unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Studium und Berufserfahrungen vor und nach der Wende
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2009
Steffen Seilert
Gabriele Bindel-Kögel
Interview mit Steffen Seilert Herr Seilert, Sie sind seit mehr als 20 Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe tätig, wie haben Sie in diesem Berufsfeld den Übergang vor und nach der Wende erlebt? Meine berufliche Entwicklung beginnt 1986 im Bereich Heimerziehung. Da waren bereits vielfältige Entwicklungen in der Jugendhilfelandschaft der DDR gelaufen. Ich möchte nur einige markante Punkte nennen:
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uj 11+12 (2009) 469 Unsere Jugend, 61. Jg., S. 469 - 476 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Studium und Berufserfahrungen vor und nach der Wende Interview mit Steffen Seilert 20 jahre wende Herr Seilert, Sie sind seit mehr als 20 Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe tätig, wie haben Sie in diesem Berufsfeld den Übergang vor und nach der Wende erlebt? Meine berufliche Entwicklung beginnt 1986 im Bereich Heimerziehung. Da waren bereits vielfältige Entwicklungen in der Jugendhilfelandschaft der DDR gelaufen. Ich möchte nur einige markante Punkte nennen: 1966, da wurde die Jugendhilfe-Verordnung in der DDR Rechtsgrundlage für die Anordnung von Heimerziehung und von Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls oder bei Versagen der Eltern. Diese Verordnung basierte auf dem Familiengesetzbuch von 1966, und das war ein Stück Vorgriff auf die veränderte Verfassung in der DDR, die damals ebenfalls in Kraft getreten ist. Die ist an dieser Stelle ein Stück vergleichbar mit Art. 6 des Grundgesetzes der BRD und besagt, dass die Eltern das Recht und die Pflicht zur Erziehung ihrer Kinder haben. Im GG heißt es weiter: Darüber wacht die staatliche Gemeinschaft. In der DDR hieß es anders: Eltern haben Anspruch auf gesellschaftliche Unterstützung, wenn die Erziehung der Kinder gefährdet scheint. Dieser Anspruch wurde von den Eltern meist nicht wahrgenommen. Heimerziehung geschah in der Regel auf Anordnung der Organe der Jugendhilfe. Bis in die 70er Jahre wirkte auch noch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz - nicht im juristischen Sinne, aber den Fürsorgegedanken aufgreifend -, das nach 1945 in Kernelementen aufgegriffen wurde, mit den Vorstellungen, die auch in der KPD über den Erziehungsgedanken existierten. Man griff zurück auf Salzmann, Fröbel, Pestalozzi und auch Makarenko und versuchte, deren Vorstellungen zu übertragen auf die Wirklichkeit in der DDR. Hintergedanke war zum einen, dass die Kinder, die durch den Krieg elternlos geworden waren, oder die von den Familien gelösten Kinder an Erziehung und Bildung teilhaben dürfen. Zum anderen, dass sich der gesellschaftliche Auftrag der Wohlfahrt oder später einer Jugendhilfe im Laufe der Zeit dann erledigen wird, weil die materiellen Voraussetzungen in diesem Land sich so weit ins Positive entwickeln, dass eigentlich eine staatliche Fürsorgeerziehung nicht mehr notwendig ist, sondern Schule, Kollektiv, Arbeitskollektive, Freizeitstätten in Verantwortung von Jugendorganisationen, vornehmlich der FDJ, dass all diese gesellschaftlichen Kräfte die Lebensumstände so weit verbessern, dass Eltern in der Lage sind, darauf zurückzugreifen, und andere staatliche Maßnah- Steffen Seilert Jg. 1964; Heimerzieher und Diplom-Pädagoge, Mitarbeiter des Regionalen Sozialpädagogischen Dienstes im Bezirksamt Pankow von Berlin 470 uj 11+12 (2009) 20 jahre wende men wie Heimerziehung damit überflüssig werden. Diese Idee existierte bis in die 70er Jahre, und spätestens damals hat man dann erkannt, dass das nicht aufgehen wird. Man hat gesehen, dass man doch mehr Heimplätze und Unterbringungsmöglichkeiten benötigte für