder ansieht: Der Regelsatz beträgt aktuell für Kinder bis zum 14. Lebensjahr E 208,- im Monat, für über 14- Jährige beträgt er E 248,-. Dieser Regelsatz ist nicht auskömmlich, da sind sich inzwischen viele Fachleute einig. Zwei Beispiele mögen das belegen. Der Schulbedarf ist im Warenkorb, der dem Regelsatz zugrunde liegt, überhaupt uj 7+8 (2008) 335 erziehungskatastrophe? nicht enthalten, weil einfach der Warenkorb für Erwachsene linear heruntergekürzt wurde. Der Schuljahresbeginn ist dann auch für die Hilfeempfänger-Familien mit Schulkindern ein großes finanzielles Problem, wenn die Lehrkräfte Papier-, Kopier-, Büchergeld einsammeln und Hefte, Stifte, Schultaschen besorgt werden müssen. Diese Tatsache führte im Herbst 2007 bundesweit zu lokalen und überregionalen Aktionen, Spenden wurden gesammelt, freiwillige kommunale Leistungen ausgereicht, die Wiederaufnahme einmaliger Beihilfen für den Schulbedarf in das Gesetz wurde gefordert. Die richtige Forderung wäre natürlich die nach einer deutlichen Erhöhung des Regelsatzes für Kinder. Das unterstreicht auch das zweite Beispiel: Der Regelsatz von E 208,- im Monat für Kinder enthält nach dem Warenkorb anteilig für den Kauf von Schuhen pro Jahr E 48,72. Wer Kinder hat, weiß, dass sie jährlich mindestens ein Mal aus ihren Schuhen herauswachsen. Das bedeutet, sie benötigen im Frühjahr Hausschuhe, Sandalen, Sportschuhe und Halbschuhe und im Herbst wieder Hausschuhe, Sportschuhe, Halbschuhe und Winterstiefel. Acht Paar Schuhe für 48,72 Euro? Das geht nicht, nicht mal bei den billigsten Discountern. Also ist die Forderung nach einer deutlichen Erhöhung des Regelsatzes für Kinder zu erheben. Diese Forderung richtet sich allerdings an den Bundesgesetzgeber und an das Bundesarbeitsministerium. Bis von dort etwas zu hören ist, kann man an der Basis - in den Kommunen und Landkreisen - nicht unter Verweis auf die fehlende Zuständigkeit untätig bleiben. Wobei es nicht darum gehen kann, einfach durch freiwillige Leistungen der Kommune Lücken auszugleichen, die der Bund geschaffen hat (dazu gehören übrigens auch die Zuzahlungen im Gesundheitswesen, z. B. für Brillen oder Zahnersatz, die in den Budgets der Armen nicht enthalten sind). Man sollte mit den Mitteln der Kommune tätig werden, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie näher bei den Menschen angesiedelt sind, dass sie individueller und bedarfsgerechter ausgestaltet werden können und dass eine Mischung aus finanzieller und pädagogischer Hilfe möglich ist. Zwei Beispiele - wieder aus der Nürnberger Praxis - sollen das illustrieren. Es gibt in der Stadt Nürnberg seit Kurzem einen Stab Armutsprävention, angesiedelt beim Sozialamt, der den Auftrag hat, gemeinsam mit anderen Akteuren Projekte der Armutsprävention zu entwickeln und umzusetzen. Ansatzpunkte sind dafür natürlich wieder die Orte, an denen die Bildung für alle vermittelt werden muss: Kindertagesstätten, Schulen, Freizeiteinrichtungen; aber auch individuelle Ansprache findet statt, z. B. bei einem Projekt zur Energieschuldenprävention, das den Haushalt unter die Lupe von Energieberatern nimmt. Ganz speziell um Kinderchancen geht es beim Nürnberg-Pass (den alle LeistungsempfängerInnen beantragen können): Hier wurden und werden systematisch Leistungen entwickelt, die armen Kindern zugute kommen sollen. Bei Vorlage des Nürnberg- Passes gibt es solche Dinge wie ein Mittagessen in der KiTa für nur einen Euro, einen Zuschuss zum Vereinsbeitrag des Sportvereins, einen Mutter-Kind-Kochkurs in der Schulküche, ein Elterntraining, Eintrittsermäßigungen für viele Orte und Veranstaltungen … Viele Städte haben einen solchen Sozialpass, insofern ist das alles nicht neu. Es ist aber die Frage, wie offensiv man damit umgeht und welche Leistungen - speziell für Kinder - man damit verbindet. Ein Ende der Fahnenstange ist in Nürnberg jedenfalls in der Hinsicht noch nicht erreicht. 336 uj 7+8 (2008) erziehungskatastrophe? Gedanken zum krummen Holze … Bildung, Integration und Armutsbekämpfung sind also wesentliche Handlungsfelder, um Bedingungen für ein gelingendes Aufwachsen unserer Kinder und Jugendlichen zu beeinflussen. Werden diese Handlungsfelder richtig „beackert“, dann muss man das Merten- Zitat „Aus einem krummen Holze lässt sich nichts Gerades zimmern“ gleich dreifach relativieren: • Erstens macht es Sinn, von vorneherein zu verhindern, dass das Holz krumm wächst. Das funktioniert am Besten, wenn man sich schon um den Setzling intensiv kümmert und ihn gut pflegt, z. B. in einer guten Kinderkrippe und in einem guten Kindergarten. • Zweitens stimmt es nicht, dass man aus krummen Hölzern nichts Gerades machen kann - unsere hochqualifizierten SchreinerInnen und Zimmerleute können das sehr wohl, unter Einsatz von Säge, Hobel, Dampf usw. Auch die SozialarbeiterInnen und LehrerInnen müssen ihre Methoden und Ansätze weiterentwickeln, um ihre Hölzer zu begradigen. • Und drittens muss es doch möglich sein, auch für die krumm gebliebenen Hölzer einen sinnvollen Verwendungszweck zu finden. Was als Zaunlatte nicht taugt, kann vielleicht für ein Kind ein tolles Spielzeug sein, weil es wie eine Seeschlange aussieht und außerdem gut schwimmt. Literatur Amt für Stadtforschung und Statistik, 2007: Statistisches Jahrbuch der Stadt Nürnberg für das Jahr 2006. Nürnberg Der Autor Dieter Maly Amt für Existenzsicherung und soziale Integration - Sozialamt der Stadt Nürnberg Dietzstraße 4 90443 Nürnberg dieter.maly@stadt.nuernberg.de
