eJournals unsere jugend 60/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
91
2008
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Von der Mode zur Methode?

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2008
Sabine Behn
Gabriele Bindel-Kögel
In den letzten Jahren ist ein deutlicher Anstieg von Trainings in der Sozialen Arbeit zu verzeichnen. Elterntrainings, Tätertrainings, Mobbing-Opfer-Trainings, Anti-Aggressionstrainings, um nur einige zu nennen, sind oft auch als zertifizierte Produkte zu erwerben oder werden von entsprechenden Fort- und Weiterbildungsinstituten samt Personal angeboten. Und sie werden offenbar auch reichlich genutzt. Warum?
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356 uj 9 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 356 - 360 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Anti-Gewalt-Trainings Von der Mode zur Methode? Kritische Überlegungen zur Qualität von Anti-Gewalt-Trainings Sabine Behn/ Gabriele Bindel-Kögel In den letzten Jahren ist ein deutlicher Anstieg von Trainings in der Sozialen Arbeit zu verzeichnen. Elterntrainings, Tätertrainings, Mobbing-Opfer-Trainings, Anti-Aggressionstrainings, um nur einige zu nennen, sind oft auch als zertifizierte Produkte zu erwerben oder werden von entsprechenden Fort- und Weiterbildungsinstituten samt Personal angeboten. Und sie werden offenbar auch reichlich genutzt. Warum? Zum einen bieten Trainingskurse unterschiedlicher Couleur Problemlösungen für überforderte ErzieherInnen oder LehrerInnen, auf der anderen Seiten entsteht ein neuer Markt z. T. privater Sozialbranchen mit Arbeitsplätzen wiederum für (Sozial)PädagogInnen und PsychologInnen, während Angebote wie Supervision und Organisationsentwicklung, Qualitätsmanagement, Personal- oder Teamentwicklung bereits einen gewissen Sättigungsgrad erreicht bzw. ein Stück weit Entzauberung erfahren haben. Dass die unterschiedlichen Trainingsangebote nun zunehmend auch Bedingungen wie kulturelle Herkunft und Gender berücksichtigen, ist Zeichen ihrer weiteren Professionalisierung, auch ihrer Abstimmung auf Nachfragen aus der Praxis. Deutlich wird, es gibt wechselnde Moden in den Methoden der Sozialen Arbeit (vgl. Kreft 2004), und es gibt zunehmende Konkurrenzen unter den Anbietern in der Kinder- und Jugendhilfe, auch angestoßen durch die im Jahre 1999 in Kraft getretenen Neuregelungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz (vgl. Münder u. a. 2006, 895ff). Der Kinder- und Jugendhilfe werden seither Leistungs- und Entgeltvereinbarungen abverlangt, es sind Qualitätsentwicklungen nachzuweisen, die auch Chancen einer Weiterentwicklung, einer Legitimation der Arbeit oder besser fundierte Planungen eröffnen. Auch Schulen geraten im Zuge der Einführung neuer Schulgesetze in den Bundesländern seit einigen Jahren unter Sabine Behn, M. A. Jg. 1960; Geschäftsführerin von Camino gGmbH Dr. Gabriele Bindel-Kögel Jg. 1954; Diplom- Pädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin uj 9 (2008) 357 Anti-Gewalt-Trainings Druck, Leitbild- und Qualitätsdiskussionen zu führen und die Wirkung ihrer Bildungsarbeit zu überprüfen. In diesem neuen Feld der Erfolgs- und Wirkungsorientierung in Kinder-, Jugendhilfe und Schule sind fertig entwickelte Konzepte oder „Produkte“, wie etwa Trainingskurse, sehr gefragt, sie kommen mit ihrer verhaltenstheoretischen Ausrichtung diesem Trend unmittelbar entgegen: (Fast) jedes Verhalten gilt als gelernt und kann aus diesem Grund wiederum „abtrainiert“ werden, sofern es als falsch oder etwa störend diagnostiziert wurde. Die verhaltenspsychologische Forschung und Therapie belegt seit langem die entsprechenden Erfolge (vgl. Margraf 2000). Das „richtige“ Verhalten ist erlernbar und - und gelerntes Verhalten kann anschließend