eJournals unsere jugend 61/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2009
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Abschaffung des geschlossenen Jugendstrafvollzuges - Anspruch und Wirklichkeit

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2009
Kirsten Heisig
Kirsten Heisig, Jugendrichterin am Amtsgericht Tiergarten und zuständig für den Bezirk Neukölln, nimmt vor dem Hintergrund ihrer mehr als 15-jährigen Berufserfahrung Stellung zum Beitrag von Heinz Cornel "Den Vorrang der Erziehung bei delinquenten Jugendlichen ernst nehmen - Vorschläge zur Abschaffung des geschlossenen Jugendstrafvollzuges und Begründung".
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416 uj 10 (2009) Unsere Jugend, 61. Jg., S. 416 - 418 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Abschaffung des geschlossenen Jugendstrafvollzuges - Anspruch und Wirklichkeit Kirsten Heisig Kirsten Heisig, Jugendrichterin am Amtsgericht Tiergarten und zuständig für den Bezirk Neukölln, nimmt vor dem Hintergrund ihrer mehr als 15-jährigen Berufserfahrung Stellung zum Beitrag von Heinz Cornel „Den Vorrang der Erziehung bei delinquenten Jugendlichen ernst nehmen - Vorschläge zur Abschaffung des geschlossenen Jugendstrafvollzuges und Begründung“. jugendstrafvollzug Die Forderung nach Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Jugendlichen ist nicht neu. Sie ist auch stets eine Überlegung wert, war indes nie weiter von den Realitäten entfernt als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Zwar macht uns die alljährliche polizeiliche Kriminalstatistik glauben, der Bürger nehme überwiegend „gefühlte Kriminalität“ zur Kenntnis, wofür größtenteils die angeblich reißerische Medienberichterstattung verantwortlich gemacht wird. Tatsächlich sei in den die Bevölkerung besonders störenden Deliktsbereichen, wie z. B. den Körperverletzungs- und sonstigen Gewaltdelikten, ein erfreulicher Rückgang - in Berlin teilweise bis um die 20 % - zu verzeichnen. Der Rest der Problematik wird dann auch gerne mit der „erhöhten Anzeigebereitschaft“ der Menschen begründet, die lästigerweise Delikte häufiger anzeigten als noch vor einigen Jahren. Weder den Aspekt der bloßen gefühlten Kriminalität noch die erhöhte Anzeigenbereitschaft kann ich aus praktischer Sicht bestätigen. Im Gegenteil: Die bei mir verhandelten Gewaltdelikte schaffen es meist gar nicht in die Medien, da die Verhandlungen nichtöffentlich stattfinden, und können deshalb auch nicht dementsprechende Realitätsverzerrungen produzieren. Und die Opfer der Straftaten lassen mich immer häufiger wissen, dass sie künftig keine Delikte mehr anzeigen werden, da sie mit den TäterInnen häufig im selben Kiez leben und sich zunehmend bedroht und eingeschüchtert fühlen. Mag die Anzahl der Straftaten von einem Jahr zum anderen zurückgehen, wobei ein Langzeitvergleich bezogen auf Berlin-Neukölln von 1990 bis 2008 einen Anstieg der Körperverletzungsdelikte um 274 % ausweist, die Intensität speziell bei den Gewaltdelikten geht indes meines Erachtens nicht zurück. Letztere wird in keiner mir bekannten wissenschaftlichen Darstellung berücksichtigt. Ich habe es in meinem Zuständigkeitsbereich Neukölln-Nord mit Lebensläufen und straf- Kirsten Heisig Jg. 1961; Volljuristin, Jugendrichterin am Amtsgericht Tiergarten uj 10 (2009) 417 jugendstrafvollzug rechtlichen Karrieren zu tun, die teilweise in der Schulzeit beginnen und sich bis zum Eintritt der Strafmündigkeit derart verdichtet haben, dass alles andere als eine freiheitsentziehende Maßnahme nicht mehr angezeigt ist. Die Vorschläge von Prof. Dr. Cornel basieren auf einem grundsätzlichen Konsens zwischen den Eltern der Jugendlichen und den staatlichen Institutionen. Auf diesen Gedanken gründet sich die gesamte Jugendhilfe, die in dem Konzept den Vorzug gegenüber dem bisherigen Maßnahmenkatalog des Jugendgerichtsgesetzes erhalten soll. Besteht diese Übereinstimmung, kann die Idee tragen. Jedoch stelle ich über Jahre hinweg fest, wie stark sich die Ablehnung der Sorgeberechtigten gegenüber den staatlichen Einrichtungen entwickelt. Selbstverständlichkeiten der eigenen Erziehungsverantwortung wie Sicherstellung des Schulbesuches, regelmäßige Teilnahme an Elternveranstaltungen, Durchführung von ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen, Inanspruchnahme der Familien- oder Einzelfallhilfe, Begleitung der Jugendlichen zur Gerichtsverhandlung