eJournals unsere jugend 61/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Street-Art als eine Methode Sozialer Kulturarbeit. Ein Medium für Kunsteinsteiger

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2009
Jan Braun
Wohnst du noch oder lebst du schon? Diese Frage ist auch für die Soziale Kulturarbeit von Belang, denn sie trifft, nach einer leichten Umformung, ihre Idee im Kern.
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uj 4 (2009) 167 Unsere Jugend, 61. Jg., S. 167 - 176 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Street-Art als eine Methode Sozialer Kulturarbeit. Ein Medium für Kunsteinsteiger Jan Braun Wohnst du noch oder lebst du schon? Diese Frage ist auch für die Soziale Kulturarbeit von Belang, denn sie trifft, nach einer leichten Umformung, ihre Idee im Kern. soziale kulturarbeit Existierst du noch oder lebst du schon? Angebote der Sozialen Arbeit, und damit auch der Sozialen Kulturarbeit, basieren stets auf der Bemühung der AkteurInnen, Defiziten oder Benachteiligungen, unter denen die AdressatInnen leiden oder von denen sie bedroht sind, entgegenzuwirken und sie so bei der Bewältigung ihres (Über-) Lebens zu unterstützen. Spontan fallen einem dabei klassische Angebote wie Sozialpädagogische Familienhilfe, Psychosoziale Beratung u. v. m. ein. Soziale Kulturarbeit lässt sich in diesen Kanon nur schwer eingliedern, denn direkte Hilfemaßnahmen mit einer unmittelbaren Wirkung kann sie kaum leisten. Doch trotzdem hat sie viel mehr zu bieten, vermag viel mehr zu bewirken, als das tristbunte Image, das ihr anhaftet, vermuten lässt. Der erste Schritt zu einer solchen Erkenntnis ist getan, wenn SozialarbeiterInnen erfassen, dass da noch mehr zu erreichen ist als ein voller Magen und eine warme Wohnung für die AdressatInnen. Existenzsicherung ist eine der wichtigsten Aufgaben sozialarbeiterischen Handelns, doch stellt sich bei der immer wieder auszumachenden geringen Akzeptanz Sozialer Kulturarbeit seitens studierter SozialarbeiterInnen die Frage, ob überhaupt ein Interesse vorhanden ist, mehr als diese zu erbringen. Soziale Kulturarbeit ist in der Lage, auf Ergebnisse Sozialer Arbeit aufzubauen und diese zu festigen. Die AdressatInnen können durch die Einbindung in kreative Prozesse zur Reflexion ihres persönlichen Handelns und zur Entwicklung eigener Problemlösungsstrategien ermutigt werden. Kunst als Werkzeug Die Auseinandersetzung mit Kunst in all ihren Formen und Facetten ist dabei das Mittel zum Zweck, denn sie bedeutet auch immer eine Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit. Sie wurde bereits im Jahr 1795 von Schiller in seinen Briefen Jan Braun Jg. 1981; Diplom-Sozialpädagoge/ Sozialarbeiter (FH), Schwerpunkt Soziale Kulturarbeit, Student im Masterstudiengang Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Universität Oldenburg 168 uj 4 (2009) soziale kulturarbeit über die ästhetische Erziehung des Menschen als eine sichere Quelle zur Veredelung des Charakters benannt (vgl. Schiller 2006, 33). „Haben wir uns hingegen dem Genuss echter Schönheit dahingegeben, so sind wir in einem solchen Augenblick unsrer leidenden und tätigen Kräfte in gleichem Grad Meister und mit gleicher Leichtigkeit werden wir uns zum Ernst und zum Spiel, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung wenden“ (Schiller 2006, 86). Hier finden sich Gedanken dazu, warum Kunst dazu fähig ist, Prozesse auszulösen, die das Selbstbewusstsein oder das Selbstwertgefühl stärken: Diejenigen, die sich der echten Schönheit stellen, werden durch die Begegnung mit ihr in der Lage sein, sich neu zu orientieren und