unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Die herausgeforderte Jugendhilfe - Gedanken zur Sozialpädagogisierung des Jugendstrafvollzugs
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2009
Wolfgang Trede
"Die Institutionen gehen an ihrem Erfolg zugrunde" - dieses Diktum Montesquieus könnte dereinst, wenn der geschlossene Jugendstrafvollzug in Deutschland abgeschafft ist, möglicherweise auf die stationäre Jugendhilfe zutreffen. So sinnvoll und fachlich wünschenswert die Vorschläge Heinz Cornels sind, so sehr müssen bei ihrer Realisierung unerwünschte Nebenwirkungen vermieden werden.
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uj 10 (2009) 419 Unsere Jugend, 61. Jg., S. 419 - 422 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel jugendstrafvollzug Die herausgeforderte Jugendhilfe - Gedanken zur Sozialpädagogisierung des Jugendstrafvollzugs Wolfgang Trede „Die Institutionen gehen an ihrem Erfolg zugrunde“ - dieses Diktum Montesquieus könnte dereinst, wenn der geschlossene Jugendstrafvollzug in Deutschland abgeschafft ist, möglicherweise auf die stationäre Jugendhilfe zutreffen. So sinnvoll und fachlich wünschenswert die Vorschläge Heinz Cornels sind, so sehr müssen bei ihrer Realisierung unerwünschte Nebenwirkungen vermieden werden. Zunächst: Die Vorschläge Cornels und seiner Arbeitsgruppe zur vollständigen Abschaffung des geschlossenen Jugendstrafvollzugs für Jugendliche und zum fast völligen Verzicht auf das Einsperren im Fall der 18bis 21-Jährigen, sein Plädoyer für eine pädagogisch ausgestaltete Betreuung delinquenter Minderjähriger und junger Volljähriger stattdessen in geeigneten offenen Einrichtungen der Jugendhilfe scheinen so gar nicht in die Zeit zu passen. Der Abolitionismus scheint lange passé zu sein, die Jugendstraffälligenhilfe hat sich offensichtlich mit Arrestanstalten und Jugendgefängnissen als ultima ratio arrangiert - trotz aller empirischen Erkenntnisse über Knastsozialisation und Rückfallquoten. Auch die Jugendhilfe erlebt eine (quantitativ zwar zu vernachlässigende) Renaissance von Einrichtungen, die freiheitsentziehende Maßnahmen praktizieren. Und politisch wird ja sowieso eher über eine Verschärfung des Jugendstrafrechts, die Einführung eines „Warnarrests“ und die regelhafte Anwendung des Erwachsenenstrafrechts bei den Heranwachsenden diskutiert (vgl. aktuelles Wahlprogramm der CDU/ CSU). Indes kann ich die Vorschläge Cornels, zumindest bei den 14bis 18-Jährigen ganz auf Einsperren zu verzichten, nur befürworten. Empirische Befunde aus 30 Jahren kriminologischer Forschung und Jugendgerichts(hilfe)praxis (u. a. zu den extrem hohen Rückfallquoten nach Jugendstrafvollzug, zu den entsozialisierenden Wirkungen längerer Eingeschlossenheit, zu den spezialpräventiven Vorteilen „weicherer“ Interventionen vgl. Dünkel 2002) legen es nahe, den vollständigen Verzicht auf Arrest und geschlossenen Jugendstrafvollzug bei Jugendlichen zu wagen. Ich will die Ideen und Vorschläge Cornels hier nicht wiederholen, sondern aus der Position des Wolfgang Trede Jg. 1956; Diplom-Pädagoge, langjährige Tätigkeit als Geschäftsführer der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH), seit 2003 Leiter des Kreisjugendamts Böblingen 420 uj 10 (2009) jugendstrafvollzug wohlwollenden Unterstützers und Jugendamtspraktikers einige in der Jugendhilfe liegende Probleme und Fallstricke andeuten, die mit Blick auf eine Realisierung berücksichtigt und gelöst werden müssten. Die folgenden drei Warnlampen will ich am Wegrand aufstellen: Erstens: Die Jugendhilfe müsste aufpassen, nicht wieder ein stark repressives Segment auszubilden im Bemühen, es der Justiz und der Gesellschaft recht zu machen. Bis in die 1960er Jahre hinein waren Fürsorgeheime der Jugendhilfe Orte, in denen Jugendliche mehrheitlich zur Nummer degradiert, in Großgruppen verwahrt, ihrer Persönlichkeitsrechte beraubt und nicht selten der Willkür, Gewalt und Ausbeutung des Erziehungspersonals ausgeliefert waren (vgl. Wensierski 2006). Sucht man nach den historischen Wurzeln dieser Anstalten, dann landet man beim täterorientierten Jugendstrafrecht und seiner Leitidee „Erziehung statt Strafe“, das mit dem preußischen Zwangserziehungsgesetz von 1878 eingeführt