Kinder, die in den normalen Verhältnissen in ihrer Familie nicht groß werden konnten. Fehlentwicklungen in der Erziehung von Kindern waren nicht so einfach wegzukriegen. Man musste sich Ende der 70er Jahre mit der Tatsache abfinden, dass man Heime brauchte, als Korrektiv und eingebettet in die Kollektiverziehung. All diese Entwicklungen waren bis 1986 schon weit vorangeschritten, als ich meine ersten beruflichen Erfahrungen in einem Kinderheim machte. Das Heim hieß Pawel Kortschagin nach der Figur aus dem Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski, ein Roman über einen Mann, der durch die Wirren der Oktoberrevolution und die folgenden gesellschaftlichen Veränderungen sozusagen zum Menschen heranreift. Zu diesem Heim habe ich Kontakt aufgenommen, weil die eine Nachtbereitschaft benötigten. Damals habe ich Geld gebraucht und wollte auch die Arbeit mit Kindern kennenlernen, weil ich seit dem Abitur den Wunsch hatte, mit Menschen zu arbeiten. Ein Freund von mir hat damals schon Heimerziehung studiert und der hat mich auch auf die Idee gebracht. Und durch die Erfahrungen in der Nachtbereitschaft habe ich mich dann für die Heimerziehung entschieden. Hintergrund war auch die eigene Unbedarftheit, mit der man an die Heimerziehung heranging, in erster Linie leuchtende Kinderaugen wahrnahm und dachte, den Kindern kann ich was Gutes tun. Parallel dazu habe ich in den 80er Jahren in einer Jugendhilfekommission mitgearbeitet, ehrenamtlich. Die Jugendhilfekommission lässt sich schlecht vergleichen mit einem Gremium aus dem Westen. Sie war - würde man heute sagen - sozialräumlich orientiert. Es war die Zusammenkunft einer hauptamtlichen bezahlten Fachkraft des Jugendamtes mit ehrenamtlichen interessierten Bürgern aus einer Straßenregion: Lehrer, meist Unterstufenlehrer, der Abschnittsbevollmächtigte (heute würde man wohl Kontaktbereichsbeamter sagen) und sonstige Bürger. Diese Jugendhilfekommissionen tagten wöchentlich einmal am Abend, und hier kamen Themen auf den Tisch wie etwa: Das Kind X zeigt in der Schule Auffälligkeiten, es gibt auch Hinweise aus der Bevölkerung. Man sollte deshalb ins Gespräch mit der Familie kommen. Die Jugendhilfekommission lud die Familie ein, und es wurde gemeinsam beraten, wie kann man diese Familie stärken und damit der Fehlentwicklung begegnen. Es konnte darin enden, dass man eine Erziehungsvereinbarung schloss, dass man die betrieblichen Kräfte mit eingebunden hatte, dass man z. B. auch den Vater im Arbeitskollektiv besuchte, um zu sehen, wie kann der Vater unterstützt werden, damit sein Kind eine gute Entwicklung nimmt. Die Jugendhilfekommission konnte aber auch die Empfehlung geben, dass Heimerziehung angeordnet werden muss. Diese Empfehlung wurde eingereicht beim Jugendhilfeausschuss, der bestand aus Ehrenamtlichen und Mitarbeitern aus dem Referat Jugendhilfe. Dieser Ausschuss hatte die Befugnis, Heimerziehung anzuordnen. Übrigens: was die konkrete Begrifflichkeit des Jugendhilfeausschusses anging, so war das dann nach 1990 eine von vielen Erfahrungen, dass mit derselben Begrifflichkeit etwas völlig anderes gemeint wird, der Jugendhilfeausschuss hat ja im SGB VIII eine völlig andere Bedeutung. uj 11+12 (2009) 471 20 jahre wende Wie schätzen Sie im Nachhinein diese Arbeit ein, die ja anscheinend bürgernah war und eine Art Regionalisierung darstellte? Die Idee der Jugendhilfekommission war gut, aber die Umsetzung war streckenweise sehr ideologielastig. Man beschäftigte sich mit Themen, dass z. B. Kinder eingeladen wurden, dann und dann da zu sein, weil sich ein Anwohner beschwert hatte, weil der junge Mensch sein Fahrrad weiß gestrichen und nicht berücksichtigt hat, dass man die Farbe von den Bänken wieder wegmacht. Da war mein Eindruck, das wird mir zu übergriffig, deshalb habe ich das Ehrenamt hinten angestellt, zumal ich