unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Selbstbewusst und schön! Suchtprävention und Beratung für jugendliche Mädchen auf dem Hintergrund sich wandelnder Mädchen- und Frauenbilder
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Susanne Herschelmann
In der neuesten Ausgabe der Nachrichten des Evangelischen Pressedienstes (vom 6.2.2009) wird die Bundesdrogenbeauftragte Sabine Bätzing zitiert. In den aktuellsten Analysen bezüglich der wegen einer Alkoholvergiftung stationär behandelten Jugendlichen lag die Zahl der zwischen 10- und 15-Jährigen bei 3.800, stellt sie besorgt fest. Mehr als die Hälfte dieser behandelten Jugendlichen waren Mädchen (1.942).
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uj 5 (2009) 213 Unsere Jugend, 61. Jg., S. 213 - 220 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Selbstbewusst und schön! “ Suchtprävention und Beratung für jugendliche Mädchen auf dem Hintergrund sich wandelnder Mädchen- und Frauenbilder Susanne Herschelmann In der neuesten Ausgabe der Nachrichten des Evangelischen Pressedienstes (vom 6. 2. 2009) wird die Bundesdrogenbeauftragte Sabine Bätzing zitiert. In den aktuellsten Analysen bezüglich der wegen einer Alkoholvergiftung stationär behandelten Jugendlichen lag die Zahl der zwischen 10- und 15-Jährigen bei 3.800, stellt sie besorgt fest. Mehr als die Hälfte dieser behandelten Jugendlichen waren Mädchen (1.942). suchtprävention Die Drogenaffinitätsstudie 2007 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) deutete diesen Trend schon an: Es wurde bezogen auf die Gesamtmenge des konsumierten Alkohols und der Konsumentwicklungen deutlich: Bei den 12bis 15-jährigen Mädchen ist ein Anstieg bei allen Getränken außer bei spirituosenhaltigen Alcopops zu verzeichnen. Der größte Zuwachs findet sich bei Bier. Erweitert sich der Blick auf die 16bis 17-jährigen Mädchen kann besonders in Bezug auf den Konsum spirituosenhaltiger Getränke gesagt werden: Bei Mädchen im Alter von 16 bis 17 Jahren steigt der Anteil monatlicher Spirituosen-Konsumentinnen um 10 Prozentpunkte, von 24 auf 34 %, an (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2007). Ein ähnlicher Trend wird beim Tabakkonsum deutlich. Insgesamt - das zeigt die Drogenaffinitätsstudie - sinkt zwar die Zahl der rauchenden Jugendlichen, die Zahl der rauchenden Mädchen und Frauen steigt jedoch kontinuierlich an. Besonders die gesundheitlichen Gefahren für junge Mädchen und Frauen werden in den oft noch zu wenig „gendersensibel“ ausgerichteten Suchtpräventionskonzepten und in der Beratung kaum berücksichtigt. 1998 formulierte Bettina Schmidt: „Der insgesamt eher mäßige Konsum leichter und schlanker Zigaretten und der Konsum von Wein und Sekt symbolisiert u. a. Weichheit, Schlank-Sein, Schönheit und Erotik als typisch weibliche Attribute“ (Schmidt 1998, 80). Susanne Herschelmann Jg. 1964; Diplom- Theologin, Leiterin der Beratungsstelle Kajal/ Frauenperspektiven e.V. 214 uj 5 (2009) suchtprävention Können wir 2009 in Bezug auf Konsummuster und Konsumformen noch von weichen Konsumformen bei Mädchen sprechen? Oder passen sich diese den sich wandelnden Weiblichkeitsbildern an? Über jugendliche Mädchen wird in den letzten Jahren besonders in den Medien berichtet, dass sie in Bezug auf Bildung und soziale Kompetenz die Jungen schon längst überholt haben, der Begriff Alpha-Mädchen macht die Runde. Mädchen sind selbstbewusst, cool und schön. Jungen und Männer sind in der Krise, in einer Identitätskrise bezüglich ihrer Männlichkeit. In den Präventionsveranstaltungen und in den Beratungen jugendlicher Mädchen bei Kajal, einer Sucht-, Drogen- und Essstörungsberatungsstelle für jugendliche