sich Dingen zuwenden zu können, zu denen ihnen zuvor möglicherweise die Kraft fehlte. Der Mensch verfügt nach Schillers Ausführungen über keine freie Bestimmbarkeit mehr. D. h. er lebt nicht selbstbestimmt. Darum muss er diese verlorene Bestimmbarkeit zurückgewinnen. Bevor ihm dies nicht gelungen ist, wird sich nichts an seinen Lebensumständen ändern, wird er laut Schiller seine „leidende Bestimmung“ nicht mit der „tätigen“ tauschen. Um dies zu vollbringen und wieder „vernünftig“ zu werden, muss er die anhaltende passive Stimmung ablegen oder die aktive, die er schon in sich enthält, reaktivieren. SozialarbeiterInnen kommt hier unweigerlich der Begriff des Empowerment in den Sinn. „Mit einem Wort: Es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht“ (Schiller 2006, 90). Nach Schiller ist die als Werkzeug genutzte Kunst in der Lage, dem Menschen seine Selbstbestimmtheit in gewissem Maße zurückzugeben, indem sie ihn aufweckt und zu einem ästhetischen, fühlenden Menschen macht. Ist das erreicht, entsteht die Möglichkeit, Entscheidungen wieder frei treffen zu können und das Leben selbst zu steuern (ebd., 83). Der aufgeweckte Mensch wird sich zu einem allgemeingültig Urteilenden und Handelnden entwickeln, da dies in seiner Natur liegt. Das soll bedeuten, der Mensch wird sich entfalten und die Möglichkeit haben, sich als ein vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft integrieren können (ebd., 92). Die Formulierungen Schillers zu dem, was die Begegnung mit Kunst beim Menschen realisieren kann, decken sich gut mit den Zielen, welche die Profession Soziale Arbeit für ihre KlientInnen erreichen möchte, so z. B. auf individueller Ebene, Menschen zu helfen, sich selbst frei zu entfalten und am gesellschaftlichen Austausch teilnehmen zu können, nach Schillers Formulierung „vernünftig und allgemeingültig“ handelnd. Auf gesellschaftlicher Ebene findet sich im Rahmen der Sozialen Arbeit ein emanzipatorisches Engagement für AdressatInnen und das Bestreben einer Veränderung bzw. Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände (vgl. Buchkremer 1995, 116f). Ein Grundverständnis davon zu wissen, wozu Kunst in der Lage ist, verändert den Blick auf sie. Damit geht einher, dass sich ebenfalls der Blick auf das Betätigungsfeld der Sozialen Kulturarbeit ändert, da als deren Hauptzweck ja die Kunst in allen Formen fungiert. Soziale Kulturarbeit bekommt dadurch die Möglichkeit, etwas aus ihrer Stiefkindrolle in der Sozialen Arbeit herauszutreten und als ein von ihrer Relevanz her äquivalentes Arbeitsfeld zu den anderen Bereichen angesehen zu werden. uj 4 (2009) 169 soziale kulturarbeit Stolpersteine Doch muss sie auf dem Weg dorthin einige Hürden meistern. So benötigen z. B. die beschriebenen Effekte, die sich durch die vertiefte Auseinandersetzung mit Kunst einstellen können, Zeit, der Nachweis unmittelbarer Ergebnisse ist schier unmöglich. In der heutigen Zeit stellt sich die nicht sofortige Sichtbarkeit von Erfolgen bei AdressatInnen als eines der größten Probleme Sozialer Kulturarbeit dar. Die Entwicklung von wahrer und nachhaltiger Kreativität, die ja allgemein als eine sehr positive menschliche Fähigkeit angesehen ist, passiert nicht über Nacht, sondern ist ein jahrelanger Prozess. Soziale Kulturarbeit ist deshalb nicht nur daran interessiert, für ihre AdressatInnen temporäre Angebote zu erbringen, sondern sie auch über Jahre zu begleiten. „Unser erklärtes gemeinsames Ziel ist es, dass Kunst den Menschen ein Leben lang begleitet. Sei es als Inspiration, als Anlass zur Reflexion oder für die innere Balance“ (Nannen 2006, 9). AkteurInnen