zeitlich ohnehin eingespannt war, sodass ich mich entscheiden musste. Ich komme nochmals auf Ihr Studium zurück, es gab also in der DDR ein Studienangebot „Heimerziehung“? Ja, das war im Bereich Volksbildung angesiedelt, anders strukturiert als heute, und am Institut für Lehrerbildung. Das gab es in den verschiedenen Bezirken, heute würde man Bundesländer sagen, und das gab es auch in Berlin. Da wurden zum größten Teil Unterstufenlehrer ausgebildet und parallel dazu „Freundschaftspionierleiter“, heute würde man vielleicht sagen Freizeitpädagogen, damals aber natürlich mit dem gesellschaftlichen Auftrag, im Bereich der Freizeit tätig zu werden. Sie sollten Kinder und Jugendliche auf gesellschaftliche Prozesse vorbereiten, waren zur Beteiligung der Kinder und Jugendlichen bei gesellschaftlichen Aufgaben da, das war ein Hintergedanke der Freundschaftspionierleiter. In diesem Institut gab es immer auch einen Schwerpunkt Heimerziehung. Der Studiengang umfasste vier Jahre, und ich begann 1986. Es gab wenig männliches Personal in den Heimen, sodass man gerne jemanden nahm, der mit 22 Jahren schon älter war, schon seinen Wehrdienst abgeleistet und der Abitur hatte. Waren die Anfänge der späteren gesellschaftlichen Umwälzung während des Studiums spürbar? Schon während des Studiums 1986/ 87 gab es mehrere Konfliktfelder: das Verbot des Sputnik zum Beispiel, der bis dahin eine kleine interessante Zeitschrift war, die aber 1987 auf ein Level gehoben wurde - weil durch Gorbatschow bestimmte Ideen in die Presse hineinkamen -, das für einige so provokant war, dass das zu einem Verbot führte. Und es gab die Ausgrenzung von Menschen mit christlichem Hintergrund. Wo man sagte, in der Heimerziehung brauchen wir klassenbewusste, dem Sozialismus verbundene Menschen. Da gab es streckenweise auch unangenehme Gespräche unter vier Augen mit Studenten, die anderen Glaubens waren, gepaart mit dem Wissen darum, dass es in der Kirchenlandschaft die ersten Bestrebungen gab, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz aufbauen zu wollen. Es gab schon ein In-Frage-Stellen der gesellschaftlichen Zustände. Und es gab Hardliner auch in der Ausbildung der Heimerziehung, die diese Entwicklungen nicht gutheißen konnten oder wollten. So um 1987/ 88 war spürbar, es wird etwas passieren, wir wussten aber nicht, wie wird es denn enden? Mit mehr Repression, Beeinträchtigung, wird es mehr sozialistisch, marxistisch-leninistisch verkauftes Gedankengut geben, was sich immer mehr in der Lehre durchsetzt, oder gibt es auch Möglichkeiten einer offenen Diskussion über Zukunft von Heimerziehung? Fragen waren z. B.: Brauchen wir tatsächlich die großen Einrichtungen wie in Marzahn und Hohenschönhausen, oder sind es eher die kleineren Einrichtungen, die wir benötigen? Wie kriegt man die Verknüpfung hin von dem, was gesellschaftlich notwendig ist, mit der Frage, welche gesellschaftlichen Kräfte sollten unterstützt werden, um eine Gesellschaft voranzubringen? Das waren die Spannungsfelder damals, und letztlich 472 uj 11+12 (2009) 20 jahre wende gab es auch das gleiche Grunddilemma wie in der Bundesrepublik: eine gewisse Hilflosigkeit der Helfer. Das Ganze löste sich in den Wirren 89 und bis zum Sommer 90 auf, mit dem Bekenntnis: Wir wollen etwas anderes, wir wollen Experimente wagen, wir wollen Zusammenleben in Wohngemeinschaften, lockeren Umgang mit staatlichen Institutionen, wir wollen ein „freieres Leben“, d. h. nicht etwa auf Weltreise zu gehen, sondern nach meiner Wahrnehmung eher bestimmte Bücher lesen zu können, auch mal die herrschende Lehrmeinung in der Heimerziehung in Frage stellen zu dürfen, offen Fragen zu stellen - gibt es andere Modelle für diejenigen, die in Familien nicht mehr leben können, kann man mit diesen Kindern anders umgehen, als sie in Regelbetreuung zu geben? Hat man die