abgefragt und Wirkung direkt überprüft werden. Ein kritischer Blick auf diese Art der Aneignung neuen Verhaltens darf schon sein: Aus eigenen schulischen Erfahrungen ist bekannt, dass schnell erworbenes „Rucksackwissen“ kurz vor der Prüfung zwar zum Erfolg führte, kurze Zeit später aber nicht mehr parat war - gut bekannt auch als Trichtermodell des Lernens (in Anlehnung an den „Nürnberger Trichter“, bei dem Stoff lediglich eingetrichtert wird). Hier also ein erster Einwand gegenüber Trainings, die nicht ganzheitlich ausgerichtet sind, und ein altbekanntes Problem verhaltenstheoretisch begründeter Konzepte (vgl. Blöschl 1974, 51): Gelingt der Transfer des neu gelernten Verhaltens in den Alltag? Wie nachhaltig sind die Wirkungen bzw. verpuffen sie nach kurzer Zeit? Schwieriger als die Aneignung neuen Wissens ist das Abtrainieren von Verhalten, das sich im eigenen Milieu - zumindest aus persönlicher Sicht - als erfolgreich erwiesen hat. Damit ist ein weiteres Problem angesprochen: Hinter Verhalten stehen immer auch Einstellungen, Motive und (Selbstwert-)Gefühle. Es geht nicht nur um die Veränderung eines bestimmten Verhaltens, sondern auch darum, dass sich dieses neue Verhalten emotional verankern und im eigenen Umfeld immer neu bewähren und selbst verstärken kann (vgl. Altenberger/ Schettgen/ Scholz 2003). Dabei gerät das Trainingskonzept alleine oft an seine Grenzen: Wie sollen Veränderungen nachhaltig wirken, wenn sich das Milieu, die Familie oder Lebenswelt der Jugendlichen nicht ändern? Hier kann es ist erforderlich sein, mit Institutionen und Fächkräften der Sozialen Arbeit, die in der Lebenswelt der KlientInnen tätig sind, zusammenzuarbeiten und gemeinsam Konzepte zu entwickeln, wie der Transfer in den Alltag gelingen kann. Bezogen auf einen jugendlichen Teilnehmer an einem Anti-Gewalt-Training kann das beispielsweise bedeuten, ihn aus seiner (gewaltorientierten) Clique herauszulösen und in eine andere Peergroup zu integrieren. Zwar stellt die Orientierung an ihrer Clique bei vielen Jugendlichen einen wichtigen Bestandteil ihres Selbstbildes und ihrer Identität dar; wenn jedoch aus der Gruppe heraus gewalttätig agiert wird oder Straftaten begangen werden, sind Interventionen wie z. B. Anti- Gewalt-Trainings wirksamer, wenn sie mit der Herauslösung des Jugendlichen aus seiner Gruppe einhergehen - so die Einschätzung vieler Anti-Gewalt-TrainerInnen. Hier wird deutlich, dass während und insbesondere im Nachgang zu den Trainings bestimmte Prozesse angeregt und begleitet werden (müssen), die weit über das Training hinausgehen und die am besten in engem Zusammenspiel mit anderen Einrichtungen im sozialen und schulischen und auch Freizeitbereich funktionieren können. Ein besonderer Vorteil von Trainingskursen ist sicherlich deren flexibler, kurzzeitiger problemlösungsorientierter Einsatz. Kann aber nach Abschluss das Problem als erledigt gelten? Wenn keine 358 uj 9 (2008) Anti-Gewalt-Trainings Strukturen bestehen, die eingeübten Verhaltensweisen zu üben und erfolgreich weiterhin umzusetzen, dürfte der Erfolg begrenzt sein. Von der Mode zur Methode, d. h. eine Anwendung von Trainings in professionellem Rahmen fokussiert die Lebensbedingungen und Lernformen der Zielgruppen, für die der Kurs gedacht ist: Aus welchem Milieu kommen sie, welche Rolle spielen Herkunft, Kultur, Bildungsstand und Geschlecht? Welche Werte sind besonders hoch angesehen und können als Verstärker dienen? Ein qualitativ gut entwickeltes Training bezieht neben den zielgruppenspezifischen Bedingungen auch Methoden der Gruppenarbeit und Erkenntnisse über gruppendynamische Prozesse ein, die als Tradition in der Sozialen Arbeit gelten können. Hier stellen sich Fragen etwa zur Gruppengröße, zu Anzahl und Geschlecht der TrainerInnen. Sollte