eJournals unsere jugend 60/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Gender inklusive - der geschlechtsbewusste Ansatz im TESYA-Trainingskonzept zum Umgang mit Aggressionen

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2008
Uli Streib-Brzi?
Lars Schäfer
Jungen und Mädchen zeigen in unterschiedlichen Kontexten aggressives Verhalten, und wenn sie aggressiv auffällig (re)agieren, erfahren sie unterschiedliche Bewertungen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir die TESYA-Trainings zum Umgang mit Aggressionen für Mädchen und Jungen in geschlechtsgetrennten Settings durchführen.
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382 uj 9 (2008) Unsere Jugend, 60. Jg., S. 382 - 388 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Anti-Gewalt-Trainings Gender inklusive - der geschlechtsbewusste Ansatz im TESYA-Trainingskonzept zum Umgang mit Aggressionen Uli Streib-Brzicˇ/ Lars Schäfer Jungen und Mädchen zeigen in unterschiedlichen Kontexten aggressives Verhalten, und wenn sie aggressiv auffällig (re)agieren, erfahren sie unterschiedliche Bewertungen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir die TESYA-Trainings zum Umgang mit Aggressionen für Mädchen und Jungen in geschlechtsgetrennten Settings durchführen. „Und, sind da auch Jungs? “, fragt Chantal, eine Jugendliche, die sich für das Training zum Umgang mit Aggressionen beworben hat und mit der ich (U. St.-B.) ein erstes Vorgespräch führe. „Nein“, erkläre ich, „wir arbeiten mit Mädchen und Jungen in getrennten Trainings. Fändest du es denn gut, wenn auch Jungen dabei wären? “ Chantal zuckt erst die Schultern und schüttelt dann mit dem Kopf. „Nein, mir ist es lieber, wenn da nur Mädchen sind.“ Es fiele ihr wahrscheinlich leichter, über sich zu sprechen, sagt sie, sie sei sowieso nicht sicher, ob sie sich überhaupt traue, vor der Gruppe zu sprechen, und wenn Jungs dabei wären, könne sie das bestimmt nicht. Ob sie eine Idee habe, frage ich Chantal noch, weshalb wir Trainings für Jungen und Trainings für Mädchen anbieten. Chantal überlegt kurz. „Wahrscheinlich“, meint sie schließlich, „ist es deshalb, weil sich Jungs wegen wichtiger Sachen schlagen. Mädchen zicken ja nur wegen Kleinigkeiten rum, zum Beispiel geht es da darum, wer wem den Freund ausspannt oder wenn irgendeine Schlampe auf der Straße sagt, ich hätte sie blöd angeguckt.“ Auch Maher stellt mir (L. S.) im Vorgespräch die Frage, wie viele Jugendliche einen Platz bekämen und ob auch Mädchen dabei seien. Auf meine Frage, wie er es fände, wenn Mädchen mit am Training teilnähmen, blitzt es in seinen Augen kurz auf, dann lächelt er verlegen. „Na ja, wenn Mädchen dabei wären, das wär’ schon ganz okay, da kann man dann jemanden kennenlernen.“ Diese kurzen Sequenzen aus den Gesprächen mit Chantal und Maher machen einige Aspekte deutlich, die uns dazu gebracht haben, die TESYA-Trainings in geschlechtshomogenen Settings durchzuführen, und die wir als Standards der TESYA- Trainings formuliert haben. Bevor wir dies ausführlicher darstellen, werden wir zunächst das TESYA-Trainingskonzept kurz skizzieren. Das Trainingskonzept TESYA ist ein Akronym und bedeutet: Training, Empowerment, Support for Youth and Adults - es ist der Name eines EU-geförderten Projektes, in dessen Rahmen wir das Einzel- und Gruppentrainingskonzept für gewalttätig handelnde Jugendliche entwickelt haben. In Berlin uj 9 (2008) 383 Anti-Gewalt-Trainings sind die TESYA-Trainings zum Umgang mit Aggressionen - ein Titel, mit dem wir zeigen, dass es nicht darum geht, Aggressionen zu bekämpfen oder gar zu eliminieren, sondern sie konstruktiv umzuwandeln und für sich zu nutzen - sehr gut nachgefragt. Sie wurden mittlerweile von den Jugendämtern in das Leistungsangebot aufgenommen. Zielgruppe Das Training richtet sich an männliche und weibliche Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 