im Feld der Sozialen Arbeit sind darum nicht nur dazu angehalten, ihren KlientInnen zu Begegnungen mit kulturellen Angeboten zu verhelfen, sondern sollten auch ein Bewusstsein dafür haben, dass Ergebnisse eintreten werden, diese aber Zeit brauchen. Doch begründen sich Probleme Sozialer Kulturarbeit nicht nur durch die oben genannten Umstände, sondern auch durch ihr Wesen selbst. Kultur, dabei insbesondere Kunst und die Auseinandersetzung mit ihr, kann als etwas sehr Anstrengendes empfunden werden, vor allem, wenn diese dann noch offen als ein pädagogisches Instrument fungiert. Der Satz „Komm, wir gehen ins Kunstmuseum! “ ist in der Lage, mehr Menschen zu verschrecken, als man vermutet. Rainer Treptow (2001, 135) äußert sehr treffend: „Gefragt nach der Anstrengung beim Kunsterleben, wird die Szene schnell übersichtlich: Die jeweiligen kulturellen Milieus haben ihre je eigenen Vorstellungen darüber, was der Anstrengung wert ist und was nicht - übrig bleiben die eher exklusiven Zirkel, die sich zu Spezialisten unterschiedlichen Grades herangebildet haben, z. B. alles von Arno Schmidt gelesen haben … Kultur? Anstrengend? Lächerlich! “ Die Begegnung und Auseinandersetzung mit Kunst bringt beim Individuum Prozesse in Gang (etwa Denkanstöße, die zu neuen Einsichten führen, oder Denkanstöße, normale Handlungs- und Wahrnehmungsmuster zu reflektieren und zu erweitern), die auch andere Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit stimulieren wollen. Die Soziale Kulturarbeit hat hierbei einen Vorteil, sie sitzt direkt an der Quelle - Kunst ist ihr Werkzeug, sie arbeitet mit Kunst. Das ist zugleich aber auch ein komplexes Problem, denn Kultur wird von Einzelnen, sei es AkteurIn oder AdressatIn, sehr leicht als nicht erschließbar empfunden, darum bleibt eine vertiefte Auseinandersetzung mit entsprechenden Resultaten von vornherein aus. In der Praxis bedeutet dies z. B., ein/ e BetreuerIn geht mit den KlientInnen gar nicht erst in ein Museum oder im Museum hat die Gruppe dann das Gefühl, überfordert und eigentlich ausgeschlossen zu sein, weil keine fachlichen Vorkenntnisse vorhanden sind. „Von Bedeutung und Interesse ist Kunst alleine für den, der die kulturelle Kompetenz, d. h. den angemessenen Code, besitzt … Das „Auge“ ist ein durch Erziehung reproduziertes Produkt der Geschichte“ (Bourdieu 1987, 19). Genau das ist ein Umstand, an dem es zu arbeiten gilt. Der Begriff Kultur darf nicht abschreckend sein. Kunst sollte für jeden Menschen erschließbar gemacht werden. In den letzten Jahren immer weiter ausge- 170 uj 4 (2009) soziale kulturarbeit baute Einrichtungen, wie etwa die Museumspädagogik, sind eine erste Antwort auf diese Forderungen. Herausforderungen für die Soziale Kulturarbeit „Die museumspädagogische Abteilung der Kunsthalle in Emden versteht sich als Bindeglied zwischen der Kunst im Museum und seinen Besuchern“ (Ohmert/ Sommer 2006, 61). Jedoch fühlt man sich trotz alledem beim konkreten Museumsbesuch, besonders in Kunstmuseen, häufig noch immer als ein Eindringling in einem fremden Mikrokosmos. Aufgabe Sozialer Kulturarbeit ist es, diesen Gefühlen entgegenzuwirken und Kunst bzw. Kulturerleben zu einem Normalangebot für alle Menschen zu machen, so wie auch andere Angebote Sozialer Arbeit auf Partizipation zielen. „Für die Qualität des Erlebens ist zu sorgen sowie der entsprechenden Resonanz Raum zu geben. Die ästhetische Praxis in der Sozialen Kulturarbeit schafft Rahmenbedingungen für wirklichkeitsnahe, komplexe und bildende Erfahrungen“ (Schultz 2007, 196). Dass Handlungsbedarf besteht, zeigen einige simple Gegenüberstellungen. So