unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Wenn Eltern ihre Kinder von der Schule fernhalten
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Angela Smessaert
Am 17.10.2007 und 11.9.2007 entschied der Bundesgerichtshof (BGH XII ZB 42/07 bzw. XII ZB 41/07) über zwei Fälle, bei denen sich streng christliche Eltern beharrlich weigerten, ihre Kinder in eine öffentliche Schule oder anerkannte Ersatzschule zu schicken, und jeweils die Mutter gemeinsam mit den Kindern nach Österreich umgezogen war, um dort eine Heimunterrichtsgestattung nach §11 des Österreichischen Schulpflichtgesetzes zu erlangen und die Kinder anschließend selbst zu Hause zu unterrichten. Dies wurde als Missbrauch der elterlichen Sorge bewertet, der dazu geeignet sei, das Wohl der Kinder nachhaltig zu gefährden. Der BGH hielt die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts sowie des Rechts zur Regelung von Schulangelegenheiten im Sinne des §1666 Abs. 1 BGB in Verbindung mit der Anordnung einer Pflegschaft für gerechtfertigt.
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uj 3 (2009) 135 Unsere Jugend, 61. Jg., S. 135 - 141 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel recht Wenn Eltern ihre Kinder von der Schule fernhalten … Anmerkungen zu den Parallelbeschlüssen des Bundesgerichtshofes vom 11. 9. 2007 und 17. 10. 2007 Angela Smessaert Am 17. 10. 2007 und 11. 9. 2007 entschied der Bundesgerichtshof (BGH - XII ZB 42/ 07 bzw. XII ZB 41/ 07) über zwei Fälle, bei denen sich streng christliche Eltern beharrlich weigerten, ihre Kinder in eine öffentliche Schule oder anerkannte Ersatzschule zu schicken, und jeweils die Mutter gemeinsam mit den Kindern nach Österreich umgezogen war, um dort eine Heimunterrichtsgestattung nach § 11 des Österreichischen Schulpflichtgesetzes zu erlangen und die Kinder anschließend selbst zu Hause zu unterrichten. Dies wurde als Missbrauch der elterlichen Sorge bewertet, der dazu geeignet sei, das Wohl der Kinder nachhaltig zu gefährden. Der BGH hielt die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts sowie des Rechts zur Regelung von Schulangelegenheiten im Sinne des § 1666 Abs. 1 BGB in Verbindung mit der Anordnung einer Pflegschaft für gerechtfertigt. Angela Smessaert Jg. 1979; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozial- und Zivilrecht an der TU Berlin Zur Schulpflicht Grundlagen Unter Schulpflicht wird die Verpflichtung von Kindern verstanden, ab einem bestimmten Alter eine Schule zu besuchen. Sie ergibt sich einerseits aus dem verfassungsrechtlich verankerten staatlichen Erziehungsauftrag in Art. 7 Abs. 1 GG (so herrschende Meinung Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 5. 9. 1986 - 1 BvR 794/ 86 - NJW 1987, 180; Avenarius/ Heckel 2000, 448 mit weiteren Nachweisen). Ausdrücklich ist sie aufgrund der Kulturhoheit der Länder jedoch nicht in einem Bundesgesetz, sondern in den Landesverfassungen (z. B. Art. 30 Landesverfassung Bremen; Art. 14 Landesverfassung Baden- Württemberg; § 30 Abs. 1 Landesverfassung Brandenburg; nicht aber z. B. in der Berliner Landesverfassung) bzw. den Landesschulgesetzen (z. B. §§ 41ff SchulG Berlin; §§ 63 ff SchulG Niedersachsen; §§ 36 ff SchulG Brandenburg) verankert. Die Regelungen zur Schulpflicht in den Schulgesetzen der Länder unterscheiden sich zum Teil erheblich (z. B. hinsichtlich 136 uj 3 (2009) recht Eintrittsalter oder Dauer der Schulpflicht). Im Folgenden wird nicht durchgängig auf alle landesrechtlichen Regelungen verwiesen werden können. Lediglich die Regelung des Landes Berlin wird als fortlaufendes Beispiel genannt. Ferner werden jeweils einige andere landesrechtliche Regelungen beispielhaft