von Ihnen genannten Problemfelder unter den Studenten offen im Seminar oder auch mit bestimmten Dozenten diskutiert? Es gab einige Doktoren und Dozenten, die suchten das Gespräch mit den Studenten, es gab Einladungen, sich bei einem Dozenten zu Hause zu treffen, um über gesellschaftliche Prozesse im kleinen Kreis zu diskutieren. Es gab auf der anderen Seite Lehrende, die ein klares Bild hatten von der DDR, ein klares Bild versuchten zu vermitteln, wie die DDR funktioniert, zu funktionieren hat und wie wir das zu verstehen hätten. Ihre Studienabschlussphase fiel ungefähr zusammen mit dem Fall der Mauer? Das Ende des Studiums ist in die Wendezeit hineingerutscht. Damals hatten wir ein großes Praktikum am Ende des Studiums und hatten die Rückmeldung von den Betreuern im Kinderheim bekommen, dass wir relativ gut ausgebildet wären und auch tätig werden könnten. Wir wären theoretisch erst 91 fertig geworden, und schon im Sommer 90 war klar, dass in den Heimen etwas passieren wird. Es war in den Heimen eine knisternde Stimmung. Und wir hatten den Eindruck, dass wir auf die momentane Situation gut vorbereitet sind. Es gab Diskussionen über die künftige Rechtsgrundlage. Es „drohte“ - das war keine schlechte Drohung -, aber es „drohte“ ja die Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, das waren die Vorboten, wir haben gemerkt, es ist etwas in Bewegung. Wir hatten uns bei der studentischen Vertretung und bei der Leitung des Instituts dann so weit durchgesetzt, dass wir 1990 - als mit der Währungsunion absehbar war, dass das Konstrukt DDR so nicht mehr weiterexistieren wird - Druck gemacht haben bei den Verantwortlichen. Wir wollten die berufliche Chance im Oktober 90 nutzen, um in „Lohn und Brot“ zu kommen. Wir hatten dann im Sommer 1990 den Abschluss unseres Studiums. Von 30 Leuten, die in einem Jahrgang studiert haben, haben zwei eine Anstellung in öffentlichen Kinderheimen bekommen. Einige traten in Gespräche mit Vereinen aus Westberlin, um ähnliche Modelle des Betreuten Wohnens und Angebote im Bereich der Jugendberufshilfe dann auch beispielsweise in Friedrichshain aufzubauen. Das waren die Bestrebungen bei denen, die in den Beruf eingestiegen sind. Der Rest hat an anderen Unis ähnliche oder andere Richtungen studiert. Sie haben hier weiterhin gelebt, haben sich aber vom Studium verabschiedet. Viele erschienen nicht mehr zu den Vorlesungen, viele wollten erst mal gucken, wie tickt der Westen. Wie haben die Lehrkräfte am Institut reagiert? Die Lehrkräfte des Instituts für Lehrerbildung, die standen damals unter besonderer uj 11+12 (2009) 473 20 jahre wende Beobachtung durch uns: Wie verhalten die sich in dieser Situation? Das war schon interessant zu sehen. Es gab Neugierige, die guckten, wie kann ich Kontakt aufnehmen zu Erziehern aus dem Westteil der Stadt, gäbe es möglicherweise Anregungen für die „noch“ DDR-Jugendhilfe? Es gab auch diejenigen, die postwendend „gewendet“ waren, die das, was sie bis dahin vertraten, völlig in Frage stellten. Und es gab unsichere, ältere Dozenten, Dozentinnen überwiegend, die mit der Situation ihre Schwierigkeiten hatten, und Fragen, wie wird das weitergehen, muss man die eigene Lehrmeinung in Frage stellen, ist das Modell DDR und Jugendhilfe gescheitert, war das, was man vertreten hat, richtig oder muss man sich davon verabschieden? Das war schon eine sehr bewegte Zeit. Wie ging es für Sie beruflich weiter? Nach Oktober 90 habe ich dann in dem Kinderheim angefangen, wo ich bereits 1986 als Erziehungshelfer gearbeitet hatte. Ich hatte einen Draht zu den Personalverantwortlichen im Rat des Stadtbezirkes Pankow und konnte dadurch in diesem Kinderheim beginnen: 36 Kinder, eine überschaubare Anzahl und eine hoch motivierte junge neue Kollegenschaft, nur Frauen, mit der Frage, kann man was bewegen, kann man die Ideen, die