unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
91
2009
619
Frauen in sozialer Verantwortung: Frieda Duensing
91
2009
Manfred Berger
Zum großen Teil waren es Frauen, die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik maßgeblich beeinflussten. Sie haben Akzente gesetzt und Impulse gegeben, die bis heute nachwirken. Leider sind viele von ihnen im Laufe der Zeit immer mehr in Vergessenheit geraten. Manfred Berger wird in "Unsere Jugend" solche bahnbrechenden Frauen in unregelmäßiger Folge vorstellen.
4_061_2009_009_0389
uj 9 (2009) 389 Unsere Jugend, 61. Jg., S. 389 - 392 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Frauen in sozialer Verantwortung: Frieda Duensing Manfred Berger Zum großen Teil waren es Frauen, die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik maßgeblich beeinflussten. Sie haben Akzente gesetzt und Impulse gegeben, die bis heute nachwirken. Leider sind viele von ihnen im Laufe der Zeit immer mehr in Vergessenheit geraten. Manfred Berger wird in „Unsere Jugend“ solche bahnbrechenden Frauen in unregelmäßiger Folge vorstellen. porträt Johanna Frieda Duensing erblickte am 26. Juni 1864 in Diepholz/ Niedersachsen das Licht der Welt. Über ihre Kindheit und frühe Jugend ist nichts Näheres überliefert, nur so viel, dass sie und ihre Geschwister in „Freiheit und Ungebundenheit“ (Huch 1922, 229) aufwuchsen. Frieda Duensing besuchte nach vorbereitendem Unterricht durch eine Erzieherin die „gehobene Bürgerschule“ in ihrem Geburtsort, anschließend die „Städtische Höhere Töchterschule“ in Hannover. In letztgenannter Stadt absolvierte sie noch das „Kgl. Lehrerinnen- Seminar“. Dort erwarb sie die Berechtigung zum Unterricht an mittleren und höheren Mädchenschulen. Der Seminarzeit folgte eine mehrjährige Tätigkeit als Erzieherin und Volksschullehrerin in Rieda/ Thüringen (1888/ 1889) und in Berlin (1890 - 1893). Trotz pädagogischer Begabung und didaktischen Geschicks war ihr der Beruf der Lehrerin auf die Dauer zu wenig befriedigend. Um sich über eine andere Lebensperspektive klarer zu werden, unternahm Frieda Duensing eine ausgedehnte Bildungsreise. Sie hielt sich mehrere Wochen in Frankreich (Paris) auf, bevor sie dann längere Zeit in England (London) und Schottland (Edinburgh) verweilte, um dort das jeweilige Volksschulwesen sowie soziale Einrichtungen dieser Länder kennenzulernen. Nach schweren inneren Konflikten und Selbstzweifeln entschloss sich Frieda Duensing endgültig zur Aufgabe des Lehrerinnenberufs, um „jene von der Frauenbewegung so schwer erkämpften Bildungsmöglichkeiten für anspruchsvolle berufliche Perspektiven wahrzunehmen“ (Zeller 1999, 134). In München holte sie in privaten Kur- 390 uj 9 (2009) porträt sen das Abitur nach, dem ab Oktober 1897 ein Studium der Jurisprudenz an der Züricher Universität folgte. Anfang März 1900 setzte sie ihr Studium in Berlin fort. Die soziale Not, die sie in der Hauptstadt des Kaiserreiches erlebte, hatte Frieda Duensing so ergriffen, dass sie sich entschloss, ein diesbezügliches Thema in ihrer Doktorarbeit aufzugreifen. 