angeführt. Eine sehr gute Link-Liste zu den Schulgesetzen der Länder hat das Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland in Juni 2008 erstellt, vgl. http: / / www. kmk.org/ doc/ beschl/ SchulgesetzeInter net.pdf. Nichtsdestoweniger lassen sich bezüglich des Gehalts der Schulpflicht einige übergreifende Aussagen treffen: Dazu gehört u. a., dass die Eltern bzw. Personensorgeberechtigten der Kinder für die Einhaltung der Schulpflicht verantwortlich sind. Diese müssen ihre minderjährigen Kinder zum Besuch einer Schule anmelden und dafür sorgen, dass sie am Unterricht und an den sonstigen verpflichtenden Schulveranstaltungen teilnehmen (so z. B. § 44 SchulG Berlin; § 31 Abs. 1 SchulG Sachsen; § 35 Abs. 4 BayEUG). Befreiungsmöglichkeiten Eine generelle Befreiung bzw. ein Ruhen der Schulpflicht von der Schulpflicht ist nur in einigen Bundesländern (§ 13 Abs. 1 S. 1 SchulPflG Saarland; § 82 Abs. 3 SchulG Baden-Württemberg; § 17 Abs. 5 SchulG Thüringen) möglich und auch nur dann, wenn das Kind oder der bzw. die Jugendliche so schwer körperlich, geistig oder seelisch behindert ist, dass selbst eine Förderung an einer Sonderschule (Förderschule) oder durch Sonderunterricht nicht in Betracht kommt. In anderen Ländern (z. B. Berlin, Sachsen-Anhalt) ist eine solche generelle Befreiungsmöglichkeit überhaupt nicht vorgesehen, was im Gegenzug das jeweilige Land verpflichtet, eine geeignete Beschulung für diese Kinder zu ermöglichen. Partielle Befreiungen von der Schulpflicht (bezogen auf ein Fach - insbesondere Sport, einzelne Stunden oder Tage) sind hingegen in allen Bundesländern möglich. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen eines „wichtigen Grundes“ (§ 46 IV SchulG Berlin). Als solche Gründe kommen in Betracht: familiäre Ereignisse, ein Todesfall, eine Hochzeit, die Krankheit der SchülerInnen, die Teilnahme an einer Heilkur oder einem vom Gesundheitsamt befürworteten Erholungsaufenthalt, an einem Schüleraustausch, einem Sprachkurs, einer Veranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung, an Wettbewerben etc. Hinsichtlich religiös motivierter Anträge auf Befreiung von einzelnen Unterrichtsstunden ist die Rechtsprechung uneinheitlich. Während das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Urteil vom 25. 8. 1993 - 6 C 8/ 91 - BVerwGE 94, 82 ff) aufgrund der von der Schülerin für sich verbindlich betrachteten Bekleidungsvorschriften des Islam einen Anspruch aus Art. 4 GG auf Befreiung jedenfalls solange anerkannte, solange der Sportunterricht koedukativ erteilt wurde, finden sich mittlerweile auch wieder gehäuft gegenteilige Entscheidungen. Es mag überraschen, dass sich dabei z. B. das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Urteil vom 7. 5. 2008 - 18 K 301/ 08) nicht etwa auf mangelnde Darlegung hinsichtlich eines bei Teilnahme entstehenden Gewissenskonflikts wegen verbindlich erachteter Glaubenssätze stützte. Im Unterschied zum Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) sah es den richtigen Weg eines „schonenden Ausgleichs“ nicht in einem nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht, sondern erkannuj 3(2009) 137 recht te hierin allein die kompromisslose Durchsetzung eines Einzelinteresses gegenüber den Belangen des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages. Ausreichend zur Wahrung der Interessen des Mädchens seien weiter geschnittene Badebekleidung sowie ergänzende pädagogische oder organisatorische Maßnahmen (Einzelkabine/ zeitversetztes Umkleiden), schließlich seien im alltäglichen Zusammenleben - nichts anderes gelte für den staatlichen Schwimmunterricht - überall und jederzeit Situationen anzutreffen, in denen muslimische Glaubensangehörige mit anderen Wertvorstellungen konfrontiert würden, mit denen sie umgehen müssten. Inwiefern diese und ähnliche Entscheidungen (z. B. Verwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 14. 