unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Das Elend der Heimkinder
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2009
Hans-Peter Heekerens
Nach den Ergebnissen zweier jüngerer Prävalenzstudien leiden von zehn Kindern/Jugendlichen in deutschen Heimen sechs an emotionalen und Verhaltensstörungen; im Vordergrund stehen Verhaltensstörungen. Eine neue Studie zu den sogenannten Auslandsmaßnahmen zeigt an, dass wir es auch dort mit einer Problematik in vergleichbarer Stärke und Ausprägung zu tun haben. In beiden Fällen ist die kinder- und jugendpsychiatrische bzw. -therapeutische Versorgung mehr als unbefriedigend. Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Sozialpädagogik und im Kontext der Schnittstellenarbeit zwischen Kinder-/Jugendpsychiatrie sowie -therapie und Kinder-/Jugendhilfe diskutiert.
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uj 11+12 (2009) 477 Unsere Jugend, 61. Jg., S. 477 - 489 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Das Elend der Heimkinder Hans-Peter Heekerens Nach den Ergebnissen zweier jüngerer Prävalenzstudien leiden von zehn Kindern/ Jugendlichen in deutschen Heimen sechs an emotionalen und Verhaltensstörungen; im Vordergrund stehen Verhaltensstörungen. Eine neue Studie zu den sogenannten Auslandsmaßnahmen zeigt an, dass wir es auch dort mit einer Problematik in vergleichbarer Stärke und Ausprägung zu tun haben. In beiden Fällen ist die kinder- und jugendpsychiatrische bzw. -therapeutische Versorgung mehr als unbefriedigend. Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Sozialpädagogik und im Kontext der Schnittstellenarbeit zwischen Kinder-/ Jugendpsychiatrie sowie -therapie und Kinder-/ Jugendhilfe diskutiert. gesundheit im heim Einleitung Der folgende Artikel handelt von Kindern und Jugendlichen (künftig: Heimkinder), die heute in stationären Einrichtungen der deutschen Kinder- und Jugendhilfe leben. Ein Blick zurück ist in dem Zusammenhang sinnvoll. Im ersten Heft von „Unsere Jugend“ hat Andreas Mehringer, der damals die Redaktion der Zeitschrift inne hatte und nach Ende des 2. Weltkriegs den äußeren Wiederaufbau und den inneren Neubau des Münchener Waisenhauses vorantrieb, eine radikale „Reform der Anstalt“ (Mehringer 1949) gefordert. Wir brauchen uns hier nicht lange bei der NS- Vergangenheit von Andreas Mehringer aufzuhalten; sie vermindert nicht die Bedeutung, die er für die Entwicklung eines modernen Heimwesens in Deutschland hatte (so auch Schrapper 2005). Seit jenem ersten Artikel von 1949 gewährte „Unsere Jugend“ immer wieder Raum für kritische Anfragen an die deutsche Heimpraxis. So wurden hier im Jahre 2003 Ergebnisse der Kinderdorf-Effekte-Studie referiert (Graf u. a. 2003), darunter dieses: 80 Prozent der Kinder haben bei Aufnahme ins Kinderdorf (mindestens) eine psychische Störung. Diese Feststellung ist freilich mit so vielen methodischen Mängeln behaftet, dass sie nach üblichen Kriterien der Prävalenzforschung nicht als „gut begründet“ angesehen werden kann. Inzwischen hat sich die Datenlage in diesem Punkte deutlich verbessert. Das Kernstück dieses Aufsatzes bilden die beiden unten dargestellten „Ulmer Prävalenzstudien“. Freilich: Ein Aufsatztitel wie „Neuere epidemiologische Befunde zur Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens Jg. 1947; Dipl.