aus der bundesdeutschen Jugendhilfe kamen, in die DDR-Jugendhilfe integrieren? Ein zentrales Arbeitsfeld, das völlig neu war: Wie können junge Menschen mit 18 auf eine eigenständige Lebensführung vorbereitet werden? In der DDR endete mit 18 ja die Jugendhilfe. Die jungen Leute erhielten eigenen Wohnraum und standen unter besonderer Beobachtung ihrer Kollektive. Es wurde den jungen Leuten schon tatkräftig unter die Arme gegriffen, sie waren integriert in die Kollektive. Und diese kollektive Draufsicht auf Entwicklungsverläufe junger Menschen drohte ja einfach wegzubrechen - weil Arbeitslosigkeit drohte, Umstrukturierungsprozesse und wirtschaftliche Änderungsprozesse anstanden. Und für uns im Heim entstand die Frage: Wie können wir junge Menschen vorbereiten auf den Weg in den eigenen Wohnraum ohne die bisherigen äußeren Strukturen? Das war völliges Neuland. Ebenfalls völlig neu war die Rechtsgrundlage. Wir mussten bestimmte Denkweisen abstreifen oder in Frage stellen. Bis 89/ 90, solange noch die Jugendhilfeverordnung der DDR galt, gab es die Anordnung der Heimerziehung und regelmäßige Gespräche zwischen den vor Ort tätigen Erziehern aus den Heimen und den Mitarbeitern des Referats Jugendhilfe. Es gab die Überprüfung von Verläufen der Jugendlichen, Fragen der gesundheitlichen oder schulischen Entwicklung, einer möglichen Entlassung wieder in den Haushalt der Herkunftsfamilie, das wurde schon in halbjährlichen Gesprächen überprüft. Aber das klassische Instrument der Hilfeplanung gab es damals nicht. Neu war auch die Entwicklung hin in den Bereich: Es ist ein Anspruch der Eltern, Hilfe zur Erziehung zu erhalten. Das musste man denen ja auch deutlich machen, z. B. auch den Eltern, die vor 90 in die BRD geflüchtet waren und die Kinder in der DDR gelassen hatten und nun zurückkehrten. Es war eine verwirrende Zeit, und es war unklar, kann man an dem bleiben, was bisher galt, was muss man umstellen, was wird sich ändern? Was noch für eine gewisse Aufbruchstimmung sorgte, wo ein Stück neuer Geist Einzug hielt: Es gab eine klare Struktur in der Jugendhilfelandschaft im Bezirk Pankow, das kann man schon auch vergleichen mit anderen Regionen in der DDR. Es gab die Einteilung, dass Kinder von 0 bis 3 Jahren im Gesundheitswesen waren, erst ab 474 uj 11+12 (2009) 20 jahre wende 3 Jahren in den Bereich des Referates der Jugendhilfe wechselten, also zu Volksbildung kamen. Das hatte zur Folge, dass 3bis 6-Jährige im Vorschulheim koedukativ untergebracht waren. Wenn die Kinder dann 6 wurden, und sie verblieben in der Heimerziehung, dann sind sie bis zum 14. Lebensjahr in ein Regelschulheim gekommen und ab 14 dann in den Bereich eines Jugendwohnheimes. In dem Heim in Pankow, in dem ich tätig war, gab es eine Altersmischung von 6 bis 14 Jahren in drei Gruppen, die vor der Wende nach diesen Alterszusammenhängen betreut wurden. Das alles brach dann 1991 auf. Man hat überlegt, braucht es noch die Dreiteilung oder sollen wir öffnen? Und es begann da die Diskussion, was machen wir mit Kindern, die körperliche Beeinträchtigungen haben, können wir diese integrieren? Unser Kinderheim öffnete sich schnell, um mit jungen Menschen über 14 und auch mit Mädchen weiterzuarbeiten. Es wurden neue Gruppen aufgebaut, z. B. kleinere Wohngruppen in Vorbereitung auf mehr Eigenverantwortung. Das waren so die ersten Experimente. Es gab dann 1992 vom Jugendwohnheim für Mädchen in Pankow ausgehend die Idee, so etwas wie eine Kriseneinrichtung aufzubauen, eine Clearingstelle, wo ich dann ab 1992 mitgearbeitet habe. Es ging darum, dass wir mit den Mitarbeitern des Jugendamtes gemeinsam überlegen, was machen wir bei jungen Menschen, die 14, 15, 16 Jahre alt sind, wo man gar nicht genau weiß, welche Form der Jugendhilfe kann man ihnen denn anbieten. Deshalb haben wir einen Clearingauftrag angenommen, der