worden war und dann, wenn „Verwahrlosung“ drohte, eben gerade nicht pädagogisch-psychologisch einfühlsame Sanktionen, sondern besonders lange, korrigierende Zwangserziehung vorsah. Die Zeiten sind freilich andere, insbesondere befindet sich die sozialpädagogische Profession auf einem ganz anderen Niveau und die innere Demokratisierung der Gesellschaft ist dem Muff der 1950/ 1960er Jahre längst entwachsen, darauf weist Cornel zu Recht hin. Dennoch wird es gar nicht einfach sein, keine „Justizjugendhilfe“ entstehen zu lassen, wenn Einrichtungen der Jugendhilfe Tausende von Jugendlichen und Heranwachsenden, die bislang zu Arrest- oder Jugendstrafen verurteilt werden, in geeigneten Settings der (wohl vorrangig) stationären Jugendhilfe betreuen sollen. Zu befürchten ist eine Spaltung der Heimerziehung und eine (pädagogisch immer problematische) Homogenisierung der Heimbzw. Wohngruppenpopulationen. Denn Eltern werden es kritisch sehen, wenn ihre Zöglinge, die z. B. wegen familiärer, schulischer und/ oder Entwicklungsprobleme kürzere oder längere Zeit in einer Wohngruppe betreut werden sollen, dort Tür an Tür mit jugendlichen „Verbrechern“ leben. Auch könnte auf die Einrichtungen bei der Aufnahme von Jugendlichen, die ja teils schwere Verbrechen begangen haben (ich denke z. B. an den 15-Jährigen aus Bad Buchau, der im April 2009 seine 26-jährige Nachbarin und Mutter eines Kleinkindes erschlug), aufgrund des öffentlichen (Bestrafungs- und Sicherungs-)Interesses ein erheblicher Druck in Richtung auf mehr geschlossene Unterbringungen im Rahmen der Jugendhilfe, zumindest jedoch in Richtung auf klar strukturierte, „harte“ Erziehungsumgebungen entstehen (Stichwort „boot camps“). Es ist also nicht ausgeschlossen, dass Heime und Wohngruppen gewissermaßen unter der Hand zu repressiven Veranstaltungen mutieren - und damit die Vorzüge offener, pädagogisch ausgerichteter Sanktionen einbüßen. Jedenfalls müsste das Entstehen spezieller „Einrichtungen des Justizvollzugs“ vermieden werden, wie die durchaus problematischen Ergebnisse des sogenannten Maßnahmevollzugs für besonders erziehungsschwierige Jugendliche in der Schweiz (vgl. Tanner 1988) belegen. Zweitens: Bei Cornel nimmt eine neue Einrichtung, das Jugendhilfediagnosezentrum, eine Schlüsselstellung ein. Ihm soll das Jugendgericht jugendliche DelinquentInnen zuweisen, um dort - bei Fluchtgefahr auch geschlossen - innerhalb von vier Wochen den individuellen Erziehungsbedarf und den Bedarf an stationären Erziehungshilfen abzuklären. Ich halte nichts von einer solchen Institution. uj 10 (2009) 421 jugendstrafvollzug Das Jugendhilfediagnosezentrum sind die ASDbzw. JGH-MitarbeiterInnen im Jugendamt: Sie haben eine Anamnese zu erstellen, mit den jungen Menschen, ihren Eltern und Bezugspersonen, LehrerInnen etc. zu sprechen, hieraus eine sozialpädagogische Diagnose (vgl. Mollenhauer/ Uhlendorff 1992) zu erstellen, um anschließend in einem Hilfeplanprozess gemäß § 36 SGB VIII mit dem jungen Menschen und seinen Eltern herauszufinden, was „der Fall ist“ und welches Jugendhilfesetting für den/ die einzelne/ n Jugendliche/ n hilfreich sein könnte. Jugendhilfediagnosezentren wären reine Durchlaufstationen und müssten dann, wenn in der vierwöchigen Diagnosephase eventuell gerade gute Beziehungen zu PädagogInnen entstanden wären, weiterverweisen. Auch sitzt die Idee der Diagnosezentren m. E. einem technokratischen Missverständnis auf: Im Unterschied zur Medizin, bei der auf eine gesicherte Diagnose eine eindeutige therapeutische Intervention folgt (und selbst für die Medizin stimmt das so nicht), ist die Krux in der Jugendhilfe, dass es nur ein kleiner Teil der Lösung ist, wenn ich weiß, was der Jugendliche „hat“ (das weiß man oft schon ziemlich genau durch vorhandene Berichte, Gespräche mit allen Beteiligten, ärztliche Gutachten etc.). Diffizil ist es, den richtigen Ort und die richtigen Menschen zu finden, die dem jungen Menschen wirksam helfen können, die ihm Sicherheit, Bildung, neue, legale Perspektiven und soziale Kompetenzerweiterung verschaffen können. Hinzu kommt, dass sozialpädagogische Hilfen koproduktiv und multifaktoriell bestimmt sind. Ich behaupte daher, dass Jugendhilfediagnosezentren das „Technologiedefizit“ der Pädagogik nicht lösen können, sondern eher kontraproduktiv sind. Zu stärken wären in dem jugendgerichtlichen und jugendhilfefachlichen Abklärungsprozess allenfalls die Fachkräfte der Jugendgerichtshilfe. Drittens: Die Vorschläge Heinz Cornels und seiner Arbeitsgruppe sind insgesamt ein starkes Plädoyer für das Primat der Jugendhilfe, einer sozialpädagogischen, nichtrepressiven Reaktion auf Jugenddelinquenz durch Maßnahmen der örtlichen Jugendhilfe. In großer Zuversicht wird auf die Kompetenz und Kraft der kommunalen Jugendhilfeakteure vertraut. Gegenüber dieser optimistischen Zumutung an die eigene Szene muss ich doch (so leid es mir tut) ein Fragezeichen machen. Jugendhilfe ist eine kommunale Aufgabe, und wir haben es in Deutschland mit über 600 Jugendämtern zu tun, die zwar alle nach den Rechtsvorschriften des SGB VIII und den Landesausführungsgesetzen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes zu handeln haben, aber sich in ihren finanziellen Ausstattungen, Hilfephilosophien, vorhandenen Angeboten und Verfahren stark unterscheiden. Die bestehende regional unterschiedliche Sanktionspraxis würde durch ihre Sozialpädagogisierung, also die stärkere Einbeziehung der örtlichen Jugendhilfe, jedenfalls noch unterschiedlicher und insofern auch ungerechter. Jedenfalls müsste die Finanzierung geeigneter Jugendhilfeangebote befriedigend und möglichst überörtlich geregelt werden. Wobei die überörtliche Finanzierung von Jugendhilfemaßnahmen möglicherweise Probleme nach sich ziehen könnte, die man noch aus Zeiten des Jugendwohlfahrtsgesetzes kennt, wo von örtlichen Jugendämtern Jugendhilfen gerne als so genannte FE- oder FEH-Maßnahmen etikettiert wurden, um sie vom überörtlichen Träger finanzieren zu lassen. Im Ergebnis glaube ich, dass die drei Warnhinweise - die Gefahr der Wiederkehr einer repressiven Heimerziehung, die Kritik an dem vorgeschlagenen Strukturelement Jugendhilfediagnosezentrum und Strukturprobleme der kommunalen Jugendhilfe - mit Blick auf eine Umsetzung des fach- 422 uj 10 (2009) jugendstrafvollzug lich guten, wenngleich politisch schwer realisierbaren Vorschlags Cornels durchaus lösbar bzw. produktiv bearbeitbar sind. Diese Gefahren müssten aber auch gelöst werden, denn ansonsten stünde die stationäre Jugendhilfe tatsächlich in Gefahr, an ihrem Erfolg zugrunde zu gehen. Bis dahin sollte der Jugendstrafvollzug in freien Formen stark ausgeweitet werden, wie es in Baden-Württemberg zum Beispiel in den beiden Einrichtungen des Projektes Chance geschieht (vgl. den Abschlussbericht Projekt Chance 2008 und Beitrag von Stelly/ Thomas in diesem Heft). Literatur Dünkel, F., 2002: Institutionelle und sozialpädagogische Reaktionen auf Kinder- und Jugenddelinquenz im europäischen Vergleich. In: Höynck, T. u. a. (Hrsg.): Jugend-Hilfe - Jugend-Strafe. Zum Umgang mit Kinder- und Jugenddelinquenz im europäischen Vergleich. Frankfurt am Main Institute für Kriminologie der Universitäten Heidelberg und Tübingen, 2008: Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts Chance. Jugendstrafvollzug in freien Formen. www.projekt-chance.de/ Jugendprojekte/ Abschlussbericht270808.doc, 26.7.2009, 145 Seiten Mollenhauer, K./ Uhlendorff, U., 1992: Sozialpädagogische Diagnosen I. Weinheim/ München Tanner, H., 1992: Effekte des Maßnahmenvollzuges bei besonders erziehungsschwierigen Jugendlichen in der Schweiz. Überblick über Ergebnisse der Längsschnittuntersuchung. In: Kriminologisches Bulletin, 18. Jg., H. 1 - 2, S. 53 - 101 Wensierski, P., 2006: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. München Der Autor Wolfgang Trede Kreisjugendamt Böblingen Parkstraße 16 71034 Böblingen w.trede@lrabb.de 2009. 98 Seiten. 4 Abb. 2 Tab. UTB-Profile (978-3-8252-3290-0) kt Resilienz - die Stärkung der seelischen (und körperlichen) Widerstandskraft - gewinnt in Forschung und Praxis an Bedeutung. Die Autoren stellen Konzepte und aktuelle Forschungsergebnisse verständlich dar. Sie führen in relevante Themengebiete wie Prävention, Risiko- und Schutzfaktorenkonzept sowie Salutogenese ein und beschreiben Programme in Kindertageseinrichtungen und Schulen, mit denen Fachkräfte die Resilienz von Kindern fördern können. a www.reinhardt-verlag.de