die Gruppe eher heterogen oder homogen sein, wie wirken sich gemischtgeschlechtliche Gruppen oder auch Gruppen von Personen mit unterschiedlichem Bildungsniveau aus? Dass gerade aufgrund der Zusammensetzung der Gruppe Anti-Gewalt-Trainings scheitern können, davon berichtet eindrücklich Kerstin Palloks (2006). Eher gegenteilige Wirkungen werden erreicht, wenn innerhalb eines Trainings potenzielle Opfer sich in der Opferrolle wieder finden und rechtsorientierte Jugendliche in ihren Verhaltensweisen indirekt bestärkt werden. Ein weiteres Diskussionsfeld eröffnet sich bei Betrachtung des angenommenen Bedarfs an Trainings. Der entspricht zwar nicht immer der Wirklichkeit, erweist sich aber als günstig für die Vermarktung: Da begründet eine sogenannte Erziehungskatastrophe in Deutschland das „Wundermittel“ Elterntraining; Soziale-Kompetenz-Trainings und Konfliktbewältigungstrainings versprechen Lösungen für einen aufreibenden Schulalltag mit Kindern/ Jugendlichen, die schwer zu bändigen sind. Es zeigt sich: Wo ein Angebot ist, da ist auch Nachfrage (erzeugt) - nicht immer zum Vorteil der KlientInnen, zumal wenn es sich um Kinder und Jugendliche handelt, die sich solche Trainings nicht freiwillig aussuchen. Auf der anderen Seite kommt hier auch die Hilflosigkeit vieler PädagogInnen in Schulen oder den Einrichtungen Sozialer Arbeit zum Ausdruck, wenn es um die Arbeit mit einer schwierigen Klientel geht. So werden Anti-Aggressivitäts- oder Anti- Gewalt-Trainings zum Rettungsanker beim Umgang mit aggressiven Jugendlichen schon in der Schule: Jeder Anbieter solcher Trainings kennt wohl die Anrufe verzweifelter LehrerInnen, die einige „auffällige“, „störende“ SchülerInnen in ihrer Klasse haben und ihre Hoffnung auf ein Anti- Aggressivitäts-Training für die ganze Klasse setzen, ohne zu berücksichtigen, dass dieses Konzept für eine ganz bestimmte Zielgruppe - Jugendliche in Strafanstalten - entwickelt und erprobt wurde und mitnichten auf ganze Klassen anzuwenden ist. Der Bedarf nach speziellen TrainerInnen und Trainingsprogrammen zeugt somit auch davon, dass SozialpädagogInnen, ErzieherInnen, LehrerInnen in ihrer aktuellen Ausbildung nur wenig befähigt werden, mit schwierigen und aggressiven Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Eine professionelle Ausführung solcher Trainings umfasst eine begründete Auswahl und den Nachweis entsprechender Kriterien, um ein etwaiges Labeling oder eine Stigmatisierung Jugendlicher zu vermeiden. Es geht um die Entwicklung eines zielgenauen Angebotes: Handelt es sich tatsächlich um ein Maß von Aggression, sodass ein solches Training Sinn macht, und für wen genau? Ist ein Gruppenangebot für diese auffälligen Jugendlichen uj 9 (2008) 359 Anti-Gewalt-Trainings das Richtige oder sollte einer Einzelfallhilfe der Vorzug gegeben werden? Bestehen Multiproblemkonstellationen, sodass möglicherweise andere Angebote aus dem Bereich der Hilfen zur Erziehung sinnvoller sind? Der Kontext, in dem solch ein Programm zur Anwendung kommt, muss überdacht sein: Gibt es einen begründeten Bedarf, der die Anwendung des Trainings pädagogisch sinnvoll macht, und hat das Training im Kontext der Durchführung tatsächlich Chancen auf Erfolge? Auch hier wird deutlich, dass die Einbettung von Trainings in ein weit gefächertes Angebotsspektrum Sozialer Arbeit sinnvoll ist und die Passgenauigkeit erhöht. Der Sprung von der Mode zur Methode liegt folglich in der Reflexion der äußeren Bedingungen und Strukturen. Wenn diese sich nicht ändern, kann auch das beste Training nur Teilerfolge erzielen. Angesichts von strukturell induzierten Problemlagen ist die Nachfrage nach Trainings nachvollziehbar, allein, man fragt sich, ob Trainings für solche Situationen tatsächlich angemessen sind oder nicht ganz andere