4. 2005 - 11 E 1044/ 05 - NVwZ- RR 2006, 121) einer obergerichtlichen Überprüfung jedoch standhalten werden, bleibt abzuwarten (und ist m. E. zweifelhaft). Schulrechtliche Sanktionen gegen einen Verstoß In den Schulgesetzen sind - bei unterschiedlicher Fassung der Rechtsnormen je nach Bundesland - drei unterschiedliche Sanktionen bei Verstößen gegen die Schulpflicht vorgesehen. Zum einen sind Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen gegenüber den SchülerInnen möglich (§§ 62 f SchulG Berlin; § 39 SchulG Sachsen; §§ 46 f SchulG Bremen). Die Eignung und Verhältnismäßigkeit der verschiedenen Maßnahmen sind im Einzelfall zu prüfen. Diese reichen z. B. von einer einfachen Verwarnung, einem mündlichen oder schriftlichen Tadel, der Beauftragung mit zusätzlichen Schulaufgaben bis hin zu einer Versetzung in eine andere Klasse, dem Ausschluss von einzelnen Schulveranstaltungen (wie einem begehrten Ausflug oder der Klassenfahrt). Ein Schulverweis im Sinne einer Entlassung aus der Schule (im Gegensatz zu einer Überweisung an eine andere Schule) kann per se nicht mehr dem Ziel dienen, den/ die SchülerIn zu einer regelmäßigen Teilnahme anzuhalten. Dennoch kann er mit dem Zweck, den sonstigen reibungslosen Schulbetrieb aufrechtzuerhalten, in Einzelfällen gerechtfertigt sein. Zu beachten ist allerdings, dass er aufgrund des Wesens der Schulpflicht nur in Betracht kommt, soweit diese (mit Erreichen eines bestimmten Alters des/ der SchülerIn) erfüllt ist. Scheitern die anderen Mittel (insbesondere die pädagogischen Maßnahmen) gegen die SchülerInnen, ihre Eltern bzw. Personensorgeberechtigten oder sind solche aussichtslos, ist als ultima ratio auch die zwangsweise Zuführung zur Schule in den Schulgesetzen vorgesehen (§ 45 SchulG Berlin; § 28 SchulG Schleswig-Holstein). Da es sich um eine Einwirkung mit dem Mittel der körperlichen Gewalt handelt, ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit unbedingt zu beachten - die Zuführung muss daher geeignet, erforderlich und unter Abwägung der unterschiedlichen Interessen angemessen sein. Die konkrete Umsetzung der zwangsweisen Zuführung, also die Frage, welche Amtsträger diese wie vornehmen dürfen, richtet sich nach den Landespolizeigesetzen bzw. den Gesetzen über die Anwendung unmittelbaren Zwangs. Der Verstoß gegen die Schulpflicht kann ferner als Ordnungswidrigkeit der Eltern bzw. Personensorgeberechtigten als der für die Einhaltung der Schulpflicht Verantwortlichen unter Auferlegung einer Geldbuße (z. B. bis zu E 2.500 nach § 126 Abs. 1, 3 SchulG Berlin und § 42 Abs. 1, 2 SchulG Brandenburg; Art. 119 BayEUG) geahndet werden. In einigen Bundesländern finden sich sogar strafrechtliche Vorschriften zur Sanktionierung von Verstößen gegen die Schulpflicht, die greifen, 138 uj 3 (2009) recht wenn ein Kind dauernd oder hartnäckig wiederholt der Schulpflicht entzogen wird (z. B. § 182 SchulG Hessen; § 17 Abs. 4 SchulG Saarland). Entzug der elterlichen Sorge - Änderung des § 1666 BGB Die hier zu besprechenden Entscheidungen des BGH befassen sich jedoch nicht mit schulrechtlichen Sanktionen, sondern mit der Rechtmäßigkeit eines teilweisen Entzugs der elterlichen Sorge aufgrund eines fortwährenden Verstoßes gegen die Schulpflicht. Es handelt sich somit um einen sehr viel weitgreifenderen Eingriff als die in den Schulgesetzen vorgesehenen Maßnahmen. Rechtliche Grundlage eines solchen teilweisen Sorgerechtsentzugs kann nur § 1666 BGB sein. Gemäß § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung einer Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes (oder sein Vermögen) erforderlich sind, soweit die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. § 1666 BGB wurde durch das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls (vom 4. 