24 Jahren, die verbal und oder physisch stark aggressiv gegenüber anderen Personen (re)agieren oder Sachbeschädigungen verüben, jedoch noch nicht straffällig geworden sind. Die Jugendlichen kommen in der Regel nicht auf Eigeninitiative. Meistens werden sie durch PädagogInnen der Schule, die Ausbildungsleitung, BezugserzieherInnen der betreuten Wohneinrichtung, ihre Eltern oder auch die Diversionsvermittlung der Polizei auf unser Angebot hingewiesen, wobei dies als Empfehlung, meistens aber als Auflage der jeweiligen Institution bzw. der Familie formuliert wird. Rahmen und Themen Das TESYA-Trainingskonzept orientiert sich an systemischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen und bezieht konfrontative Elemente mit ein. Allerdings setzen wir konfrontative Interventionen - beispielsweise bei der Aufarbeitung der konflikthaften Situationen - konsequent demütigungsfrei ein und messen dem wertschätzenden und respektvollen Umgang mit den TeilnehmerInnen eine hohe Priorität bei. Damit unterscheidet sich das TESYA-Training ganz grundlegend vom sogenannten AAT © , dem Anti-Aggressivitäts-Trainingsansatz. Die Einzeltrainings umfassen zehn wöchentliche Sitzungen à 75 bis 90 Minuten. Die Gruppentrainings sind auf 16 Sitzungen à 2,5 Stunden angelegt, die ebenfalls einmal in der Woche stattfinden. Die Eltern oder BetreuerInnen der teilnehmenden Jugendlichen werden bereits beim ersten Vorgespräch einbezogen. Eine „Familiensitzung“ findet in der zweiten Trainingshälfte statt. Hier erhalten die TeilnehmerInnen die Möglichkeit, zusammen mit dem Bezugssystem ihren Veränderungsprozess zu reflektieren. Eltern erhalten zusätzlich auf Wunsch bis zu drei Sitzungen Einzelcoaching. In den TESYA-Trainings stehen folgende Themen im Vordergrund: • Analyse und Aufarbeitung der Taten bzw. der konflikthaften Situationen • Reflexion der Einstellung zu Gewalt und Aggression • Identifikation der Aggressionsauslöser • Biografiearbeit • Thematisierung der eigenen Gewalterfahrungen • Steuerung von Impulsen (Ärgermanagement) • Entwicklung und Verstärkung sozialer Kompetenzen • Entwicklung eigener Ziele und Zukunftspläne. Methoden Zur Bearbeitung der Themen wenden wir unterschiedliche Methoden an. Wir setzen Rollenspiele ein, die wir teilweise auf Video festhalten, um alte Handlungsmuster zu reflektieren und neue zu Uli Streib-Brzicˇ Jg. 1959; Soziologin, Mediatorin, Antigewalttrainerin, Systemische Therapeutin und Beraterin (SG) Lars Schäfer Jg. 1964; Sozialpädagoge, Mediator, Antigewalttrainer, Supervisor und Organisationsentwickler (SG) 384 uj 9 (2008) Anti-Gewalt-Trainings entwickeln bzw. zu testen, bieten Methoden des Kreativen Schreibens an, um auf die Woche zurückzuschauen oder einen Blick in die Zukunft zu wagen, arbeiten mit systemischen Aufstellungsmethoden, um Perspektivenübernahme und Empathie zu trainieren. Täter-Opfer-Aufstellungen, die im Gruppentraining mit Repräsentanten, im Einzeltraining mit Symbolen erfolgen, sind ein sehr geeignetes Instrument, um mit Jugendlichen die eigene Täterschaft wie auch die Rolle der MittäterInnen nachzuvollziehen und sich auch in die Perspektive des Opfers einzufühlen. Zur Steuerung von Impulsen werden gemeinsam mit den Teilnehmerinnen passende Strategien entwickelt, z. B. Entspannungs- und Atemtechniken, innere Bilder, wie beispielsweise die sogenannte „Stoppkarte“, und Selbstsuggestionen. Das Curriculum der TESYA-Trainings dient in beiden Trainingssettings, sowohl den Einzelals auch den Gruppentrainings, in den Trainings mit Jungen sowie in den Trainings mit Mädchen, als Orientierung. Unser Arbeitsansatz ist dabei ausdrücklich prozessorientiert. Neben dem Curriculum, das uns als strukturierender Rahmen dient, ist uns jedoch wichtig, dass den Themen und Anliegen, die die Jugendlichen selbst in die jeweilige Sitzung