Mädchen und junge Frauen, zeigen sich aber auch für Mädchen einige „Stolpersteine“, die auf dem Weg zum Erwachsenwerden und in der Entwicklung hin zu einer erwachsenen Frau Krisen auslösen können. Im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum nennen Mädchen verschiedene Motive und Themen. Ich beschränke mich hier auf zwei Themenschwerpunkte: Körper/ Körperbild und Gestaltung von Sexualität, die in dem Kontext eher weniger Aufmerksamkeit erhalten. Bevor ich auf beide Themen eingehe, stelle ich einige Grundannahmen vor, die den Blick und Schwerpunktsetzung in der Arbeit bei Kajal verdeutlichen. Mädchen stehen in der Lebensphase Pubertät vor der Aufgabe, ein Selbstkonzept als erwachsene Frau zu entwickeln In dieser Lebensphase stellt sich für Mädchen die Frage: Wie entwerfe ich mich als erwachsene Frau und wie präsentiere ich mich im Jahr 2009 als solche? (vgl. Franzkowiak/ Helfferich/ Weise 1989) Die Entwicklung eines Selbstkonzeptes erfolgt in aktiver Auseinandersetzung mit anderen Jugendlichen, den gesellschaftlichen Bildern, Normen und Rollenzuweisungen. Dabei orientieren Mädchen sich an den gesellschaftlichen Vorgaben und Bildern und setzen diese in persönlichen Entwürfen um. Die Bilder und Botschaften besonders aus den Medien dienen zur Orientierung und haben eine wichtige Funktion: Sie bieten vielfältige Möglichkeiten, „sich zu entwerfen“ und das Selbstbild zu gestalten. Die Botschaften dieser Bilder heute sind einerseits vielfältig, die Facetten von Frau- oder Mann-Sein erscheinen größer, beliebiger, jedoch finden gleichzeitig Einschränkungen statt. Zwei zentrale Botschaften, die sich gerade in Frauenbildern wiederfinden, sind: Alles ist erlaubt, der Körper jedoch soll jung, schön und perfekt sein. Dahinter steht: Du hast Erfolg und bist glücklich, wenn du in einem perfekten, jungen Körper steckst (vgl. Zeitschrift Schüler 2002, 52ff). Ein weiteres Postulat der Fitnessgesellschaft heißt: „Schönheit ist machbar.“ Frauen und Männer haben die Macht, auf ihren Körper einzuwirken, ihn zu verändern und zu gestalten. Der Körper wird mehr und mehr Objekt der Gestaltung, um das Selbst zu inszenieren. Damit wird der Körper zu einem Objekt, der bestimmten Idealen entsprechen soll. Im Zentrum dieses „Körperkultes“ stand lange Zeit der weibliche Körper, zunehmend geraten aber auch die Jungen/ Männer unter Druck. Aufgrund der Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Schnelllebigkeit der „Bilder“ ist Orientierung zu einer hohen Anforderung, zu einem Stressfaktor geworden. Es ist heute nicht leicht, eine klare Vorstellung von dem eigenen „Selbst“ zu entwickeln, bei äußeren, oft widersprüchlichen Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit (vgl. Haag 2007, 2). Vor diesem Hintergrund spielt der uj 5 (2009) 215 suchtprävention Faktor Stress bei dem Thema Suchtmittelkonsum eine wichtige Rolle. Mädchen formulieren als Konsummotiv häufig Stress. Analysiert man die Faktoren, die diesen ausmachen, kann das Thema Orientierung in Bezug auf Rollenerwartungen von Bedeutung sein. Dahinter steht die Frage: „Wie entwirft und verhält sich eine als erwachsen geltende moderne Frau im Jahr 2009“? Auch der Konsum von Suchtmitteln oder der Umgang mit dem Thema Essen können in der Entwicklung dieser Konzepte/ Selbstbilder eine Rolle spielen. Mädchen und Jungen befinden sich in diesem Lebensabschnitt in einer Phase der Orientierung und des Experimentierens - auch des Experimentierens mit Suchtmitteln. Interessant ist, was jugendliche Mädchen oder Jungen in einer bestimmten Situation mit einem Suchtmittel verbinden und welche Botschaft oder auch welchen Symbolgehalt der Gebrauch des Suchtmittels dann enthält: Das Glas Sekt oder Whisky z. B., das von einem älteren Jungen einem Mädchen angeboten wird, symbolisiert eine Anerkennung von Erwachsensein und Schon-Frau-Sein, was dann impliziert, reif zu sein u. a. für sexuelle Erfahrungen. Nimmt das Mädchen dieses Glas an, sichert der Konsum diese Anerkennung. Suchtmittel, legale oder illegale, sind in diesem Zusammenhang als Symbolträger zu verstehen. Was wollen Mädchen mit dem Konsum lösen? Welche Botschaften wollen sie vermitteln? Der Konsum ist weniger Ausdruck der Persönlichkeit oder eines persönlichen Defizits, sondern unterstützt die Suche nach einem persönlichen Stil. Oft geht es darum, einem Wunschbild entsprechen zu wollen, das nicht den realen Gegebenheiten und Möglichkeiten entspricht. Mädchen orientieren sich z. B. an dem medial vermittelten Wunschbild des selbstbewussten, starken und coolen Mädchens. Mögliche Widersprüche oder Konflikte entstehen z. B. dadurch, selbstbewusst und cool wirken zu wollen, aber keinen Ort zu haben, Unsicherheiten, Ängste oder Zurückhaltung leben zu können. Es stellt sich die Frage, ob das gezeigte Selbstbewusstsein mehr Ausdruck innerer Wunschbilder in Form eines Stils ist als die Folge realer Erfahrungen. Daneben muss z. B. der Widerspruch gelöst werden, dass zwar Normen und Ziele der „Mittelschicht“ in den Frauenbildern vermittelt werden, diese aber oft besonders für Mädchen aufgrund sozialer oder kultureller Unterschiede nicht erreichbar sind. Solche Widersprüche und Konflikte, die sich durch Wunschbild und reale gesellschaftliche Möglichkeiten ergeben, können mit Suchtmitteln „imaginär“ gelöst werden (vgl. Helfferich 1994, 9ff). Schon aus diesen Grundannahmen ergeben sich einige Themen für die Suchtprävention und Beratung: • Selbstbewusstsein - ein Stilmittel? • Orte schaffen, um Unsicherheiten, Ängste oder Zurückhaltung leben zu können; • Orientierung bezüglich einer Rollen- und Identitätsfindung als Stressfaktor berücksichtigen; • Identitätsexperimente ermöglichen, Rollenerwartungen thematisieren; • Widersprüche in den Frauen- und Männerbildern aufdecken und besprechbar machen; • Aufmerksamkeit entwickeln für Widersprüche und Konflikte, die sich durch Wunschbild und reale gesellschaftliche Möglichkeiten ergeben können. Körper und Körperbild Gesellschaftlich kann eine starke Fokussierung auf den Körper festgestellt werden, aber auch unabhängig davon spielt in der Adoleszenz unter Jugendlichen das Thema Körper und Körperinszenierung eine 216 uj 5 (2009) suchtprävention große Rolle. Die zentrale Bedeutung des Körpers ist - so könnte man sagen - „adoleszenztypisch“, weil • die Entwicklung eines Selbstkonzeptes zur erwachsenen Frau begleitet ist von großen körperlichen Veränderungen und • der Körper die Fläche bietet, Geschlechtszugehörigkeit zu präsentieren und sich darzustellen. Der Körper, das Körperbild und damit das Aussehen spielen also für Mädchen in der Gestaltung eines Selbstkonzeptes (Identität) eine zentrale Rolle. Monika Bormann schreibt in einem Aufsatz (2005, 41): „Mädchen in der frühen Phase der Adoleszenz haben verstanden, dass es von nun an um ihre Schönheit gehen wird. Schönheit ist der Wert, mit dem Mädchen und Frauen Macht und Einfluss gewinnen können. Folglich bemühen sie sich um die Herstellung der Schönheit. Die gesellschaftliche Norm ,Schön-Sein‘ zu erfüllen, gibt Halt. Das eigene Selbstwertgefühl stellt sich stark über das Aussehen her.