umfasste auch zu testen, welche Hilfe könnte geeignet sein, und dann in der Hilfeplanung auf Augenhöhe zwischen Mitarbeitern der Clearingstelle und Mitarbeitern des Jugendamtes zu überlegen und nach geeigneten Formen zu suchen. Neue Entwicklungen gab es damals auch im Bereich des Aufbaus von Kinder- und Jugendhilfevereinen. Der Ostteil der Stadt war für viele freie Träger aus dem Westteil der Stadt lukrativ. Es gab viele Träger, die nach Pankow kamen und dort versuchten, Wohngemeinschaften, Betreutes Wohnen aufzubauen. Als Clearingstelle war das sehr interessant, wir haben zusammen mit den Mitarbeitern des Jugendamtes diese neuen Einrichtungen angeschaut, um zu sehen, was wird da gemacht für die Jugendlichen. Bis 1991 hat sich das hingezogen, die Jugendämter umzustrukturieren: Welche Mitarbeiter werden übernommen, wer wird in Leitungsverantwortung kommen? Es kamen auch etliche Fachkräfte aus Westberlin in den Ostteil der Stadt und standen beim Aufbau der neuen Strukturen zur Seite. Was waren für Sie in den 90er Jahren die wichtigsten beruflichen Umstellungen? Ein großer Einschnitt war, einen Arbeitsplatz zu bekommen, praktisch tätig werden zu können und zu wollen. Es war für mich ein Abwägen zwischen beruflicher materieller Sicherheit einerseits und andererseits sich noch weiterbilden zu wollen, noch andere Dinge zu studieren. Ich habe mich für die Berufstätigkeit entschieden. Eine Anstellung im Kinderheim zu finden, in einer Zeit, wo keiner wusste, wohin die Reise geht, das war schon gut. Ein zweiter Einschnitt war der Aufbau der Clearingstelle, das war ein völlig neues Arbeiten. Das erforderte eine Menge an Zeit. Anfangs gab es die Vorstellung vom Tresen wie beim Zahnarzt, an den die Jugendlichen herantreten und sich beraten lassen, das war aber Unsinn. Es erforderte viel Zeit, sich auf junge Leute einzulassen, die selber unsicher waren - die neuen beruflichen Möglichkeiten, die Unsicherheit zu erleben im Schulalltag, uj 11+12 (2009) 475 20 jahre wende die Unsicherheit zu erleben, was bisher war, gilt nicht mehr, in Kontakt zu kommen mit Drogen oder mit kriminellen Möglichkeiten, die es sicherlich auch in der DDR gab, aber doch in geringerem Maße. Es gab Herausforderungen für die damaligen 16-, 17-Jährigen, denen die Betreuer ja auch gewachsen sein mussten. Die nächste große Unsicherheit oder der nächste Einschnitt war 1997, als es darum ging, die kommunalen Einrichtungen der Jugendhilfe zu überführen in eine Art freie Trägerschaft, sprich in das Jugendaufbauwerk Berlin, eine Anstalt des öffentlichen Rechts. Es gab anfangs ja keine eigene Trägerschaft der bestehenden Heimeinrichtungen, sondern sie waren direkt beim Jugendamt angesiedelt, also öffentliche Heimeinrichtungen. Und bei der Überführung des Heims und der Clearingstelle entstand dann wieder für mich die Frage: Geht man mit in diese Anstalt, gibt es arbeitsrechtliche Änderungen bzw. Verschlechterungen, kann man seine bisherige Aufbauarbeit in der Clearingstelle fortsetzen? Sie sind damals ja mitgegangen und haben weiterhin in der Clearingstelle gearbeitet, was hat sich verändert? Ende der 90er wurden die Wege kürzer zur Geschäftsführung im Jugendaufbauwerk (JAW). Man konnte mit guten Ideen im JAW sehr schnell Befürworter finden. Es war 1997 einfach, neuen Wohnraum anzumieten. Wenn Ideen schlüssig, plausibel und gut waren, konnte man sehr schnell in die Konzeption einsteigen und hatte den finanziellen Freiraum, Dinge umsetzen zu können. Weil bis dahin ja auch noch galt: keine Kostensätze! Wir hatten noch keine Vergleichbarkeit mit freien Trägern und auch nicht diesen finanziellen Druck. Wir hatten deshalb auch keine wirklich gute Vorstellung davon, was Zuwendungsfinanzierung oder Tageskostensatz heißt. Wir hatten die kollegiale Verknüpfung zu den Kollegen im Jugendamt Pankow, aus der gemeinsamen Biografie, sodass bei vielen Dingen, die sich ein freier Träger anders und härter erkämpfen musste, ein gewisser Freiraum bestand. Dann kam die Umstellung 1997/ 98 - da ging es los mit den Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII. Wo wir als Mitarbeiter eines öffentlichen Trägers saßen und wo man mit freien Trägern diskutieren sollte. Und da gab es dann auch Probleme und Konkurrenz. 