-Psych., Dr. theol., Dr. phil. habil., Professor für Pädagogik und Sozialarbeit/ Sozialpädagogik an der Hochschule München 478 uj 11+12 (2009) gesundheit im heim Prävalenz emotionaler und Verhaltensstörungen in stationären Einrichtungen der deutschen Kinder- und Jugendhilfe“ wäre nicht die angemessene Überschrift der nachfolgenden Ausführungen gewesen. Er hätte die Brisanz der Resultate nicht aufscheinen lassen und den Umgang mit den Ergebnissen nicht eingeschlossen. Unterschichtskinder: eine Risikogruppe hinsichtlich emotionaler und Verhaltensstörungen Das Risiko, als Kind/ Jugendlicher eine emotionale oder Verhaltensstörung zu entwickeln, ist in der unteren Sozialschicht höher als in der mittleren oder oberen. Das ist einer der im Rahmen der Epidemiologie von emotionalen und Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter am besten dokumentierten Unterschiede; anzutreffen zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten. Und der Unterschied ist nach allem Wissen über Risiko- und protektive Faktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von emotionalen und Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter (vgl. etwa Fegert/ Besier 2009) nur allzu verständlich. Zur Illustration für die Situation hier und heute seien relevante Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS-Studie) in aller Kürze dargestellt (ausf. Heekerens/ Ohling 2009). Kinder/ Jugendliche aus der unteren Sozialschicht fallen im Vergleich mit denen aus der mittleren und oberen dadurch auf, dass sie häufiger sowohl Täter als auch Opfer bei Gewalthandlungen (11bis 17-Jährige) sind und häufiger Übergewicht und Adipositas haben; ferner im Vergleich mit denen der oberen Sozialschicht dadurch, dass sie häufiger Verhaltensprobleme (Hinweise auf dissoziales und deviantes Verhalten) zeigen und häufiger Täter bei Gewalthandlungen sind. Der BELLA-Studie, dem Modul „Psychische Gesundheit“ der KiGGS-Studie, ist zu entnehmen: Als bedeutsame Risikofaktoren für das Auftreten psychischer Auffälligkeiten (v. a. Ängste, Störungen des Sozialverhaltens, Depressionen) erweisen sich - unabhängig von einander - ein ungünstiges Familienklima sowie Herkunft aus der unteren Sozialschicht. Und als Ergänzung aus der Untersuchung der 11bis 17-Jährigen, denen (auch) Fragebögen zu personalen, sozialen und familiären Ressourcen vorgelegt worden waren: Kinder/ Jugendliche aus der unteren Sozialschicht weisen im Vergleich zu solchen aus der mittleren und oberen Sozialschicht häufiger Defizite in ihren personalen, sozialen und familiären Ressourcen auf. Heimkinder: eine Hochrisikogruppe hinsichtlich emotionaler und Verhaltensstörungen Kinder/ Jugendliche in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind in der Regel solche aus der unteren Sozialschicht. In der unten dargestellten 1. Ulmer Prävalenzstudie stammen alle in der Stichprobe betrachteten Heimkinder aus der unteren Sozialschicht. Stellen Kinder/ Jugendliche aus der unteren Sozialschicht hinsichtlich emotionaler und Verhaltensstörungen eine Risikogruppe dar, so muss man aufgrund empiriegestützter theoretischer Überlegungen in Heimkindern hinsichtlich emotionaler und Verhaltensstörungen eine Hochrisikogruppe vermuten. Die wesentlichen Punkte dieser theoretischen Überlegungen sind: uj 11+12 (2009) 479 gesundheit im heim 1. Hilfen zur Erziehung werden für Kinder/ Jugendliche der unteren Sozialschicht weitaus häufiger in Anspruch genommen, gewährt und realisiert als für Kinder der mittleren und oberen Sozialschicht. 2. Gegenüber der Referenzpopulation ist in der Inanspruchnahmepopulation der Hilfen zur Erziehung mit einer erhöhten Prävalenz von emotionalen und Verhaltensstörungen zu rechnen, weil die Hilfen zur Erziehung nicht zuletzt auch wegen des Vorliegens von emotionalen und (v. a.) Verhaltensstörungen bei den betreffenden Kindern/ Jugendlichen in Anspruch genommen werden. 