Methoden der Sozialen Arbeit greifen sollten. Auf dem Weg von der Mode zur Methode müsste also auch die Frage beantwortet werden, ob eine kurzfristige Intervention tatsächlich ausreicht oder ob mittelfristig strukturelle Mängel behoben werden müssen, um damit z. B. erhöhten Aggressionen von Kindern präventiv zu begegnen. Es gibt sie: Jugendliche, die mit gewalttätigem und gefährlichem Verhalten ihre Interessen gegenüber anderen rücksichtslos durchsetzen, regelmäßig zum Nachteil Gleichaltriger agieren und deren Verletzungen und Schädigungen zumindest billigend in Kauf nehmen bzw. als persönliche Aufwertung erfahren. Trainingskurse, die darauf abzielen, aggressive und gewalttätige 2004. 136 Seiten. Zahlr. Übungen u. Abb. (978-3-497-01727-0) kt Berichte über gewalttätige Ausschreitungen unter Schülern oder gegen Lehrkräfte machen Lehrer und Eltern rat- und hilflos. Hier setzt das Training „Komm, wir finden eine Lösung! “ des Münchner KinderschutzBundes präventiv ein: In vier bis fünf Trainingseinheiten à zwei Schulstunden entwickeln Sozialpädagogen und Psychologen mit den Kindern Lösungsstrategien für Konfliktsituationen. Das Buch bietet alle wichtigen Informationen zum Training und dessen Ablauf. Das separat erhältliche Arbeitsheft für Kinder (978-3-497-01728 -7) enthält alle Vorlagen, die während des Trainings für Spiele, Fragebögen, Partner- und Gruppenübungen benötigt werden, inklusive der vierfarbigen Urkunde für das bestandene Training. a www.reinhardt-verlag.de 360 uj 9 (2008) Anti-Gewalt-Trainings Verhaltensweisen abzubauen, sind für einen Teil dieser Jugendlichen selbstverständlich sinnvoll bzw. ein pädagogisches Mittel, dessen Einsatz es auch in diesen Fällen abzuwägen gilt. Aber eben nur für einen Teil von ihnen und nur unter bestimmten Bedingungen. Zur genaueren Bestimmung von Bedingungen, unter denen z. B. ein Anti-Gewalt- Training für Jugendliche sinnvoll ist, und von Kriterien zur Definition der Zielgruppe gehören unter anderem Genderfaktoren. Dabei meint Gender nicht die einfache Einteilung in Gruppen für Mädchen und Jungen. Geschlechtshomogene Gruppen machen noch keine genderorientierte Arbeit aus, und auch in gemischtgeschlechtlichen Gruppen können Genderaspekte gegebenenfalls bewusst genutzt werden. Solche Fragestellungen werden bisher eher wenig reflektiert, obwohl sie - wie die Ansätze genderbewusster Trainings zeigen - bei der Behandlung von Themen wie Autoaggression, Opfererfahrung oder Formen und Kontexte der Gewaltanwendung eine gewichtige Rolle spielen. Hier ist zu wünschen, dass sich die Grundgedanken des Gender Mainstreaming - zu prüfen, inwieweit Angebote auf Lebenslagen, Bedürfnisse und geschlechtstypische Prägungen von Jungen und Mädchen eingehen - künftig noch stärker durchsetzen. Literatur Altenberger, H./ Schettgen, P./ Scholz, M., 2003: Innovative Ansätze konstruktiven Lernens. Augsburg Blöschl, L., 1974: Grundlagen und Methoden der Verhaltenstherapie. Bern/ Stuttgart/ Wien Kreft, D., 2004: Moden, Trends und Handlungsorientierungen in der Sozialen Arbeit seit 1945. www.stiftung-spi.de/ download/ stiftung/ wohl fahrtspflege/ kreft.pdf, 25. 6. 2008, 22 Seiten Margraf, J., 2000: Lehrbuch der Verhaltenstherapie 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen. Berlin Münder, J. u. a., 5 2006: Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim/ München Palloks, K., 2006: Cool sein auf Kommando? Konfrontative Pädagogik in der Praxis. In: Unsere Jugend, 58. Jg., H. 4, S. 158 - 170 Die Autorinnen Sabine Behn Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH Scharnhorststraße 5 10115 Berlin sabinebehn@camino-werkstatt.de Dr. Gabriele Bindel-Kögel TU Berlin - Fakultät 1 Geisteswissenschaften Sekretariat FR 4 -7 Franklinstraße 28/ 29 10587 Berlin mail@gabibindel.de