verfügen nur ca. 10 % aller Deutschen über einen Hochschulabschluss (vgl. Statistisches Bundesamt 2007), diese relativ geringe Zahl an Personen macht aber fast 50 % der KunstmuseumsbesucherInnen insgesamt aus. BesucherInnen mit einfachen Bildungsabschlüssen sind in der Minderheit und bilden nicht einmal 10 % des Publikums (vgl. Fleischner 2004). Soziale Kulturarbeit als Normalangebot Will Soziale Kulturarbeit zu einem Normalangebot für alle Menschen werden, bedeutet dies für sie, dass sie nicht einfach in den Institutionen auf ihre AdressatInnen warten darf, sondern offensiv agieren muss, um mit ihnen in Kontakt zu kommen. Die Begründung, die Menschen, die nicht in ein Kunstmuseum kommen, hätten eh kein Interesse an Kunst und Kultur, kann dabei nicht gelten. Bereits 1968 konnte Pierre Bourdieu nach der Befragung von über 1.200 Personen zu ihrem kulturellen Geschmack feststellen, dass insbesondere von den Befragten der „unteren Klassen“ 32 % die Aussage bejahten, moderne Malerei sei nicht einfach so dahingemalt, und 62 % befanden, Malerei sei zwar schön, aber schwer zu verstehen. Nur 26 % gaben an, sich nicht für Kunst zu interessieren (vgl. Bourdieu 1987, 824). Diese Zahlen stehen in keinerlei Einklang mit denen der dargestellten Bildungsstruktur von MuseumsbesucherInnen und zeigen, dass die Soziale Kulturarbeit diesem vorhandenen, aber nicht gelebten Interesse mit Partizipationsmöglichkeiten entgegenkommen sollte. Als erster Schritt bietet sich deshalb an zu versuchen, das unterschwellige Gefühl, ein wahres Kunstverständnis sei elitären Milieus vorbehalten, infrage zu stellen und abzubauen. Wenn Menschen in ein Museum gehen und dort die Bilder besuchen, befinden sie sich oftmals in einer ungewohnten, fremdartigen Umgebung, die nicht in ihrer alltäglichen Lebenswelt liegt. Im Sinne der Sozialen Arbeit kann deshalb ein Museumsbesuch nicht als ein niedrigschwelliges Angebot betrachtet werden, und genau um solche geht es doch, wenn der Anspruch vertreten wird, Kunst für jede/ n erschließbar zu machen. Menschen sollen für eine Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur gewonnen werden. Diese wird aber kaum zustande kommen, wenn Menschen nicht den ersten Schritt machen (oder dazu motiviert werden) und selbst auf die Angebote zugehen. In anderen Feldern der Sozialen Arbeit wurden ähnliche Feststellungen schon vor langer uj 4 (2009) 171 soziale kulturarbeit Zeit getroffen, eine der Antworten der Jugendarbeit auf diese Problematik ist die aufsuchende Sozialarbeit. Der Kontakt zu den AdressatInnen wird durch Besuche der SozialarbeiterInnen hergestellt. Daraus entsteht dann durch Bedarf und Nachfrage die Vermittlung weiterer Hilfeangebote. Für die Soziale Kulturarbeit könnte das bedeuten, dafür zu sorgen, dass Menschen nicht mehr den ersten Schritt machen und die Bilder besuchen müssen, sondern dass zunächst die Bilder zu den Menschen kommen und auf diese Weise für eine erste Begegnung sorgen, aus der sich dann mehr entwickeln kann. Durch ein solches projektorientiertes Vorgehen kann die Soziale Kulturarbeit Angebote schaffen, die als lebensweltorientiert bezeichnet werden können. „Sozialpädagogik orientiert sich an der Lebenswelt ihrer Adressaten und gibt Hilfestellung zur Bearbeitung sozialer Konflikte. Sie arbeitet professionell und präventiv. Ihre Arbeit versteht sich als Normalangebot für alle Menschen. … Lebensweltorientierte Sozialpädagogik geht von der Freiwilligkeit, Mitbestimmung und Selbsthilfe des Einzelnen aus. Sie versteht sich als offensive Einmischung im Sinne des Adressaten“ (Schilling 2005, 193). Kunst mit