einbringen, Raum und Bedeutung zugemessen werden. Dies erfordert von den TrainerInnen ein hohes Maß an Flexibilität und gleichzeitig Fingerspitzengefühl für die Prioritätensetzung. Geschlechtsbewusste Themenbearbeitung Die TESYA-Trainings für Jungen und Mädchen unterscheiden sich damit nicht oder nur geringfügig in ihrem thematischen Aufbau. Das Spezifische, das die TESYA-Trainings in geschlechtshomogenen Gruppen bieten, besteht vielmehr darin, dass sie den Jugendlichen selbst durch das vorgegebene Setting die Möglichkeit eröffnen, Themen, die möglicherweise schambesetzt sind, anzusprechen, „heiße Eisen“, die Mut erfordern, zu bearbeiten - und dazu gehört auch, tradierte Männer- und Frauenbilder als normatives Gerüst des eigenen Lebensentwurfs zu überdenken. Wir bieten den TeilnehmerInnen durch das geschlechtshomogene Setting einen geschützten Rahmen, in dem sie sich ernst genommen fühlen können, in dem wir eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen, einen Raum, in dem sie sich nicht in Konkurrenzen begeben müssen, wie es Situationen, die durch sexuelle Attraktionen aufgeladen sind, provozieren. Diese Themen, die unserer Meinung nach ausschließlich in einer geschlechtshomogenen Trainingsgruppe angemessen - d. h. für Jungen wie Mädchen gleichermaßen gewinnbringend - bearbeitet werden können, sind im Folgenden dargestellt. 1. Jungen und Mädchen wenden unterschiedliche Formen von Gewalt an. Nachweislich erleben Mädchen und Jungen ebenso viele aggressive Impulse (Mansel/ Hurrelmann 1991), agieren allerdings Wut und Aggression unterschiedlich aus. So zeigt die Polizeiliche Kriminalstatistik der letzten Jahre, dass bei der Gruppe der 14bis 18-jährigen Jugendlichen Jungen zu über 80 %, Mädchen jedoch zu knapp 20 % an gefährlichen Körperverletzungsdelikten beteiligt sind. Weitaus mehr Mädchen als Jungen greifen zu internalisierenden, autoaggressiven Bewältigungsstrategien, indem sie beispielsweise Essstörungen oder Depressionen entwickeln, selbstverletzendes Verhalten zeigen oder Suizidversuche verüben. Jungen dagegen äußern ihre Aggressionen tendenziell externalisierend, und zwar indem sie alleine oder häufiger als Mädchen in Gruppen offen verbal und köruj 9 (2008) 385 Anti-Gewalt-Trainings perlich gewalttätig werden. Ebenso sind Mobbing und Bullying häufige von Jungen eingesetzte Gewaltformen. Wenn Mädchen externalisierende Gewalt ausüben, wählen sie häufig Handlungen, die weniger offensichtlich und nachweisbar sind, sogenannte verdeckte Formen von Gewalt. Sehr oft sind sie dem Bereich der relationalen, d. h. auf Beziehungen und Freundschaften bezogenen Gewalt zuzuordnen. Mädchen agieren hier mit psychischer und verbaler Gewalt, die darauf abzielt, das Ansehen der anderen Person zu schädigen (Ittel/ von Salisch 2005). Die Opfer von Jungengewalt sind zumeist andere Jungen, von sexualisierten Gewalthandlungen durch Jungen sind vorwiegend Mädchen, in kleinerem Umfang auch gleichaltrige oder jüngere Jungen betroffen. Mädchen dagegen werden meistens gegenüber anderen Mädchen gewalttätig. Bei Mädchen ist ein häufiger Konfliktfall der, den Chantal benannt hat: die vor kurzem noch beste Freundin, die nun ausgegrenzt, gemobbt oder auch krankenhausreif geschlagen wird, vielleicht weil sie mit ihr um denselben Jungen konkurriert, vielleicht aber auch, weil sie sich eine andere beste Freundin gewählt oder einer neuen Freundinnenclique zugewandt hat. Die Konfliktthemen der Jungen kreisen um Provokationen, die häufig mit den Bedeutungskonstruktionen Ehre und Respekt aufgeladen sind, es geht um die Sicherung ihres Status in der Clique, und nicht zuletzt sind männliche Gewalthandlungen auch oft eine Suche nach dem „Kick“ und ein Versuch, sich in die vorgefundenen Männlichkeitsbilder einzuordnen. 