1903 legte sie an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Züricher Universität ihre Dissertation mit dem Thema „Verletzung der Fürsorgepflicht gegenüber Minderjährigen. Ein Versuch zu ihrer strafgesetzlichen Behandlung“ vor. Darin zeigte die Promovendin die Mängel auf, die das geltende Familienrecht in Bezug auf die elterliche Gewalt hat. Sie plädierte dafür, dass der Staat seinen Einfluss da verstärken soll, wo Eltern nicht in der Lage oder willens sind, sich um ihre Kinder zu kümmern. Ferner vertrat sie die Auffassung, dass das Rechtsverhältnis innerhalb einer Familie nicht ausschließlich privatrechtlicher Natur ist, auch nicht unter „Berücksichtigung praktischer Umstände sowie sittlicher Ideen, welche sich aus dem tatsächlichen, historisch gewordenen Eltern- und Kindesverhältnis ergeben“ (Duensing 1903, 17). Dazu führte sie näher aus: „Es kann … nicht mehr zweifelhaft sein, daß die elterliche Pflicht der Sorge für das Wohl des Kindes eine Pflicht gegenüber dem Staate, daß ihr gegenüber steht ein Recht des Staates auf Leitung der elterlichen Fürsorge, wie ein ähnliches Recht des Staates gegenüber dem Vormunde nicht zu bezweifeln ist“ (Duensing 1903, 20). Da Frieda Duensing sich in Deutschland nicht als selbstständige Advokatin niederlassen konnte, versuchte sie im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge eine Anstellung zu finden. Da sie keine ihren Vorstellungen entsprechende Tätigkeit fand, ging sie nach Leipzig, um dort das „vorbildliche System der Stadtkinderpflege … in praxi kennen zu lernen“ (Huch 1922, 179). Im März 1904 erreichte die Juristin ein Angebot des „Vereins zum Schutz der Kinder vor Ausnutzung und Mißhandlung“ in Berlin für eine besoldete Tätigkeit innerhalb der neugegründeten „Zentrale für Jugendfürsorge“ (später „Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge“). Sie nahm das Angebot an, da die Einführung des „Bürgerlichen Gesetzbuches“ und der „Fürsorgeerziehung“ eine Neustrukturierung der Wohlfahrtspflege verlangte, die das Wissen über gesetzliche Bestimmungen integriert. In ihrer Antrittsrede als Geschäftsführerin fasste sie die Aufgaben des neugegründeten Vereins wie folgt zusammen: „Die Aufgabe, die sich die Zentralstelle für Jugendfürsorge … gestellt hat, gehört in den Bereich der sogenannten öffentlichen Jugendfürsorge. Dies heißt Ersatz der privaten Fürsorge und muß da eintreten, wo die private mangelt oder nicht ausreicht, also 1. wo die privatrechtlichen Personen nicht dazu angetan sind, die gehörige Entwicklung des Kindes sicher zu stellen, sondern sie geradezu gefährden durch Vernachlässigung, schlechte Behandlung usw., 2. wo das privatrechtliche Kapital zu jenem Zweck nicht ausreicht, Kinder z. B. nicht vor Hunger und sonstigen materiellen Entbehrungen zu schützen, oder, wenn sie krank, nicht Heilung zu verschaffen vermag; wo dieser pekuniäre Mangel zu Überlastung mit gewerblicher Arbeit zwingt usw., 3. wo das Kind durch die Strafgewalt des Staates den privaten Verhältnissen entrissen, Verbrecher, Angeklagter, Sträfling wird“ (Huch 1923, 312). Manfred Berger Jg. 1944; Leiter des Ida-Seele-Archivs zur Erforschung der Geschichte der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik uj 9 (2009) 391 porträt Mit besonderem Engagement setzte sich Frieda Duensing in ihrer Funktion als Geschäftführerin der „Zentrale für Jugendfürsorge“ sowohl für den Auf- und Ausbau der öffentlichen Jugendfürsorge und Jugendgerichtshilfe ein als auch für die rechtlichen Voraussetzungen der weiblichen Vormundschaft. Ein weiteres Anliegen war ihr, das rüde Umgehen männlicher Polizeibeamter mit minderjährigen Prostituierten zu beenden und ausgebildete Sozialarbeiterinnen (damals Wohlfahrtspflegerinnen oder Sozialbeamtinnen genannt) für diese Aufgabe durchzusetzen. Zudem kämpfte sie - entsprechend ihrer