Lebensweltorientierung Bestärkt werden kann diese Ausrichtung der Kunst als Lebensweltorientierung dadurch, dass nicht nur die Kunst allgemein in die Lebenswelt - und damit auch in den Sozialraum der AdressatInnen - vordringt, sondern ebenfalls dadurch, dass z. B. die Inhalte von Bildern sich mit deren Thematiken beschäftigen und den BetrachterInnen so verstärkt Anreize zu einer Auseinandersetzung bieten. Ist dieser Einstieg erst einmal geschafft, rücken die von Schiller beschriebenen Ef- Abb. 1 Quelle: howieluvzus@flickr.com 172 uj 4 (2009) soziale kulturarbeit fekte ein ganzes Stück näher. Um eine Methodik zu entwickeln, die diesen Einstieg bewirken kann, sollte zunächst geklärt werden, wer überhaupt primär angesprochen werden soll. Kunstmuseen haben festgestellt, dass sie besonders wenig BesucherInnen jungen bis mittleren Alters mit einfachen Bildungsabschlüssen verzeichnen können (vgl. Fleischner 2004). An dem von Bourdieu festgestellten Interesse dieser Menschen an Kunst wird sich nichts geändert haben, ebensowenig an der Feststellung, dass das „Auge“ ein durch Erziehung reproduziertes Produkt ist. Können Elternhaus und Schule die Relevanz einer Beschäftigung mit Kunst nicht vermitteln, ist es die Aufgabe einer ganzheitlich ausgerichteten Sozialen Arbeit, dem nachzukommen. Die Soziale (Kultur-)Arbeit ist darum angehalten, insbesondere bei dieser Bevölkerungsgruppe eine stärkere Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur zu wecken, die Menschen somit aus einer passiven in eine aktive Rolle zu bringen. Dies muss niedrigschwellig, schon außerhalb der Museen geschehen, denn die besten Angebote dort nützen nichts, wenn sie eigentlich gar nicht wahrgenommen werden. Sollen vor allem junge Menschen mit einfachen Bildungsabschlüssen angesprochen werden, lohnt sich ein Blick auf aktuelle Trends, die auch von dieser Gruppe aufgegriffen werden bzw. sie ansprechen. Street-Art als Kultur-Streetwork Street-Art in all ihren Ausdrucksweisen behauptet sich (nicht nur) in der Jugendkultur seit langer Zeit als etwas Stylisches und wird mittlerweile auch von großen Unternehmen (z. B. Nike) genutzt, um deren Waren ein jugendliches Image zu verleihen. Street-Art spricht die Menschen an, weil sie die Normalität des Alltags durchbricht, z. B. indem sie den öffentlichen Raum ungefragt, eigenhändig umgestaltet und damit Sozialer Kulturarbeit eine gute Einstiegsgrundlage bietet, denn sie schafft für ihre BetrachterInnen niedrigschwellige Auseinandersetzungsangebote mit Kunst. Bei einem genaueren Blick auf die klassische Intention von Street-Art ist festzustellen, dass diese eigentlich darin begründet ist, den öffentlichen Raum für die Menschen zurückzugewinnen, diesen visuell mitzugestalten und/ oder Kritik an bestehenden Ungerechtigkeiten und übertriebenem Kapitalismus auszuüben. Betrachtet man Werbung im Street-Art- Look, fällt die Diskrepanz zwischen zu vermittelndem Inhalt und dem gewählten Medium auf. Street-Art äußert in deutlicher Form Kritik an Staat und Gesellschaft und dringt in die Lebensräume der Menschen vor. Dabei bleibt sie immer das, was sie eigentlich ist: Street-Art, vereinfacht Graffiti, noch stärker vereinfacht: Schmiererei von irgendwem. Und hier liegt ihr großer Vorteil gegenüber der Kunst im Museum. Street-Art wird von vielen Menschen nicht als echte Kunst, sondern als Vandalismus angesehen. Sie erhebt, entgegen der echten Kunst im Museum, nicht den Anspruch, tiefgründig zu sein, und vermittelt diesen den BetrachterInnen auch nicht auf eine subtile Weise. Das, was sie zu sagen hat, sagt sie frei heraus. Street-Art kann von