1998/ 99 kam dann die Einführung von Kostensätzen, und es wurde dann intern schwieriger, mühseliger, bestimmte Strukturen zu erhalten. Ein Beispiel dafür war die Clearingstelle Pankow, die einen Namen hatte im Jugendamt und dort für schnelle und umkomplizierte Hilfe für junge Menschen stand, bei denen Hilfe zu klären war: Der Name existierte seit 1992 und war noch bis 1997 angenehm, dann musste man den Namen einordnen: Ist es Betreutes Wohnen oder therapeutisches Wohnen oder um was genau handelt es sich denn? Kurzfristig hießen wir dann für den Senat eine zeitlang „Unikat“ und bekamen dann den Namen „sozialtherapeutisches Wohnen“. Aber den Mitarbeitern des Jugendamtes war klar und wir haben denen auch gesagt, wir sind die Clearingstelle und das bleibt auch so. Für mich kam immer wieder die Unsicherheit auf, reicht das aus, was du studiert hast für die Gegenwart? Wir waren ja nicht geschult in den neuen Gesetzen. Wir hatten damals zwar schon eine Vorlesung durch Herrn Prof. Münder von der TU Berlin bei uns am Institut für Lehrerbildung, was schon eine Überraschung war. Er hat uns damals mit dem Gesetz vertraut gemacht, er hat auch Kritik geübt, aber das war für uns noch nicht nachvollziehbar, weil das ja Kritik basierend auf Erfahrungen mit der 476 uj 11+12 (2009) 20 jahre wende Umsetzung der Rechtsprechung in der Bundesrepublik war. Bei Einführung der Kostensätze spitzte sich die Frage zu, welcher Berufsabschluss wird wie bezahlt. Das Heimerziehungsstudium wurde in Frage gestellt in Bezug auf das Ausfüllen des Aufgabenfeldes. Damals wurde der Heimerzieher der DDR zum Erzieher der BRD zurückgestuft, trotz Studiums. Die meisten Heimerzieher der DDR hatten ein Grundschullehrfach studiert. Es gab einen Stand der Heimerziehung in der DDR, der weiter war als der des klassischen BRD-Erziehers, der aber auch nicht dem klassischen Bild des Sozialarbeiters nach bundesdeutschem Niveau entsprach. Ich habe mich dann 2004 dafür entschieden, noch einmal zu studieren und einen Abschluss nachzuholen. 2006 stand dann die Auflösung des Jugendaufbauwerkes an, mit der Überführung der Einrichtungen des Jugendaufbauwerks an freie Träger. Und wieder entstand dann die Frage, gehe ich mit? Und ich habe mich dann entschieden, ins Jugendamt zu wechseln. Möchten Sie abschließend noch etwas zur Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in Ost- und Westberlin sagen? Was eine Besonderheit ist, die zu wenig Beachtung findet in der Diskussion um die Jugendhilfelandschaft, über die Zukunft eines Jugendamtes oder über die Zukunft von Jugendhilfe generell: Berlin war auf engstem Raum Frontstadt und Hauptstadt. Im Westen traditionell mit Experimentierfreudigen, mit Menschen aus der BRD, die in Westberlin Dinge ausprobierten, auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, die z. B. in Stuttgart vielleicht so nicht möglich gewesen wären. Auf der anderen Seite in Ostberlin eine hohe kommunale Verwaltungs- und Mitarbeiterdichte, eine gut strukturierte staatliche Jugendhilfe. Wie kann man solche Unterschiede zueinanderbringen, ohne zu vergessen, dass immer Menschen dahinterstehen, die in Lohn und Brot sind und die in irgendeiner Form ihre Arbeit machen wollen? Herr Seilert, ich danke Ihnen für das Interview! Das Interview führte Gabriele Bindel-Kögel. Der Interviewpartner Steffen Seilert Regionaler Sozialpädagogischer Dienst im Bezirksamt Pankow Danziger Straße 81 10405 Berlin