Überzeugung und persönlichen Praxis, „Fürsorge“ immer auch als „Hilfe im Einzelfall“ zu begreifen - dafür, dass jugendliche Straftäter nicht einfach in Zuchthäuser weggesperrt werden, sondern diese vielmehr einer professionellen pädagogisch/ psychologischen Betreuung zugeführt werden (vgl. Heining 1999, 60ff). Durch Vorträge, die Frauen in die Pflichten der Vormundschaften einweisen sollten, gewann sie ehrenamtliche Helferinnen. In relativ kurzer Zeit konnte sie 60 Frauen für diese Arbeit begeistern und in zweimal jährlich stattfindenden Kursen schulen. Demzufolge gründete Frieda Duensing 1904 zusammen mit Anna Pappritz - der Vorsitzenden des Berliner Zweigvereins der abolitionistischen Förderation - den ersten „Verband für weibliche Vormundschaft“ in Berlin. Dieser hatte den Zweck, der „Unerfahrenheit der Frauen im öffentlichen Verkehr“ zu begegnen und ihnen „unentgeltlich Unterweisung und Beratung … in allen für die Vormundschaft wichtigen Fragen“ (Duensing 1905, 264) zu bieten. Schnell gelang es Frieda Duensing, ein dichtes Kontaktnetz zwischen der „Zentrale für Jugendfürsorge“, den Vormundschaftsgerichten und den Berliner Fürsorgevereinen aufzubauen: „Sie organisiert Fachkonferenzen, erarbeitet Gesetzesvorlagen z. B. zur Alimenteprozesspraxis und zum Jugendstrafrecht. Sie führt Beratungsstunden durch, hält Vorträge, macht Eingaben bei Behörden, z. B. beim Berliner Polizeipräsidenten wegen der Beschäftigung von Mädchen in Varietévorstellungen. Sie setzt sich für die Einrichtung von Jugendämtern sowie dafür ein, auch die seelische Misshandlung von Heranwachsenden unter Strafe zu stellen. Darüber hinaus hat sie noch zwei eigene Vormundschaften übernommen, setzt sich auch für die Übernahme von Pflegekindern in Landfamilien ein und initiiert die Gründung des Vereins ‚Landaufenthalt für Kinder‘. Ein weiteres Tätigkeitsfeld ist ihr Einsatz für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche, die ihrer Ansicht nach nicht in ‚Irrenanstalten‘, sondern in therapeutische Einrichtungen gehören“ (Zeller 1999, 135). Im Juli 1911 legte Frieda Duensing das Amt der Geschäftsführerin der „Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge“ nieder. Gesundheitliche Probleme und längere Aufenthalte in Lungensanatorien zwangen sie zu diesem Schritt. Ihrem ehemaligen Arbeitsgeber blieb sie weiterhin als Beraterin und Rednerin auf Kongressen verbunden. Ferner arbeitete sie intensiv an der Herausgabe des epochalen Werkes „Handbuch der Jugendpflege“ (1913), das seinerzeit eine klaffende Lücke innerhalb der damaligen Wohlfahrtspflege schloss. Ferner unterrichtete sie in Berlin die Fächer Rechtskunde, Bürgerkunde und Jugendfürsorge an der „Sozialen Frauenschule“, die von Alice Salomon gegründet und geleitet wurde, am renommierten „Pestalozzi-Fröbel-Haus“, der „Viktoria-Fortbildungsschule“, dem „Helferinnen-Seminar des Vereins Jugendheim“ in Charlottenburg sowie an der „Frauenschule der Inneren Mission“. Daneben unternahm sie zahlreiche Vortragsreisen. Von 1916 bis 1918 unterbrach sie ihre Lehrtätigkeit ganz, um sich von einer schweren Lungenerkrankung zu erholen. 