2. Gewalthandlungen von Jungen und Gewalthandlungen von Mädchen erfahren unterschiedliche Bewertungen. Jungen bewegen sich in den vorgegebenen Geschlechtsrollenmustern, wenn sie Gewalt anwenden, bei Mädchen dagegen wird dasselbe Verhalten als ein „Aus-der-Rolle- Fallen“ gesehen und damit früher als therapiebedürftig eingestuft. Offen ausgedrückte Aggressionen werden bei Mädchen und Frauen vom sozialen Umfeld schneller als unpassend wahrgenommen und damit früher mit Sanktionen belegt, als dies bei Jungen geschieht (Campbell 1995; Pfeiffer 1998). Drücken Mädchen Ärger aus oder äußern sie ihre Wut, begegnen ihnen Abwertungen, sie werden entweder lächerlich gemacht („wie süß du aussiehst, wenn du wütend bist“, „Zickenalarm“), oder ihre aggressive Handlung wird als Kontrollverlust bezeichnet, pathologisiert („sie reagiert gleich so hysterisch“) oder aber in den Bereich der Verwahrlosung verwiesen („asoziale Schlägerbraut“, „Gewaltelse“). Jungen dagegen wird aggressives Verhalten bis zu einem bestimmten Maß zugestanden, weil es als männliche Durchsetzungsfähigkeit und Stärke soziale Anerkennung erfährt. Diese Bewunderung männlicher Gewalthandlungen wird auch in Chantals Äußerung deutlich, wenn sie sagt: „Jungen schlagen sich wegen wichtiger Sachen.“ Chantals Statement zeigt aber auch, dass sie sowohl die Abwertungen, die sie als gewalttätig agierendes Mädchen erhält, als auch die Aufwertungen männlicher Gewalttätigkeit, die ihr begegnen, reproduziert, wenn sie sagt: „Mädchen zicken nur wegen Kleinigkeiten rum.“ Maher würde ihr höchstwahrscheinlich zustimmen und noch anfügen, dass es sich für ein Mädchen ohnehin nicht gehört, dass sie sich schlägt. Diese tief verankerten Bewertungsmuster und habituellen Ordnungsmodelle (Bourdieu 2002) lassen sich - und zwar zum Vorteil von beiden Geschlechtern - effektiver in getrenntgeschlechtlichen Gruppen bearbeiten, weil die Jungen auf frauenabwertende Selbstinszenierungen verzichten und von den Trainern mit ihrer Haltung konfrontiert werden können 386 uj 9 (2008) Anti-Gewalt-Trainings und ebenso Mädchen im Training den Raum haben, „ohne Geländer zu denken“, und dazu gelangen, eigene Überzeugungen zu überprüfen. 3. Mädchen und Jungen differieren nicht nur in der Gewaltausübung, sondern auch in ihren Opfererfahrungen. Die selbst erlebte Gewalt, die eigenen Opfererfahrungen zu thematisieren, sind wichtige Bestandteile des TESYA-Trainings, weil sie dazu beitragen, die eigene Gewaltkarriere nachzuvollziehen. Somit stellen sie Schlüssel dafür dar, Empathie für das Opfer zu empfinden. Selbst Opfer geworden zu sein, kann als tiefe Verwundung der Integrität empfunden werden und traumatisierend wirken. Um sich selbst den belastenden Bildern nicht auszusetzen, wird die Erfahrung häufig abgespalten, „vergessen“ oder aber in ein Täterintrojekt verwandelt, das sich in der selbstabwertenden Haltung, die Gewalt selbstverschuldet und „verdient“ zu haben, niederschlägt (Reddemann 2007). Für mehr Jungen als für Mädchen sind Erfahrungen körperlicher Gewalt in der Familie Anlass für eine „epiphanische Erfahrung“, wenn sie zu irgendeinem Zeitpunkt aus der Ohnmacht heraustreten und selbst beginnen, Gewalt auszuüben, um damit Selbstwirksamkeit und Macht wiederzuerlangen (Sutterlüty 2002). Viele Jungen und Mädchen, die in unseren Trainings sind, erlebten oder erleben von Vätern oder Müttern körperliche oder psychische Gewalt, auch in Form von Vernachlässigung. Immer wieder berichten Trainingsteilnehmerinnen, dass sie aktuell von ihrem Freund, was ihre Kleiderwahl und ihren Bewegungsradius betrifft, reglementiert werden, und auch davon, dass sie regelmäßig von ihm geschlagen werden. Jungen dagegen werden häufiger Opfer von Körperverletzungen durch andere männliche Jugendliche. Von sexualisierter Gewalt sind weitaus mehr Mädchen als Jungen betroffen, ungefähr dreimal häufiger als Jungen. Diese sehr unterschiedlichen Opfererfahrungen und die damit