jedem in gut, schlecht, schön oder hässlich unterteilt werden, ganz ohne die Gefahr, sich dabei lächerlich zu machen, weil man ein Bild etwa nicht verstanden hat. Jeder darf mitreden und eine eigene Meinung zur Sache haben, auch wenn er „keine Ahnung hat“. Street-Art kann und will sich der Meinung der Menschen nicht entziehen, so wie die „richtige“ Kunst im Museum dazu in der Lage ist, die von „echten“ KünstlerInnen gemacht wurde. Street- Art steht der Sozialen Arbeit und ihren Paradigmen viel näher als z. B. der Werbung, und trotzdem haben sich Projekte uj 4 (2009) 173 soziale kulturarbeit Sozialer Kulturarbeit bisher meistens damit begnügt, zeitlich stark befristete Graffiti-Workshops in Jugendzentren anzubieten. Um zu guten, nachhaltigen Ergebnissen zu gelangen, ist allerdings mehr nötig. Street-Art wird hier als ein Einstieg zur besseren Wahrnehmung von Kunst und Kultur seitens der AdressatInnen betrachtet. Sie sollen für die Abbildungen in ihrer Lebenswelt begeistert werden. Ziel ist die Auseinandersetzung mit etwas Neuem, ein Aufbruch des Normalen, nach dem irgendwann die Frage kommt: Ist da noch mehr zum Anschauen? Was für Bilder gibt es im Museum? Bevor jemand sich das erste Buch kauft, steht ja auch der Prozess des Lesen-Lernens an, als Analphabet in einer Buchhandlung zu stehen, ist kein schönes Gefühl. Will man eine/ n motivierte/ n MuseumsbesucherIn gewinnen, fängt die Arbeit ebenfalls früher an. Legt man Schiller aus, ist jedes Bild ein Probierstein, ähnlich wie ein Buch können Kunst und Kultur durch die Faktoren Zeit, Auseinandersetzung und Erfahrung ganz subjektiv gelesen werden. Dabei schreiten die von Schiller beschriebenen Prozesse immer weiter voran und formen den Menschen, schenken ihm Kreativität, zeigen ihm neue Wege. Gewinnen der Blicke Doch wie sehen die Bilder aus, mit denen man Kunst lesen-lernen kann? Das Geheimnis des Erfolgs liegt auch hier wieder in einer lebensweltorientierten Ausrichtung der Abbildungen. Soll Street-Art also als Werkzeug erster kultureller Partizipation eingesetzt werden, muss sie ihr ursprüngliches Wesen bewahren und mit provokanten Bildern im Lebensraum der AdressatInnen erscheinen. Sie greift in einer herausfordernden, problematisierenden Art und Weise alltägliche Thematiken der Menschen auf, von denen sie wahrgenommen werden möchte, und erhebt diese dadurch aus der Rolle der bloßen Be- Abb. 2 Quelle: Fotomontage A. Kuhlmann/ J. Braun, unter Verwendung eines Fotos von MattFromLondon@Flickr.com (Motiv „Maid“ von Banksy) 174 uj 4 (2009) soziale kulturarbeit trachterInnen in die von RezipientInnen. Drastische, provozierende Abbildungen, die offensiv mit Problemen umgehen oder unterschwellige Gefühle veranschaulichen, sind in der Lage, Diskussionen anzuregen. Bevor aber eine Diskussion stattfinden kann, muss eine Auseinandersetzung des Individuums mit dem Gesehenen passiert sein. Kommt es zu einer öffentlichen Diskussion, in welcher Form auch immer, über ein Werk der Street-Art, ist ein soziokulturelles Teilziel erreicht worden. Das Normale, der Alltag wurde aufgebrochen durch ein Bild. Mit diesem hat eine Beschäftigung stattgefunden, der/ die RezipientIn ist zu einer eigenen Expertenmeinung gekommen und kann seine/ ihre Einschätzung in einer Diskussion vertreten. Aus der passiven in die aktive Rolle Hier birgt sich auch weiteres Potenzial, Street-Art als Methode Sozialer Kulturarbeit anzuwenden. AdressatInnen könnten durch den offensiven Charakter der Abbildungen zu einer Mitgestaltung dieser angeregt werden. Durch die Einbeziehung von soziokulturellen Institutionen, etwa Malschulen, kann