3. In stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe - und das gilt auch für sogenannte Auslandsmaßnahmen (vgl. Fischer/ Ziegenspeck 2009) - finden sich, sieht man von denen ab, die nur vorübergehend zum akuten Schutz dort sind, diejenigen Kinder/ Jugendliche, für welche ambulante und teilstationäre Maßnahmen ungeeignet scheinen bzw. sich als unwirksam/ untauglich erwiesen haben; darin spiegelt sich zumindest teilweise, dass emotionale und (v. a.) Verhaltensstörungen breiterer, intensiverer und/ oder chronifizierter Natur vorliegen. Heimkinder im Spiegel des 13. Kinder- und Jugendberichts Die zuletzt vorgetragenen empiriegestützten theoretischen Überlegungen sind an Befunden zur psychischen Verfasstheit von Heimkindern in Deutschland - denn die obigen Überlegungen reflektieren spezifisch deutsche Verhältnisse - zu prüfen. An solchen Daten hat es lange gemangelt; erst die Ergebnisse der beiden unten dargestellten Ulmer Prävalenzstudien haben diesem Mangel abgeholfen. Und deren Ergebnisse haben es in sich. Um es an einem zentralen Befund zu verdeutlichen: Wir müssen davon ausgehen, dass sechs von zehn Heimkindern an einer emotionalen oder Verhaltensstörung im Sinne des ICD-10 (Klasse F) leiden. Stellt man dem gegenüber, dass die eher überals unterschätzende Bundespsychotherapeutenkammer (2009) davon ausgeht, dass etwa jedes/ jeder zwanzigste Kind/ Jugendliche in Deutschland eine behandlungsbedürftige Krankheit hat, dann ist zu sagen: Unter den Heimkindern ist das Vorliegen einer emotionalen oder Verhaltensstörung (mindestens) dreimal so hoch wie in der (Allgemein-)Population aller Kinder/ Jugendlichen. Und die psychisch erkrankten Heimkinder sind nicht wenige. Man hat für die letzten vier Jahre von einer Heimkinderzahl zwischen 60.000 und 70.000 auszugehen; die Mitte genommen, kommt man auf 39.000 Heimkinder mit emotionalen und Verhaltensstörungen. Krankheit und Gesundheit, auch psychische, sind zentrale Gegenstände des 13. Kinder- und Jugendberichts (Bundesregierung 2009; künftig: Bericht). Heime und Heimkinder werden im Bericht an verschiedenen Stellen auch eigens ins Auge gefasst. An zwei Stellen nennt der Bericht auch zwei epidemiologische Besonderheiten von Heimkindern; er referiert Befunde, nach denen zum einen Heimkinder häufiger Missbrauchserfahrungen haben (S. 130) und zum anderen Kinder mit geistiger Behinderung sich eher selbst verletzen, wenn sie im Heim statt zu Hause wohnen (S. 137). Von den Besonderheiten der Heimkinder hinsichtlich emotionaler und Verhaltensstörungen findet sich im Bericht dagegen nichts. Und wenn im Bericht von psychischen Belastungen der Kinder und Jugendlichen im Rahmen der Kinder-/ Jugendhilfe und im Kontext der Hilfen zur Erziehung die Rede ist, dann 480 uj 11+12 (2009) gesundheit im heim nur in einer Weise, die die Besonderheiten der Heimkinder nicht zum Vorschein kommen lässt. Da wird zunächst im darstellenden Teil des Berichts unter der Überschrift „Teilstationäre und stationäre Hilfen in Einrichtungen“ ausgeführt: „Erstaunlicherweise werden angesichts der hohen psychischen Belastungen der Kinder und Jugendlichen, die Erziehungshilfen nutzen, die Kinder- und Jugendpsychiatrie oder auch niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten von den Einrichtungen selten als Kooperationspartner genannt“ (S. 223). Und später wird im Zusammenhang der Kommissionsempfehlungen erwähnt, dass „Jugendliche in ambulanten, teilstationären und stationären Hilfen zur Erziehung in der Regel stärker als Gleichaltrige in körperlicher und psychischer Hinsicht gesundheitlich belastet sind und über weniger personale und soziale Ressourcen verfügen“ (S. 256). Solches Nicht-Benennen der spezifischen Situation in Heimen ist