verbundenen Abwehrstrategien erfordern eine sensible Bearbeitung durch die TrainerInnen, eine Atmosphäre gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens in der Gruppe und damit einen gesicherten geschützten Rahmen für jede und jeden Jugendlichen. Jungen, für die die Opferrolle gesellschaftlich nicht vorgesehen ist und die sie demzufolge für sich noch viel weniger akzeptieren können als Mädchen, gelingt es in einer reinen Jungengruppe eher, sich diese Seite der Hilflosigkeit und Angst anzuschauen und als Teil von sich zu akzeptieren. Sind Mädchen anwesend, fühlen sie sich in der Regel veranlasst, sich in Konkurrenz mit den anderen anwesenden Jungen zu begeben, und sind im Zuge dessen bemüht, ihre schwachen, verletzlichen Seiten zu verbergen. Für ein Mädchen, das in einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe über ihre Gewalterfahrungen durch ihren Freund berichtet, besteht die Gefahr, dass sich die anderen männlichen Gruppenteilnehmer offen oder heimlich mit dem Täter solidarisieren und sie dadurch erneut zum Opfer wird. 4. Mädchen und Jungen soll Raum zur Verfügung gestellt werden, sich in ihrem Geschlechterrollenverhalten zu reflektieren und es vielleicht auch ein Stück weit neu zu (er)finden. Geschlechtsrollenreflexion sollte unserer Erfahrung nach als Querschnittsthema den gesamten Trainingsprozess durchziehen. Es hängt von der Haltung, der Sensibilität, der Bereitschaft und dem gendersensiblen Bewusstsein der TrainerInnen ab, das Thema in geeigneten Momenten aufzugreifen uj 9 (2008) 387 Anti-Gewalt-Trainings und durch Fragen und eigene Positionierungen Einstellungen, die fest verankert scheinen, zumindest zu irritieren. Sehr oft geht es auch darum zu entdecken, dass die vielleicht äußerst rigide formulierten Männlichkeits- oder Weiblichkeitsbilder nicht mit der Lebensrealität des oder der Jugendlichen übereinstimmen. Hier könnte es darum gehen, der Vielstimmigkeit, die sich oftmals hinter vermeintlich starren Lebensentwürfen verbirgt, Raum zu geben, sich zu entfalten und auch kritische und aufmüpfige Anteile zu würdigen und zu stärken (Böhnisch/ Funk 2002). Geschlechterrollen, das Eingewiesensein in männliche und weibliche Sozialisation dient Jugendlichen gerade in der Pubertät, wenn sie dabei sind, ihre Identität neu zu entwerfen, als Ordnungsmodell und Orientierung. Die innere existenzielle Seite des männlichen und weiblichen Habitus muss zunächst Wertschätzung erfahren und in ihrer Bedeutung für die oder den jeweiligen Jugendlichen erfasst werden, bevor Neuorientierungen eingeführt werden können. „Ich bin doch nicht schwul“ - in dieser von Jungen oft formulierten Aussage wird die Angst der Jungen sichtbar, als unmännlich zu gelten, nicht als (heterosexueller) Mann zu funktionieren und damit in den Bereich der abgewerteten Weiblichkeit geraten zu sein. Sie ist natürlich auch eine Aussage über die Frage der sexuellen Identität, in ihr drückt sich Angst wie auch Neugier aus. Auf jeden Fall kann sie als Möglichkeit genutzt werden, das Thema sexuelle Identitäten, heterosexuelle und homosexuelle Lebensentwürfe und männliche Sexualität aufzugreifen. A ber können, so lautet ein Argument, das wir sehr oft hören, geschlechtssensible pädagogische Interventionen nicht ebenso wirkungsvoller oder womöglich noch viel effektiver in gemischtgeschlechtlichen Gruppen erfolgen? Sollte ein Training zum Umgang mit Aggressionen nicht gerade den Anspruch haben, Mädchen und Jungen gemeinsam zu einem respektvollen Umgang miteinander anzuregen, und dafür den Gruppenprozess nutzen, diesen Umgang zu trainieren? Gendersensible Ansätze sind in allen Gruppensettings anwendbar und sinnvoll. Insbesondere in Sozialen Kompetenztrainings, die z. B. innerhalb einer Schulklasse veranstaltet werden, können gemischtgeschlechtliche Trainingseinheiten genutzt werden, um