“ Mit zunehmendem Alter der Mädchen und der größer werdenden Bedeutung des Aussehens sinkt die Wertschätzung eigener Fähigkeiten und schulischer Leistungen (vgl. Flaake/ King 1995, 64ff). Das Aussehen wird zum Element des Selbstbewusstseins und der Bestätigung. Gleichzeitig geben Schönheitsideale das Gefühl, dass etwas am Körper nicht stimmt, nicht gut genug ist. Die herrschenden Schönheitsideale schaffen eine immer größer werdende Diskrepanz zwischen realen Frauenkörpern und Idealen. Die Ideale werden immer schlanker und über Computerbearbeitung stark manipuliert. In der Robert Koch Studie 2007 „Essstörungen im Kindes- und Jugendalter“ (Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys, KiGGs) wird formuliert: „Ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen, vorzugsweise Mädchen und junge Frauen, setzen sich intensiv mit ihrem Erscheinungsbild auseinander und entwickeln, häufig auf Grundlage von Idealbildern, Wunschvorstellungen von ihrer Figur. Auch aus den KiGGS-Daten gibt es starke Hinweise darauf, dass der Einfluss dieses gesellschaftlichen Ideals beträchtlich ist“ (vgl. Hölling/ Schlack 2007, 798). In einer Teilstudie von B. Kurth und U. Ellert des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (Deutsches Ärzteblatt 2008, 406ff) mit dem Titel „Gefühltes oder tatsächliches Gewicht: Worunter leiden Jugendliche mehr“ heißt es: Mädchen halten sich signifikant häufiger für „ein bisschen zu dick“ oder „viel zu dick“ als Jungen. Die Mädchen, die eigentlich ein Normalgewicht haben, sich aber „zu dick“ fühlen, geben an, sich bezüglich des Selbstwertgefühls und der psychischen Lebensqualität enorm beeinträchtigt zu fühlen. Sehr interessant an dieser aktuellen Studie ist, dass die subjektive Einschätzung der Jugendlichen, „viel zu dick“ zu sein, die Lebensqualität mehr beeinflusst als die objektive. Adipöse jugendliche Mädchen, die in ihrer Selbsteinschätzung ihr Gewicht als „genau richtig“ eingestuft haben, weisen eine höhere Lebensqualität auf als Normalgewichtige, die sich für „zu dick“ halten. Auch Suchtmittel werden als Schlankmacher eingesetzt Die Studie des Instituts für Therapie- und Gesundheitsforschung Nord stellte bei den befragten SchülerInnen fest: Mädchen berichten fast doppelt so häufig wie Jungen zu rauchen, um nicht zuzunehmen. Etwa die Hälfte der Mädchen (51 %) macht sich Sorgen um ihr eigenes Gewicht (Jungen 13 %) (vgl. Morgenstern/ Wiborg/ Hanewinkel 2007, 9). Und auch die Robert Koch Studie (2007, 796) zeigt: Bei den in ihrem Essverhalten auffälligen 14bis 17-jährigen uj 5 (2009) 217 suchtprävention Mädchen und Jungen konnten gegenüber den unauffälligen Jugendlichen erhöhte Raucherraten belegt werden. Zentral für Mädchen ist also die „richtige Figur“, die in diffuser Weise das erwünschte „gute Leben“ verspricht. Neben Appetitzüglern, Abführmitteln, dem Rauchen erhalten auch andere Drogen bzw. Suchtmittel die Funktion des „Schlankmachers“. Ein Wochenende mit E’s (Ecstasy) auf einem Rave bringt drei Kilo, erzählte ein Mädchen in der Beratung. Es wird aber auch häufig in den suchtpräventiven Veranstaltungen diskutiert, ob Cannabis den Hunger eindämmt und damit ein geeignetes Hilfsmittel zum Abnehmen ist oder eher Fressattacken hervorruft. Ein anderer Aspekt ist der, dass weibliches Selbstwertgefühl in starkem Maße von Männern abhängig werden kann (Bormann 2005, 41): „In der Entwicklung eines Selbstbildes müssen sich alle Mädchen damit auseinandersetzen, ‚sich zum Objekt männlicher Blicke‘ zu machen, zum Objekt der offenen Begutachtung, der Bewertung und Kommentierung.