7. 2008, Bundesgesetzblatt I 2008, 1188ff, in Kraft seit dem 12. 7. 2008; vgl. Hannemann 2008) geändert. Die vorliegenden Ausführungen richten sich nach der neuen Fassung des § 1666 BGB, während den Entscheidungen des BGH noch die alte Fassung zugrunde lag. Durch die Neufassung des § 1666 BGB, die sich hauptsächlich an Feststellungen der Experten-Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ (vgl. BT-Drs. 16/ 6815, 8, 10; Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ 2006) orientierte, wurden einerseits in Abs. 1 Tatbestandshürden abgebaut (Streichung der Voraussetzung des elterlichen Erziehungsversagens), andererseits in Abs. 3 die Rechts-folgen durch die Aufzählung konkreter Handlungsmöglichkeiten konkretisiert. Die nun in Abs. 3 festgehaltenen abgestuften Handlungsmöglichkeiten der Gerichte („unterhalb“ des Sorgerechtsentzugs) bestanden zwar bereits zuvor, wurden aber nicht von allen RichterInnen angewandt, sodass die vielfältigen, nach § 1666 Abs. 1 BGB möglichen Schutzmaßnahmen häufig nicht in vollem Umfang ausgeschöpft wurden. Die Beschlüsse des Bundesgerichtshofes Wie bereits beschrieben, entschied der BGH am 17. 10. 2007 und 11. 9. 2007 (XII ZB 42/ 07 bzw. XII ZB 41/ 07) über zwei Fälle, bei denen sich streng christliche Eltern beharrlich weigerten, ihre Kinder in eine öffentliche Schule oder anerkannte Ersatzschule zu schicken, und jeweils die Mutter (unter Beibehaltung ihres Wohnsitzes) gemeinsam mit den Kindern nach Österreich umgezogen war, um dort eine Heimunterrichtsgestattung nach § 11 des Österreichischen Schulpflichtgesetzes zu erlangen und die Kinder anschließend selbst zu Hause zu unterrichten. Der BGH ging zunächst auf die Rechtsfrage ein, ob die Kinder überhaupt noch der Schulpflicht nach deutschem Recht unterliegen. Dies wurde bejaht, da sich die Schulpflicht nach dem Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthaltsort der Kinder richtet. Minderjährige Kinder teilen gem. § 11 BGB den Wohnsitz ihrer Eltern, der hier in Nordrhein-Westfalen lag. uj 3(2009) 139 recht Der BGH bestätigte die Auffassung des Oberlandesgerichts, wonach die beharrliche Weigerung, die Kinder in eine öffentliche Schule oder anerkannte Ersatzschule zu schicken, einen Missbrauch der elterlichen Sorge darstellt und das Wohl der Kinder im Sinne des § 1666 BGB nachhaltig gefährdet. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Schulpflicht, auch wenn einzelne Lehrinhalte oder -methoden den Glaubensüberzeugungen der Eltern entgegenstünden, gebe es nicht, solange der Staat seinen Erziehungsauftrag im Sinne der Vorgaben des Grundgesetzes verantwortungsvoll wahrnimmt. Das Oberlandesgericht hatte zur Verfassungsmäßigkeit der Schulpflicht unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (vgl. insbesondere Beschluss vom 29. 4. 2003 - 1 BvR 436/ 03, NVwZ 2003, 1113 und Beschluss vom 31. 5. 2006 - 2 BvR 1693/ 04, FamRZ 2006, 1094) näher ausgeführt, dass die mit der Schulpflicht verbundenen Eingriffe in angemessenem Verhältnis zu dem Gewinn stünden, den die Erfüllung dieser Pflicht für den staatlichen Erziehungsauftrag und die hinter ihm stehenden Gemeinwohlinteressen erwarten ließ. Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich geprägten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Integration setze dabei auch voraus, dass religiöse oder weltanschauliche Minderheiten sich nicht selbst abgrenzten und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht verschlössen. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren, sei eine wichtige Aufgabe schon der Grundschule. Der Bundesgerichtshof bestätigte daraufhin ebenfalls, dass der teilweise Entzug des Sorgerechts (Aufenthaltsbestimmungsrecht, Recht zur Regelung der Schulangelegenheiten) und die Anordnung einer Pflegschaft rechtsfehlerfrei erfolgte. Diese Maßnahmen in Verbindung mit der Ermächtigung der PflegerInnen, die Herausgabe der Kinder notfalls unter Einsatz von Gewalt, Betreten und Durchsuchung der Wohnung unter Inanspruchnahme der Hilfe von GerichtsvollzieherIn oder Polizei zu erzwingen, wurden als geeignet betrachtet, den Schaden von den Kindern abzuwenden, der von fortgesetztem, ausschließlichem Hausunterricht der Mutter ausgegangen wäre. Allerdings kritisierte es die konkrete Auswahl der Pflegeperson, da diese nicht geeignet war, den Gefahren für das Kindeswohl wirksam zu begegnen. Der Pfleger hatte der Ummeldung der Kinder nach Österreich zugestimmt und damit ihre Verbringung erst ermöglicht, obwohl diese nach erklärtem Willen der Beteiligten gerade erfolgte, um die Kinder der deutschen Schulpflicht zu entziehen. Bewertung Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes bestätigen die bereits zuvor in Rechtsprechung (vgl. z. B. Oberlandesgericht Koblenz, Beschluss vom 11. 5. 2005 - 13 WF 282/ 05 - NJW-RR 2005, 1164; OLG Köln, Beschluss vom 18. 2. 2002 - 14 UF 134/ 011164 - JAmt 2003, 548; Bayrisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 15. 9. 1983 - BReg 1 Z 36/ 83 - NJW 1984, 928) und Literatur (vgl. z. B. Raack 2007, 478; Hannemann/ Münder 2006, 244) überwiegende Auffassung bezüglich des Verhältnisses des elterlichen Erziehungsrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) und des staatlichen 140 uj 3 (2009) recht Bildungsauftrags (Art. 7 Abs. 1 GG): Eltern und Schule haben einen Erziehungsauftrag, ohne dass einem davon ein Vorrang/ „Erziehungsmonopol“ zukommt. Vielmehr stehen diese nebeneinander - es handelt sich um einen ganzheitlichen Prozess, bei dem der staatliche Bildungsauftrag das Elternrecht ebenso begrenzen kann wie in anderen Fällen das Elternrecht den schulischen Bildungsauftrag (z. B. hinsichtlich moralischer Wertungen über vorehelichen Geschlechtsverkehr, Homosexualität, Promiskuität oder Schwangerschaftsabbruch - BVerfG, Beschluss vom 21. 12. 1977 - 1 BvL 1/ 75, 1 BvR 147/ 75 - NJW 1978, 807). Die Entscheidungen des BGH zeigen den betroffenen Eltern ihre Verantwortlichkeit und mögliche Konsequenzen ihres Handelns auf. Dies ist in Anbetracht der hohen Bedeutung des Schulbesuchs für die Entwicklung von Kindern und ihre späteren Berufs- und Aufstiegschancen richtig. Gleichzeitig darf jedoch nicht übersehen werden, dass allein über die Konsequenz des Sorgerechtsentzugs dem gesellschaftlichen Problem der Schulverweigerung nicht beizukommen ist. Bei der überwiegenden Anzahl von Fällen mit häufigen/ dauerhaften Verstößen gegen die Schulpflicht beruhen diese nicht auf einer bewussten Entscheidung der Eltern, sondern allenfalls auf Nachlässigkeit oder fehlendem Durchsetzungsvermögen gegenüber einer bei den Kindern liegenden Verweigerungshaltung (also dem Schulschwänzen). Allein den Druck auf die Eltern zu erhöhen, indem z. B. die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unter Hinweis auf häufige Verstöße der Kinder gegen die Schulpflicht sowie Gewalttätigkeiten in der Schule und damit mangelnde Integration abgelehnt wird (vgl. Verwaltungsgericht Göttingen, Urteil vom 27. 8. 2008 - 1 A 78/ 08 und dazu berichtende Tagespresse z. B. Berliner Tagesspiegel vom 9. 