werden von vielen Elternhäusern nicht mehr geleistet. Aufgrund dessen denke ich, dass die Abschaffung der stationären und gleichzeitig geschlossenen Sanktionen für Jugendliche und die Einführung von Jugendhilfediagnosezentren zum Zwecke der Ermittlung des Erziehungsbedarfes gegenwärtig an den Lebensrealitäten zumindest in den Großstädten vorbeigeht. Sie ist im Übrigen dann entbehrlich und es kann bei der bisherigen Konzeption des JGG verbleiben, wenn deutlich früher in kippende Entwicklungen von Familien und Kindern eingegriffen wird. Sind die Kinder schon benachteiligt in den Schulbetrieb gestartet, was beispielsweise bei den meisten Migrantenkindern der Fall ist, weil sie Sprachdefizite aufweisen, dann ist schon ein wichtiger Baustein späteren abweichenden Verhaltens bis hin zur Kriminalität gelegt. Deshalb brauchen wir in den letzten beiden Jahren vor Schulbeginn den verpflichtenden Kita-Besuch, wir brauchen gemischtethnische Schulen mit hohem Erzieher- und Lehrerschlüssel, mit interessanten Projekten jenseits des Frontalunterrichts auf der einen Seite. Auf der anderen Seite müssen die Eltern sich ihrer Pflichten bewusst werden. Sie dürfen den Bildungsauftrag der Schule nicht mit dem eigenen Erziehungsauftrag verwechseln, den sie häufig an der Schulpforte abgeben. Wir müssen auf die Gewaltproblematik in den Elternhäusern blicken und uns damit offensiv auseinandersetzen. Ich lese ständig, dass gerade in den benachteiligten Schichten Gewalt als Erziehungsmethode anerkannt ist und laufend praktiziert wird. Es entspricht auch teilweise meiner Wahrnehmung, ohne dass ich aber je Fälle des Jugendschutzes verhandele, weil speziell Väter gegenüber den Kindern Gewalt ausüben. Man regelt das „unter sich“, die „Ehre“ der Familie soll nicht angetastet werden. Nun ist die Brutalisierung kein reines Problem der MigrantInnen. Auch bei den „Urdeutschen“ wird geprügelt, was meist auf verfestigte Alkoholprobleme zurückzuführen ist. In den frühen Kinderjahren liegen die Ursachen für die späteren Körperverletzungen mit Eisenstangen, Quarzsandhandschuhen, Messern und sonstigen Waffen, die geschwungen werden, um nicht mehr nur an das Handy des Opfers zu gelangen, sondern die Taten johlend zu filmen und sie dann an die geifernden Kumpel weiterzuversenden. Nur wer das erkennt und sich an die Wurzeln des Problems heranwagt, wird Jugendkriminalität dauerhaft minimieren. Sind die wesentlichen Ursachen angelegt, sollte zwar weiterhin die Jugendhilfe Vorrang vor den Sanktionen haben, jedoch ist dies auch bei Anwendung geltenden Rechts nicht ausgeschlossen. Greift eine 418 uj 10 (2009) jugendstrafvollzug eingeleitete Jugendhilfemaßnahme, wird jede/ r JugendrichterIn, wenn es irgendwie vertretbar erscheint, dafür sorgen, dass der Erfolg nicht durch erhebliche Sanktionen gefährdet wird. Es ist aber häufig gerade bei den jüngeren Intensivtätern unerlässlich, sie an einen geregelten Tagesablauf überhaupt erstmals heranzuführen. Ich habe es mit 15-Jährigen zu tun, die von Kindesbeinen an sich selbst überlassen sind, die tun und vor allem lassen, was sie wollen - kleine Prinzen ohne jede soziale Kompetenz. Ich sehe sie nicht gern in der Jugendstrafanstalt, jedoch ist diese mit ihrer geschlossenen Struktur oftmals die letzte Rettung. Geeignete andere Einrichtungen geschlossener Art stehen in vielen Bundesländern nicht zur Verfügung. Die Rückfallquoten sowohl bezogen auf die Jugendstrafe als auch auf den Jugendarrest sind ebenfalls hinlänglich bekannt und isoliert betrachtet wenig motivierend, Freiheitsentzug anzuordnen. Allerdings mag stets bedacht sein, dass auch nur die wirklich ansonsten allen Hilfeangeboten resistent gegenüberstehenden Jugendlichen vollstreckbare Haft erhalten. Es verhält sich nicht so, dass die Schulen und Jugendämter keine Hilfe vorhalten und anbieten. Sie muss aber auch angenommen werden. Hieran mangelt es - wie dargestellt - zunehmend. Dem Staat obliegt - durch das Grundgesetz auferlegt - in der Erziehung ein Wächteramt, den Eltern die Pflicht, an der Erziehung ihrer Kinder mitzuwirken. Sobald Staat und Sorgeberechtigte mit ihren Aufgaben pfleglich umgehen und es zu Konsequenzen führt, wenn auf einer Seite nicht zum Wohle des Kindes gehandelt wird, kann am ehesten der Kriminalität entgegengewirkt werden. Die Autorin Kirsten Heisig Amtsgericht Tiergarten Strafgerichtliche Aufgaben Turmstraße 91 10559 Berlin kirsten.heisig@ag-tg.berlin.de