“ Mädchen sind nicht mehr einfach schön oder nicht schön, sie werden begehrt oder nicht begehrt. Sie müssen den Umgang mit dem männlichen Blick lernen. Kommentare und Blicke können das positive Körpergefühl eines Mädchens fördern, aber auch gefährden oder gar zerstören. Die oft respektlosen und abwertenden Kommentare von MitschülerInnen oder FreundInnen spielen aus meiner Sicht eine bisher in den präventiven Konzepten viel zu wenig beachtete Rolle. Zusammengefasst kommt man zu folgender Beobachtung: Vor allem die Form des Körpers und die Gestaltung der Körperoberfläche sind für die Mädchen zur Verortung ihres Selbstbildes und ihrer Selbstdarstellung als sexuelles und soziales Wesen so bedeutsam, dass der Körper als „Auseinandersetzungs-Plattform“ mit der Welt begriffen werden kann. Gefühle wie Wut, Angst oder Unzufriedenheit, aber auch der Umgang mit traumatischen Erlebnissen werden am eigenen Körper verortet. Konflikte und Probleme, die in anderen Zusammenhängen entstehen, führen zu Unzufriedenheit mit dem Aussehen und der Körperform. Suchtmittel können die Funktion haben, die Unzufriedenheit mit dem Aussehen und Selbstzweifel zu verringern und sich zufriedener und besser zu fühlen. Alkohol und gerade exzessives Trinken (Binge Drinking), so sagen die Mädchen, befreit sie von dem Druck der Selbstdarstellung und dem Diktat der Attraktivität. Man hat die Möglichkeit, andere Seiten von sich zu zeigen (vgl. Haag 2007, 66ff). Einschränkend ist dazu zu sagen: „Frauen müssen hier gegen die Verhaltensnormen traditioneller Weiblichkeit verstoßen und befinden sich in Gefahr der Abwertung. Männer befinden sich weniger im Konflikt bezüglich ihrer eigenen Geschlechtlichkeit, wenn sie exzessiv trinken“ (ebd., 95). Die Zahlen über den ansteigenden Spirituosenkonsum und das Binge Drinking bei Mädchen zeigen aber, dass Mädchen offensichtlich in Kauf nehmen und auf dem Weg sind, Verhaltensnormen traditioneller Weiblichkeit zu umgehen. Für die Suchtprävention und Beratung heißt das: • die Orientierungsgröße Schönheit ohne Verteufelung aufzugreifen; • den Zusammenhang von Aussehen und Selbstwert/ Selbstbewusstsein deutlich zu machen; • zu fragen: Was stärkt das Selbstbewusstsein noch? • Wunschvorstellungen von der richtigen, idealen Figur ansprechbar zu machen; • das Thema Suchtmittel als Schlankmacher ernst zu nehmen und kritisch aufzuklären; 218 uj 5 (2009) suchtprävention • Körperzufriedenheit und Sich-Wohlfühlen im eigenen Körper methodisch „jugendgerecht“ zum Thema zu machen. Gestaltung von Sexualität Karin Flaake beschreibt in ihrem Aufsatz „Adoleszentes Begehren - Sexuelle Wünsche, Fantasien und Beziehungen junger Frauen“ (2005, 11): „Die Adoleszenz ist eine lebensgeschichtliche Phase, in der die Ausgestaltung sexueller Wünsche und Fantasien eine große Bedeutung hat. Im günstigen Fall haben Frauen dafür einen von äußeren Zugriffen geschützten Raum und genügend Zeit, um eigene Formen des Umgehens mit diesen Impulsen und Gefühlen zu finden. Als eher ungünstig erweist sich also, wenn Mädchen diesen geschützten Raum nicht haben und sehr früh sexuelle Kontakte eingehen.“ Bettina Schmidt formuliert sogar: „Mädchen mit vorzeitigen physiologischen Entwicklungen sind besonders gefährdet für die Entwicklung riskanter Konsummuster“ (1998, 84). Frühzeitige physiologische Entwicklung impliziert nach Schmidt eine erhöhte Belastung durch das Erwachsenwerden und die damit verbundenen Anforderungen und/ oder eventuell vorzeitigen Kontakte mit älteren Jugendlichen und die Übernahme ihrer Verhaltensgewohnheiten, eventuell auch Suchtmittelkonsum (ebd.). Zwar haben sich für Mädchen die Spielräume für ein Experimentieren mit sexuellen Wünschen und Beziehungen erweitert. Sexuelle Erfahrungen sind weniger durch Angst, enge Moralvorstellungen und anderen Faktoren belastet. In der Arbeit der Beratungsstelle Kajal zeigt sich jedoch: Die Anforderungen bezüglich des Themas Sexualität an Mädchen sind hoch und oft widersprüchlich. Mädchen empfinden Stress und äußern sich auch dahingehend. Wie präsentieren sie sich als