Aushandlungsprozesse zum respektvollen Umgang miteinander zu initiieren. Bei Trainings, die speziell darauf ausgerichtet sind, das eigene Gewaltverhalten zu bearbeiten, halten wir allerdings ein geschlechtsgetrenntes Setting für notwendig und haben dies auch für die TESYA- Trainings als Standard formuliert. Wir glauben, dass Jungen wie auch Mädchen in geschlechtshomogenen Gruppen eine größere Offenheit ermöglicht wird, für sie schwierige Themen anzusprechen, zu reflektieren und zu bearbeiten. Ein geschlechtshomogenes Setting erzeugt eine ernsthaftere und konzentriertere Atmosphäre und ein größeres Vertrauen, während in Trainingsgruppen, in denen Mädchen und Jungen gemeinsam teilnehmen, oftmals das Thema der sexuellen Attraktivität unweigerlich in den Mittelpunkt gerät, die Gruppendynamik beeinflusst, indem es männliche wie auch weibliche Selbstdarstellungstendenzen und Konkurrenzsituationen befördert und damit Energien bindet. Natürlich basiert nicht automatisch jede geschlechtshomogene Trainingsgruppe auf gendersensiblen Ansätzen. Die Voraussetzungen dafür sind, dass erstens das Geschlecht mindestens einer bzw. einem der TrainerInnen dem der TeilnehmerInnen entspricht und zweitens TrainerInnen ausgewählt werden, die bereits begonnen ha- 388 uj 9 (2008) Anti-Gewalt-Trainings ben, Männlichkeit und Weiblichkeit in ihrer Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit zu reflektieren, und die Jugendlichen in diesen Prozess einbeziehen. Literatur Bieringer, J./ Buchacher, W./ Forster, E., 2000: Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit. Wiesbaden Böhnisch, L./ Funk, H., 2002: Soziale Arbeit und Geschlecht. Theoretische und praktische Orientierungen. Weinheim/ München Bourdieu, P., 2002: Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main Bruhns, K./ Wittmann, S., 2002: „Ich meine, mit Gewalt kannst du dir Respekt verschaffen.“ Mädchen und junge Frauen in gewaltbereiten Jugendgruppen. Opladen Campbell, A., 1995: Zornige Frauen, wütende Männer. Geschlecht und Aggression. Frankfurt am Main Flaake, K./ King, V., 2003: Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen. Weinheim Ittel, A./ von Salisch, M. (Hrsg.), 2005: Lügen, lästern, leiden lassen. Stuttgart Jantz, O./ Grote, C., 2003: Perspektiven der Jungenarbeit. Konzepte und Impulse aus der Praxis. Wiesbaden Krüger, A./ Reddemann, L., 2007: Psychodynamisch imaginative Traumatherapie für Kinder und Jugendliche. Stuttgart Lenz, H. (Hrsg.), 2000: Männliche Opfererfahrungen. Problemlagen und Hilfeansätze in der Männerberatung. Weinheim Lösel, F./ Bliesener, T., 2003: Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen. München/ Neuwied Mansel, J./ Hurrelmann, K., 1991: Alltagsstreß bei Jugendlichen. Eine Untersuchung über Lebenschancen, Lebensrisiken und psychosoziale Befindlichkeiten im Statusübergang. Weinheim/ München Möller, K., 2005: Männliche Sozialisation und Gewalt. In: Pech, D./ Herschelmann, M./ Fleßner, H. (Hrsg.): Jungenarbeit. Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft. Oldenburg, S. 70 - 89 Pfeiffer, C. u. a., 1998: Ausgrenzung, Gewalt und Kriminalität im Leben junger Menschen - Kinder und Jugendliche als Opfer und Täter. Hamburg/ Hannover Popp, U., 2002: Geschlechtersozialisation und schulische Gewalt. Geschlechtstypische Ausdrucksformen und konflikthafte Interaktionen von Schülerinnen und Schülern. Weinheim Rohrmann, T., 2001: Echte Kerle. Jungen und ihre Helden. Reinbek Sutterlüty, F., 2002: Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Frankfurt am Main Toprak, A., 2005: Jungen und Gewalt. Die Anwendung der konfrontativen Pädagogik in der Beratungssituation mit türkischen Jugendlichen. Herbolzheim Die AutorInnen Uli Streib-Brzicˇ Lachmannstraße 4 10967 Berlin ulistreibbrzic@gmx.de Lars Schäfer Reichenberger Straße 8 10999 Berlin schaefer@coach-company.net www.tesya.de