nicht damit zu erklären, dass die Sachverhalte der Sachverständigenkommission (künftig: Kommission) des Berichts nicht bekannt gewesen wären; im Literaturverzeichnis sind die relevanten Titel vermerkt, und eine „Ulmerin“ war Mitglied der Kommission. Was auch immer die Gründe dieses Nicht-Benennens gewesen sein mögen, mit ihnen wird eine Tradition des Nichtgenau-Hinsehens fortgesetzt, von der Jörg M. Fegert im Vorwort zu Marc Schmids (2007) Darstellung der 1. Ulmer Prävalenzstudie, für welche die Forschungsgelder letztlich von privater Seite kamen, schreibt: „Auch im wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Jugendinstituts hatte ich mich wiederholt dafür eingesetzt, dass man bei den dort durchgeführten hervorragenden Surveys ein Oversampling für bestimmte Risiken vornimmt oder auch einmal eine spezifische Kartographie im Sinne des Sozialmappings, z. B. in Bezug auf Vernachlässigung und Misshandlungsrisiken, vornimmt: Die Gefahr der Betrachtung allgemeiner Durchschnittszahlen liegt nämlich darin, dass sie spezifische Probleme in eng umschriebenen Bereichen unterschätzt oder bagatellisiert. Obwohl spätestens seit meiner Expertise zum 10. Jugendbericht und den allgemeinen Feststellungen im 11. Jugendbericht der Schrei nach Zahlen und Fakten in der Jugendhilfe und speziell zur Frage seelischer Störungen immer stärker geworden war, war es wohl logisch, dass kein öffentlicher Geldgeber eine solche Untersuchung eventuell anspruchsbegründender Tatsachen fördern würde. Entsprechende Anträge waren wiederholt im Sande verlaufen“ (Fegert 2007, 9). Die Sozialpädagogik muss genauer hinschauen Die Ergebnisse der Ulmer Präventionsstudien haben, aus welchen Gründen auch immer, im 13. Kinder- und Jugendbericht nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die ihnen gebührt. Und auch in der sozialpädagogischen Literatur ist der Nachhall (bislang) nicht existent oder doch zumindest so verhalten, dass er auch angestrengter Aufmerksamkeit entgeht. Das ist nicht gut. Das ist nicht gut für die betroffenen Heimkinder, weil ein Zur-Kenntnis-Nehmen ihrer Misere die Mindestvoraussetzung dafür darstellt, dass Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Lage überhaupt unternommen werden. Und es ist aus mehreren Gründen nicht gut für die Sozialpädagogik. Zum einen: Wenn die Soziale Arbeit es ernst meint mit ihrem Selbstanspruch, auch anwaltlich für ihre Klientel tätig zu sein, dann müsste dies hier heißen: auf die Not derer aufmerksam machen, die uj 11+12 (2009) 481 gesundheit im heim das selbst nicht können. Zum zweiten: Wie eigentlich müssen sich die KollegInnen, die in den Heimen bis an die Belastungsgrenze - und allzu oft darüber hinaus - arbeiten, fühlen, wenn die Härte ihrer Arbeit von Profession und Disziplin nicht einmal in der Weise gewürdigt wird, dass man die besondere Belastung ihrer Klientel hervorhebt? Zum dritten: Die Kommission mahnt zu Recht an, Kinder-/ Jugendhilfe und Kinder-/ Jugendpsychiatrie mögen sich mit wechselseitiger Anerkennung begegnen; es kann von seiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie schwerlich als Anerkennung gewertet werden, wenn die Kinder- und Jugendhilfe deren Forschung(sergebnisse) zur Prävalenz emotionaler und Verhaltensstörungen bei Heimkindern entweder ignoriert oder mental marginalisiert. Und noch ein Letztes. Von Alfred Korzybski (1941) stammt bekanntlich das Diktum: Die Landkarte ist nicht das Gelände. Das „Gelände“ Heimkinder ist in den Ulmer Prävalenzstudien vermessen worden mit Koordinaten der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wenn die Sozialpädagogik der Vermessung des „Geländes“ etwa unter