die Soziale Arbeit Menschen im Sinne eines „Jetzt komme ich auch mal zu Wort“ zu mehr Partizipation bei der Gestaltung und Nutzung ihres Lebensraums verhelfen. „Kreatives Handeln schafft eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Sichtweisen zum Alltagsgeschehen. Als Gestaltungsversuch ist ein künstlerischer Prozess immer auch ein Erkundungsgang“ (Schultz 2007, 195). Eine darauf ausgerichtete Anwendung wäre, ganz im Gegensatz zu ihrem kommerziellen Einsatz als Werbeträger, mit der ursprünglichen Idee von Street-Art ohne Weiteres vereinbar. Soziale Arbeit muss einen Weg finden, wieder mehr Menschen für die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur zu gewinnen. Museen, Theater, Malschulen sind voller Schätze, die nur auf die Augen warten, die sie in sich aufnehmen. Nur wird niemand kommen, solange er weder von ihrer Existenz noch um ihren Wert für sich weiß. Die Wege aus diesem Dilemma sind in einem lebensweltorientierten Einsatz von Kultur zu finden, für nichts anderes wird sie geschaffen. Bei guter Kunst geht es nicht mehr um ein technisch perfekt gemaltes Bild, das weit weg in einem unerklimmbaren Elfenbeinturm hängt, es geht darum, Menschen zu packen und Normalitäten aufzubrechen. Auf welche Weise kann dies geschehen? Es müssen gesellschaftliche Prozesse berücksichtigt werden, die im Alltag wirken: Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche schreitet unaufhaltbar voran. Der Alltag und damit auch die Wahrnehmung von Kultur bzw. der Konsum von Kulturgütern können sich dem nicht entziehen. Ökonomisierung wirkt auch auf den Umgang und die Wahrnehmung von Zeit: „Zeitausnutzung, Zeitökonomie sind so alt wie moderne Wirtschaften. Allerdings wird im Zuge der Entwicklung neuzeitlicher Planung der Umgang mit Zeit so rationalisiert, dass er sämtliche Bereiche des Lebens, Lernens und Arbeitens verändert. Sozialgeschichtlich betrachtet prägt sich seit dem 16. Jahrhundert immer stärker eine Lebensführung als vernünftig aus, die die gegebene Gegenwart zu nutzen versteht, um zukünftige Ziele zu erreichen. Gründlichkeit allein - wie sie im alten Handwerk gefordert war - genügt nicht mehr, wenn die Ware nicht auch schnell geliefert werden kann“ (vgl. Treptow 2001, 163). Street-Art-Künstler wie Banksy haben Antworten auf fehlendes Kunstinteresse, fehlende Einstiegsmöglichkeiten und kulturelle Zeitökonomie der BetrachterInnen gefunden. Sie agieren auf der Straße und verbreiten ihre Werke mittels Sprühschablonen zigfach in hohem Tempo. Ähnliches ist im Bereich der Fotografie pasuj 4 (2009) 175 soziale kulturarbeit siert: Fotos werden nicht mehr nur mit technisch hochwertigen Kameras, sondern immer und überall mit dem Handy gemacht. Zum Entwickeln müssen die Filme auch nicht mehr gebracht werden, man kann sie sofort am PC anschauen. Nicht mehr 24 oder 36 Aufnahmen auf einem Film sind der Standard, manche Digitalkamera schießt 500 Bilder, Speicher leeren und weiter. Doch bedeutet das, was in der Welt der Fotografie als Fortschritt gefeiert wird, für die Malerei/ Kunst einen Rückschritt und damit womöglich einen Verlust der für das Individuum so positiven Effekte? Die von Gottfried Boehm in seinem Buch „Was ist ein Bild? “ diskutierte Feststellung Gadamers, ein Bild würde nicht besonders gut sein, nur weil es die perfekte Nachbildung von etwas ist, also etwas Gegebenes wiederholt, sondern dann, wenn es schafft, ein Zuwachs für das Bestehende zu sein, räumt diesen Verdacht aus. Denn nach dieser Ansicht geht es bei einem gelungenen Bild nicht darum, technisch besonders ausgereift zu sein, sondern darum, etwas Lebendiges