9. 2008, Spiegel-Online vom 5. 9. 2008), erscheint wenig zielführend. Die Gesellschaft muss sich zudem fragen lassen, ob hier nicht Probleme abgeschoben werden, für die sie selbst verantwortlich zu machen ist. Um dem Problem des Schulschwänzens wirksam zu begegnen, ist daher m. E. vor allem die Qualität der Zusammenarbeit von Schulen, den beteiligten Jugendämtern sowie den Trägern entscheidend, die in freier Jugendarbeit gegebenenfalls noch an die Jugendlichen herankommen. Insoweit ist es jedoch Besorgnis erregend, wenn bei aufmerksamer Beobachtung der politischen Entwicklungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe der Eindruck entsteht, dass innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe eine Verschiebung von der Leistungsorientiertheit hin zur Überwachung zum Schutz insbesondere der Kleinsten und Kleinen stattfindet, die Förderung „schwieriger“, pubertierender Jugendlicher jedoch auf der Strecke bleibt (vgl. dazu Smessaert/ Münder 2008, 25). Insbesondere engagierter, offener Jugendarbeit bedarf es aber, um dem weitaus größeren Problem des Schuleschwänzens Herr zu werden. Literatur Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“, 2006: Abschlussbericht vom 17.11.2006, www.bmj. bund.de/ files/ -/ 1515/ Abschlussbericht%20 Kindeswohl.pdf Avenarius, H./ Heckel, H., 7 2000: Schulrechtskunde. Neuwied Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17. 10. 2007 - XII ZB 42/ 07, ZKJ 2008, 166 - 168 bzw. kostenfrei einsehbar in der Entscheidungssammlung des BGH unter www.bundesgerichtshof.de Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11. 9. 2007 - XII ZB 41/ 07, FÜR 2008, 115 - 118 bzw. kostenfrei einsehbar in der Entscheidungssammlung des BGH unter www.bundesgerichtshof.de Hannemann, A./ Münder, J., 2006: Schulpflichtverletzung der Erziehungsberechtigten und Einschränkung der elterlichen Sorge. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 54. Jg., H. 2, S. 244 - 255 uj 3(2009) 141 recht Hannemann, A., 2008: Das Gesetzesvorhaben zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls. In: Unsere Jugend, 60. Jg., H. 7/ 8, S. 337 - 344 Raack, W., 2007: Rechtliche Maßnahmen und Entscheidungsspielräume des Familiengerichts bei Schulabsenz von Kindern und Jugendlichen. In: Familie Partnerschaft Recht, 12. Jg., H. 1 - 2, 478 - 482 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Link-Liste zu den Schulgesetzen der Länder, unter: www.kmk.org/ doc/ beschl/ SchulgesetzeInternet.pdf, 18. 11. 2008, 6 Seiten Smessaert, A./ Münder, J., 2008: Von der Kinder- und Jugendhilfe zur Kinder-Fürsorge und Kinder-Betreuung? In: Widersprüche, 27. Jg., Nr. 109, S. 25 - 37 Die Autorin Angela Smessaert TU Berlin Fakultät 1 Geisteswissenschaften, Sekretariat FR 4 - 7 Franklinstraße 28/ 29 10587 Berlin E-Mail: angela.smessaert@tu-berlin.de 2., aktual. Aufl.2007. 160 Seiten. 6 Abb. 5 Tab. (978-3-497-01925-0) kt Wenn die Familie auseinander bricht, werden die Kinder oft zum Zankapfel. Vor Gericht wird entschieden, wer das Sorgerecht erhält. Auch in Fragen des Umgangsrechts, der Adoption, der Herausnahme aus der Familie bestimmen Richter und Sachverständige über die Zukunft des Kindes. In diesem Buch wird gezeigt, wie die Kriterien Kindeswohl und Kindeswille kontrolliert und sensibel genutzt werden können. Der Praktiker erhält außerdem konkrete Anleitungen zur Diagnostik und zum Umgang mit dem Kindeswillen. Anhand des „Parental Alienation Syndroms“, das die Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil bezeichnet, wird gezeigt, wie schwierig eine differenzierte Beurteilung von Kindeswohl und Kindeswille ist. a www.reinhardt-verlag.de