Zuhilfenahme des ICD-10 kritisch („klassifikatorisch“, „pathologieorientiert“ etc.) gegenübersteht, dann ist es nicht damit getan, eine so angefertigte „Karte“ einfach als „falsch“ abzutun. „Karten“ sind nicht nach dem Code „wahr/ falsch“ zu beurteilen, sondern nach dem Code „nützlich/ unnütz“ - und (Un-)Nutzen hängt immer vom verfolgten Zweck ab. Vielmehr ist zweierlei zu tun: die von der Kinder- und Jugendpsychiatrie angefertigte „Karte“ des „Geländes“ zur Kenntnis zu nehmen, lesen zu können und auf ihre Nützlichkeit, von welcher Seite auch immer als solche definiert, zu prüfen. Und dann - und auch erst dann - ggf. eine sozialpädagogisch inspirierte „Karte“ anzufertigen und diese dann dem gemeinsamen Blick von Kinder-/ Jugendhilfe und Kinder-/ Jugendpsychiatrie zur vergleichenden Bewertung auf Nützlichkeit hin vorzulegen. Das jedenfalls wäre im Geiste des Berichts, der - zu Recht - mehr als einmal anmahnt, dass Kinder-/ Jugendhilfe und Kinder-/ Jugendpsychiatrie sich „auf gleicher Augenhöhe“ zu begegnen hätten. Die 1. Ulmer Prävalenzstudie Die 1. Ulmer Prävalenzstudie (Schmid 2007; Schmid/ Goldbeck/ Nuetzel/ Fegert 2008) ist vom Design her als zweistufige und multizentrische, d. h. an verschiedenen Orten zeitgleich durchgeführte Untersuchung anzusehen. Sie wurde durchgeführt an einer aus 20 stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (künftig: Heime) in Süddeutschland stammenden und als typisch für die derzeitige deutsche Heimklientel zu wertenden Stichprobe von 557 (1. Stufe) bzw. 464 (2. Stufe; 93 Drop-outs) Kindern/ Jugendlichen im Alter von 4 bis 18 Jahren. Die Stichprobe der 1. Untersuchungsstufe ist wie folgt charakterisiert: Das Altersmittel liegt bei 15,0 Jahren (Standardabweichung: 3,0 Jahre), das männliche Geschlecht überwiegt deutlich (71%), alle kommen aus der unteren Sozialschicht, in 81 Prozent der Fälle haben die leiblichen Eltern nie zusammengewohnt bzw. leben getrennt, und 45 Prozent der Kinder gehen nicht auf Regelschulen. Hier wie bei der 2. Ulmer Prävalenzstudie werden nur die Ergebnisse der drei Untersuchungen referiert, die zum einen in beiden Studien getätigt wurden und zum anderen die größte Aussagekraft hinsichtlich der Prävalenz emotionaler und Verhaltensstörungen haben. Zu nennen sind hier zunächst einmal die Ergebnisse zweier Untersuchungen; die eine durchgeführt mit der Child Behavior Checklist (CBCL; Einschätzung der 482 uj 11+12 (2009) gesundheit im heim GruppenerzieherInnen; nachfolgend berücksichtigt die drei zusammenfassenden (Global-)Skalen: internalisierende Verhaltensauffälligkeiten, externalisierende Verhaltensauffälligkeiten, Problemverhalten insgesamt), die andere mit dem Youth Self Report (YSR; Selbsteinschätzung - 11- Jährige und Ältere; nachfolgend berücksichtigt die drei zusammenfassenden (Global-)Skalen: internalisierendes Verhalten, externalisierendes Verhalten, Problemverhalten gesamt). Für beide Untersuchungsinstrumente gilt: Bei Überschreiten eines bestimmten Wertes gilt eine Person als „klinisch auffällig“, und bei Überschreiten eines weiteren, höheren Wertes ist eine Person in psychischer Hinsicht als „extrem belastet“ anzusehen. Nach dem CB- CL-Gesamtwert sind in der Untersuchungsgruppe 72 Prozent „klinisch auffällig“ und 33 Prozent „extrem belastet“. Das letzte Ergebnis in anschaulichere Sprache übersetzt: In der allgemeinen Gleichaltrigenpopulation werden von 100 Kindern/ Jugendlichen nur zwei als „extrem belastet“ eingeschätzt, hier aber 33 - also bald 17-mal so viele. Auch im Selbsturteil (YRS) beschreiben sich die Kinder/ Jugendlichen als psychisch stark belastet. Nach dem YRS-Gesamtwert sind 56 Prozent „klinisch auffällig“ und 21 Prozent „extrem belastet“. Das letzte Ergebnis wiederum in anschaulichere Sprache übersetzt: In der allgemeinen Gleichaltrigenpopulation schätzen sich von 100 Kindern/ Jugendlichen nur zwei als „extrem belastet“ ein, hier aber 21 - also bald 11-mal so viele. Zur Prüfung der Frage, ob bei den Heimkindern psychische und Verhaltensstörungen im Sinne des nach SBG V hierzulande verbindlichen Klassifikationssystems der Weltgesundheitsorganisation (Internationale Klassifikation der Krankheiten 10. Revision; ICD-10) vorliegen, wurden (Stufe 2 der Untersuchung) klinische Interviews mit Hilfe eines etablierten Diagnostiksystems für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter (Döpfner/ Lehmkuhl 2000) an denjenigen Kindern und Jugendlichen durchgeführt, die in der Stufe 1 der Untersuchung (mit CBCL und YRS, s. o.) auffällig und noch verfügbar waren (93 Drop-outs). Die nachfolgend genannten Prozentangaben beziehen sich auf die eingangs charakterisierte Gesamtgruppe abzüglich der Dropouts, also 464 Kinder/ Jugendliche. Mindestens eine Diagnose der Klasse F - dort finden sich die Diagnosen für psychische und Verhaltensstörungen - des ICD-10 erhielten 57 Prozent der Gesamtgruppe und 38 Prozent von ihr mehr als eine (einfache oder gemischte) Diagnose. Insgesamt betrachtet machen Diagnosen, die Verhaltensstörungen anzeigen, zwischen der Hälfte und zwei Dritteln (nämlich 58 %) der Diagnosen aus: Störungen des Sozialverhaltens ohne bzw. mit Störung der Emotionen (32 %; keine getrennten Angaben für die Einzeldiagnosen) und hyperkinetische Störungen des Sozialverhaltens (26 %). In Verbindung mit dem Befund, dass in der Untersuchungsgruppe sowohl bei der CBCL als auch bei dem YSR die Werte für externale Störungen noch größer waren als für internale, spiegeln die Resultate der drei Untersuchungen wider, was jeder Heimkundige weiß: Verhaltensstörungen sind das Hauptproblem. Angesichts dieser Befunde kann man nur von eklatanter kinder-/ jugendpsychiatrischer und -psychotherapeutischer Unterversorgung sprechen, wenn man sich Folgendes vor Augen führt: Nur 42 Prozent der Heimkinder befanden sich in irgendeiner Art von psychologischer oder psychotherapeutischer Behandlung, wobei keine Einschätzung der Frequenz und Intensität der in Anspruch genommenen Hilfen vorgenommen wurde. uj 11+12 (2009) 483 gesundheit im heim Die 2. Ulmer Prävalenzstudie Was hier „2. Ulmer Prävalenzstudie“ genannt wird, ist ein - hier interessierender - Teilaspekt der Ulmer Interventionsstudie (Besier 2008; Besier/ Fegert/ Goldbeck 2009; Goldbeck/ Fegert 2008). Die an der Untersuchung beteiligten Heime - Interventionsgruppe: 11; Kontrollgruppe: 15 - liegen in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Die bei einer ersten Gesamtschau betrachteten 781 Kinder/ Jugendlichen (Gesamtgruppe) sind denen der 1. Ulmer Prävalenzstudie ähnlich und wie diese als typisch für die derzeitige deutsche Heimklientel anzusehen. Von dieser Gesamtgruppe wurden 80 Prozent als „klinisch auffällig“ beurteilt, weil die Werte aus der CBCL oder 1 dem YRS die jeweilige Schwelle erreichten bzw. überschritten. Die Oder-Regel erhöht gegenüber einer getrennten Betrachtung der beiden Untersuchungsinstrumente natürlich die Wahrscheinlichkeit, als „klinisch auffällig“ zu gelten. Daher muss es nicht verwundern, dass in der 1. Ulmer Prävalenzstudie, wo getrennte Betrachtung vorliegt, die Prozentsätze für „klinische Auffälligkeit“ niedriger ausfallen. Was man im weiteren Verlauf der 2. Ulmer Interventionsstudie an Ergebnissen zu emotionalen und Verhaltensstörungen im Sinne von ICD-10 zu Gesicht bekommt, betrifft