darzustellen und eine Bereicherung für die BetrachterInnen zu sein (vgl. Boehm 2006, 33). „In extremis verleugnet sich das Bild als Bilde ganz, um die perfekte Repräsentation einer Sache zustande zu bringen. Dieses Ziel erreicht es, wenn wir als Betrachter getäuscht werden, das Bild für das Dargestellte selbst halten, es als Bild gleichsam übersehen … Hier verbindet sich wiederum die Idee des Lebendigen mit dem Bild“ (ebd., 34). Und so meint Boehm auch nicht die technisch vollkommene Imitation eines Gegenstands als perfekte Repräsentation einer Sache, sondern wenn wir als BetrachterInnen das Gefühl haben, „vollkommen im Bilde zu sein“, etwa dadurch, dass es Dinge anspricht, die auch in unserer eigenen Lebenswelt Thema sind. Wenn ein Schablonengraffiti es also schafft, die BetrachterInnen zu packen, so kann deswegen nicht von einem Untergang der Malerei und Museen gesprochen werden, das Gegenteil ist der Fall. Genau hier sollte Soziale Kulturarbeit anknüpfen und sich die Möglichkeiten, die Street-Art bietet, eben die Normalität aufzubrechen und mehr Menschen zu einer Begegnung mit Kunst und Kultur zu verhelfen, aneignen. Dadurch könnte sie vielen Menschen zumindest einen kleinen Teil kultureller Partizipation zukommen lassen. Dass dies funktionieren kann, belegt u. a. der Nord-Londoner Stadtbezirk Islington. Seit 2007 setzt der Stadtrat dort auf ausdrücklichen Wunsch der BürgerInnen seine Angestellten dazu ein, Graffiti von Banksy längstmöglich zu erhalten und regelmäßig zu pflegen. Durch andere Graffiti beschädigte Werke wurden seitdem bis zu fünfmal restauriert und konserviert. Die anfallenden Kosten werden durch Steuergelder finanziert. Literatur Banksy (Künstlername), 2 2006: Wall and Piece. London Boehm, G., 4 2006: Was ist ein Bild? München Bourdieu, P., 4 1987: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main Buchkremer, H., 1995: Handbuch Sozialpädagogik: Dimensionen sozialer und gesellschaftlicher Entwicklungen durch Erziehung. Darmstadt Fleischner, S., 2004: Besucherbefragung der Kunsthalle Emden 2003/ 2004. Interner Endbericht. Emden Nannen, E., 2006: Vorwort. In: Ohmert, C./ Sommer, E., 2006: 20 Jahre Kunst Aktiv. Emden, S. 8 - 9 Ohmert, C./ Sommer, E., 2006: 20 Jahre Kunst Aktiv. Emden Schiller, F., 2006: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Stuttgart Schilling, J., 2005: Soziale Arbeit. Geschichte - Theorie - Profession. München/ Basel 176 uj 4 (2009) soziale kulturarbeit Schultz, K., 2007: Soziale Kulturarbeit im Studiengang Soziale Arbeit. In: Unsere Jugend, 59 Jg., H. 5, S. 194 - 205 Statistisches Bundesamt 2007: Bildungsstand der Bevölkerung. Wiesbaden Treptow, R., 2001: Kultur und Soziale Arbeit. Aufsätze. Münster Websites zu Street-Art www.banksy.co.uk www.woostercollective.com www.themantisproject.co.uk Der Autor Jan Braun Ringstraße 28 a 26721 Emden j.p.braun@gmx.de 5., durchges. Aufl. 2008. 287 Seiten. 41 Abb. 7 Tab. 170 Lernfragen. UTB-L (978-3-8252-8311-7) kt Dieses Standardwerk führt grundlegend in die Didaktik und Methodik Sozialer Arbeit ein. Es hilft den Studierenden dabei, Konzepte für die praktische • Arbeit zu entwickeln, Lösungen praktischer Aufga- • ben strukturiert und zielorientiert zu erarbeiten, Arbeitsschritte theoretisch • begründen zu können, die Wirksamkeit der eigenen • Arbeit zu überprüfen. Dieses Arbeitsbuch ist reichhaltig mit didaktischen Elementen ausgestattet. Der Leser findet Verständnisfragen zum Text, Lernfragen zur Prüfungsvorbereitung, Zusammenfassungen und zahlreiche Informationskästen, die die Ausführungen nochmals auf den Punkt bringen. a www.reinhardt-verlag.de