392 uj 9 (2009) porträt Im Dezember 1918 übersiedelte Frieda Duensing nach München und hielt dort Vorlesungen in den sogenannten „Kriegslehrkursen für Sozialpflegerinnen und -beamtinnen“. Diese Kurse führten schließlich zur Errichtung einer Sozialen Frauenschule, getragen von der Stadt München, die am 15. Oktober 1919 eröffnet wurde. Die Leitung der Bildungsinstitution wurde ihr übertragen. In ihrer Ansprache zur Eröffnung der Sozialen Frauenschule bilanzierte Frieda Duensing über die eigentliche soziale Arbeitsaufgabe der Sozialarbeiterin sowie über die notwendige professionelle soziale Berufsbildung des weiblichen Geschlechts: „Betrachtete man aber die soziale Arbeit von einer höheren Warte, sagt man sich, daß es bislang noch an eigentlichen Fachleuten der sozialen Arbeit mangelt, daß der Jurist zwar die rechtsgemäße Form, der Arzt ihren hygienischen, der Pädagoge ihren pädagogischen Inhalt, Volkswirt und Politiker die materiellen Grundlagen und Inhalte angeben, die eigentliche soziale Arbeitsaufgabe aber: ‚die Sanierung menschlicher Verhältnisse, die Höherführung menschlicher Lebensläufe‘, die Zusammenfassung jener Faktoren zu diesem klar erkannten Effekt bedeutet; daß sie voraussetzt den Überblick über die juristischen, volkswirtschaftlichen, hygienischen und pädagogischen Seiten der Sache, daß sie erfordert das Entwerfen eines Verbesserungsplans und die Herbeiziehung aller Faktoren der Neugestaltung zu Rat und Tat; erkennt man ferner, daß gerade die Frau in ihrer Eigenart zu dieser schöpferischen sozialen Arbeit berufen und bei entsprechender Schulung dazu befähigt ist - so gewinnt die soziale Berufsbildung der Frau eine viel weitere Bedeutung und das Niveau der Ausbildung eine größere Wirklichkeit. Von dieser Auffassung möchte ich als das höchste Ideal der sozialen Frauenbildung die zu selbständiger schöpferischer Arbeit fähige Sozialarbeiterin bezeichnen“ (zit. n. Hege 1999, 57f). Nur anderthalb Jahre konnte Frieda Duensing das Amt als Direktorin der Sozialen Frauenschule ausüben. Sie starb am 5. Januar 1921 an den Folgen einer schweren Lungenentzündung in München. Noch bis kurz vor ihrem Tod hatte sie an der Entwicklung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, das am 9. Juli 1922 erlassen wurde, maßgebend mitgewirkt. Sie setzte sich dabei dafür ein, Jugendstrafgesetz und pädagogisches Engagement miteinander in Einklang zu bringen. Dem Kind und Jugendlichen wurde das Recht auf Erziehung sowie auf Hilfeleistung seitens staatlicher Institutionen zugebilligt, und zwar nicht nur dem „normalen“ Kind/ Jugendlichen, sondern auch dem gefährdeten, verwahrlosten, kriminellen und behinderten. Literatur Duensing, F., 1903: Verletzung der Fürsorgepflicht gegenüber Minderjährigen. Ein Versuch zu ihrer strafgesetzlichen Behandlung. München Duensing, F., 1905: Vormündernot und weibliche Vormundschaft. In: Die Frau, 12. Jg, H. 5, S. 257 - 265 Duensing, F. (Hrsg.), 1913: Handbuch der Jugendpflege. Langensalza Hege, M., 1999: Die Soziale Frauenschule der Stadt München 1919 - 1945. Zur Geschichte der Professionalisierung geistiger und praktischer Mütterlichkeit. Alling Heining, R., 1999: Frieda Duensing - ihre Bedeutung für die Sozialarbeit. Mühlau (unveröffentl. Diplomarbeit) Huch, R. u. a., 1922: Frieda Duensing. Ein Buch der Erinnerung. Berlin Zeller, S., 1990: Frieda Duensing und die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge Berlin. In: Brehmer, I. (Hrsg.): Mütterlichkeit als Profession? Pfaffenweiler, S. 236 - 240 Zeller, S., 1999: Frieda Duensing. In: Eggemann, M./ Hering, S. (Hrsg.): Wegbereiterinnen der modernen Sozialarbeit. Texte und Biographien zur Entwicklung der Wohlfahrtspflege. Weinheim/ München Der Autor Manfred Berger Am Mittelfeld 36 89407 Dillingen manfr.berger@t-online.de