moderne, emanzipierte Frau auch in dieser Frage? Botschaften zu diesem Thema und darin enthaltene Anweisungen, wie Mädchen sich bezüglich Sexualität verhalten sollen, werden über verschiedene, insbesondere neue Medien und unter Gleichaltrigen transportiert. Einige Botschaften, die für die Mädchen relevant sind und immer wieder aufgrund widersprüchlicher Inhalte zu Konflikten führen können, sind: • Mädchen wollen und sollen schon früh mit einem Jungen geschlafen haben, aber auch nicht zu früh. • Mädchen haben schnell den Ruf „Matratze“ einzustecken, wenn sie sich zu früh auf sexuelle Kontakte einlassen. Andererseits drücken sexuelle Erfahrungen „Erwachsen-Sein“ aus: „Der Status ‚sexuell erfahren‘ ist ein wichtiger Status gerade unter Gleichaltrigen“ (Flaake/ Vogt 2005, 19). Dabei scheint an dieser Stelle Druck zu entstehen. „Jungen und vor allem Mädchen im Alter von 14 und 15 Jahren tendieren dazu, die Zahl ihrer sexuell erfahrenen Altersgenossen und -genossinnen zu überschätzen. Es bleibt jedenfalls sicher nicht ohne Einfluss, wenn Mädchen und Jungen fälschlicherweise davon ausgehen, dass sexuelle Kontakte in ihrem Alter gängig oder jedenfalls weit verbreitet sind“ (vgl. BZgA 2006, 80). Grundlage des Gelingens und damit der Möglichkeit eines lustvollen Genießens von Sexualität ist jedoch ein längerer Erfahrungsprozess, worüber sich die Mädchen oft erst einmal nicht klar sind. Das „erste Mal“ wird daher gerade von Mädchen selten mit „Lust und Genießen können“ in Verbindung gebracht. 22 % der Mädchen und 7 % der Jungen geben an, das erste Mal als „etwas Unangenehmes“ empfunden zu haben (vgl. BZgA 2006, 91). Alkohol und Kokain können für Mädchen z. B. eine große Rolle spielen, um trotz Unsicherheit mit einem Jungen zu uj 5 (2009) 219 suchtprävention schlafen oder durch Medien propagierte Praktiken einzulösen. In der letzten Zeit kann von einer Pornografisierung von Sexualität in den neuen Medien gesprochen werden, die Mädchen unter Druck setzen kann, die über Computer oder Handy „vorgeführten“ Sexualpraktiken selbst zu erfüllen. Noch eine mit dem Thema Sexualität verknüpfte Botschaft vermittelt sich so: Mädchen wollen und sollen aufgeschlossen sein, aber auch nicht zu forsch. Dieser Widerspruch findet seine Entsprechung in inneren Konflikten. Bei Mädchen verbinden sich in der Pubertät die sexuellen Phantasien und Wünsche erstmals mit der physischen Möglichkeit der Fortpflanzung. Daraus kann sich für die pubertierenden Mädchen das Konfliktfeld um Harmonie zwischen mehreren Gegensätzen ergeben: z. B. Sexualwesen und gute Frau bzw. gute Mutter zu sein (vgl. Flaake 2001). Flaake formuliert: „Zwar geht die kulturelle Bestimmung der Weiblichkeit nicht ohne weiteres in Mütterlichkeit auf, aber dennoch ist Weiblichkeit mit Verzicht auf sexuelle Aktivität verknüpft - die längst überfällige kulturelle Symbolisierung von weiblichem Begehren fehlt“ (vgl. Flaake 2001, 21). Ob diese kulturelle Symbolisierung weiblichen Begehrens heute tatsächlich noch fehlt, steht infrage. (Beispiele aus der Musikszene zeigen einen deutlichen Wandel: Lady Bitch Ray, The Peaches, Katy Perry u. a.) Mädchen orientieren sich an dem Bild des/ der selbstbewussten, sexuell aufgeschlossenen Mädchens/ Frau, wissen aber ihre eigenen Bedürfnisse nicht zu benennen und ihre Wünsche oft nicht einzufordern, was natürlich Voraussetzung ist, um selbstbewusst auf diesem Gebiet sein zu können. Damit geht nicht selten die Delegation des eigenen Begehrens nach außen einher. Mädchen inszenieren oft den eigenen Körper als für männliche Blicke attraktiv und orientieren sich daran, für andere begehrenswert zu sein. Dem eigenen Begehren wird kaum Raum gegeben. Das kann zu Selbstwertkrisen führen und mit dem medial vermittelten Wunschbild des selbstbewussten, starken Mädchens kollidieren (vgl. Flaake/ Vogt 2005, 38). Dem eigenen Begehren Raum zu geben, setzt aber voraus, sexuelle Erfahrungen machen zu können. Auf Feten, so berichten Mädchen, betrinken sie sich oder tun so, als seien sie betrunken, um mit mehreren Jungen zu knutschen, ohne gleich als „Schlampe“ zu gelten, als eine, „die es mit jedem macht“. Mädchen entziehen sich angetrunken also einer Stigmatisierung. Gilt bei Jungen das Sich-Ausprobieren und Mädchen-Abschleppen als Aufwertung von Männlichkeit, gehen Mädchen immer noch die Gefahr ein, an Ruf zu verlieren, wenn sie sich ausprobieren. Das Betrunkensein oder Angetrunkensein kann für Mädchen eine kulturelle Erlaubnis sein, sich sexuell auszuprobieren und zu experimentieren. „Unter dem Schutzmantel der Alkoholisierung sind manche Grenzüberschreitungen und Verantwortungslosigkeiten erlaubt. Alkoholkonsum bietet eine Nische“ (Haag 2007, 72). Daraus ergibt sich für die Suchtprävention und Beratung: • Sexualität enttabuisieren und ansprechbar machen; • Gehört Sexualität zum Cool- und Selbstbewusst-Sein, zum Enthemmt- Sein dazu? • Der Enthemmung die Möglichkeit der Begrenzung hinzufügen; • Sicherheitsstandards der Begrenzung vermitteln und begründen (besonders im Umgang mit Alkohol und mit dem Chatten). Informationen zu den Angeboten von Kajal finden Sie unter www.kajal.de. 220 uj 5 (2009) suchtprävention Literatur Bormann, M., 2005: Ihren Körper im Blick des Mannes erkennen. In: Vogt, I.: Frauen-Körper, Lust und Last. Band 2. Tübingen, S. 41ff Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 2006: Studie zu Sexualität und Körper. Köln Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 2007: Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2007. Teilband Alkohol. Köln Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 2005: Entwicklung des Alkoholkonsums bei Jugendlichen unter besonderer Berücksichtigung der Konsumgewohnheiten von Alkopops. Kurzbericht Alkopops. Köln Evangelischer Presse Dienst, epd sozial, 6. 2. 2009 (Nachricht ohne Angabe eines Autors) Flaake, K., 2001: Körper, Sexualität und Geschlecht. Gießen Flaake, K./ King, V. (Hrsg.), 3 1995: Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen. Frankfurt/ New York Franzkowiak, P./ Helfferich, C./ Weise, E., 1998: Geschlechtsspezifische Suchtprävention. Praxisansätze, Theorieentwicklung, Definitionen. Köln Haag, M., 2007: Binge drinking als soziale Inszenierung. Zur geschlechtlichen Bedeutung exzessiven Alkoholkonsums. Freiburg Helfferich, C., 1994: Körper, Jugend, Geschlecht. Die Suche nach sexueller Identität. Opladen Hölling H./ Schlack, R., 2007: Essstörungen im Kindes- und Jugendalter - Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS), hrsg. vom Robert-Koch-Institut. Berlin Kurth, B./ Ellert, U., 2008: Teilstudie des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys: „Gefühltes oder tatsächliches Gewicht. Worunter leiden Jugendliche mehr“. In: Deutsches Ärzteblatt, 105. Jg., H. 23, S. 406 - 412 Morgenstern, M./ Wiborg, G./ Hanewinkel, R. 2007: Rauchen im Jugendalter: Geschlechtsunterschiede, Rolle des sozialen Umfelds, Zusammenhänge mit anderen Risikoverhaltensweisen und Motivation zum Rauchstopp - Ergebnisse einer Schülerbefragung. Kiel Schmidt, B., 1998: Suchtprävention bei konsumierenden Jugendlichen. Weinheim/ München Vogt, I., 2005: Frauen-Körper, Lust und Last. Band 2. Tübingen Zeitschrift Schüler 2002. Statussymbol Körper Die Autorin Susanne Herschelmann Kajal/ Frauenperspektiven e.V. Hospitalstraße 69 22767 Hamburg E-Mail: herschelmann.kajal@ frauenperspektiven.de