nur die Interventionsgruppe (n = 288), denn nur dort wurde für alle Kinder/ Jugendlichen - vor der Intervention - eine eingehende kinder- und jugendpsychiatrische Untersuchung durchgeführt und Diagnosen aus Kapitel F des ICD-10 vergeben. Alle Kinder/ Jugendlichen der Interventionsgruppe erhielten (mindestens) eine Diagnose der Klasse F des ICD- 10 2 und 38 Prozent - wie in der 1. Ulmer Prävalenzstudie - mehr als eine (einfache oder gemischte) Diagnose. Große Übereinstimmung zwischen der 1. und 2. Ulmer Prävalenzstudie zeigt sich auch hinsichtlich der vorherrschenden Störungsbilder. Insgesamt betrachtet machen Diagnosen, die Verhaltensstörungen anzeigen, in der 2. Ulmer Prävalenzstudie mehr als zwei Drittel (nämlich 71 %) der Diagnosen aus: hyperkinetische Störungen des Sozialverhaltens (39 %), kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen (23 %) und Störungen des Sozialverhaltens (9 %). In Verbindung mit dem Befund, dass auch in der 2. Ulmer Interventionsstudie sowohl bei der CBCL als auch dem YSR die Werte für externale Störungen noch größer waren als für internale, spiegeln die Resultate auch hier wider: Verhaltensstörungen sind das Hauptproblem. Zur Situation der Jugendlichen in Auslandsmaßnahmen Ein hoher Anteil psychopathologisch hoch belasteter Kinder und Jugendlicher zeigt sich nicht nur in Heimen, sondern auch in Tagesgruppen (Schmid u. a. 2006) und in Schulen für Erziehungshilfe (Schmid u. a. 2007). Einen ebenfalls hohen Anteil muss man in stationären Einrichtungen der deutschen Kinder- und Jugendhilfe im Ausland vermuten. Das jedenfalls legen Untersuchungsergebnisse des „Betreuungs-Report Ausland“ (künftig: Report; Fischer/ Ziegenspeck 2009), der bislang einzigen nach üblichen wissenschaftlichen Standards durchgeführten Untersuchung zu solchen Auslandsmaßnahmen nahe. Den nachfolgend referierten Studienergebnissen liegen Daten einer als typisch anzusehenden Stichprobe von anfänglich 81 Jugendlichen (wenige Ausfälle), zwei Drittel männlichen 1 E-Mail-Mitteilung von Tanja Besier an den Autor vom 15. 7. 2009. 2 E-Mail-Mitteilung von Tanja Besier an den Autor vom 15. 7. 2009. 484 uj 11+12 (2009) gesundheit im heim Geschlechts (Untersuchungsvorgabe) mit einem Durchschnittsalter von etwas mehr als 15 Jahren zugrunde; der Erhebungszeitraum erstreckte sich von Mai 2007 bis April 2008. Bei Auslandsmaßnahmen finden sich auf der einen Seite intensive sozialpädagogische Einzelbetreuungen sowie Gruppenbetreuungen in stationären Projekten (Standprojekten). Es ist nicht angegeben, wie sich die Untersuchungsgruppe auf die beiden Möglichkeiten verteilt. Ermittelt aber wurden die gesetzlichen Grundlagen der Auslandsmaßnahmen; die drei häufigsten (in Prozent der Fälle) bei Mehrfachnennungsmöglichkeit sind: SGB VIII § 27 (Hilfe zur Erziehung; 97 %), § 35 (Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung; 72 %) und § 34 (Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform; 38 %). Während nur rund ein Drittel der Jugendlichen auf der Grundlage von (auch) SGB VIII § 34 in der Auslandsmaßnahme ist, haben acht von zehn Heimerfahrung und die Hälfte davon kommt direkt aus dem Heim in die Auslandsmaßnahme. Das zeigen zum einen die Zahlen für die drei häufigsten jemals bzw. als letzte durchgeführten Vorhilfen im Inland (in Prozent der Fälle): Heimerziehung (82 %), Kinder- und Jugendpsychiatrie (66 %), Inobhutnahme (37 %) bzw. Heimerziehung (41 %), Kinder- und Jugendpsychiatrie (23 %), Inobhutnahme (14 %). Den Vorhilfen korrespondiert erwartungsgemäß, dass die drei häufigsten von Trägern und Jugendämtern genannten Problemzuschreibungen (in Prozent; Mehrfachnennungsmöglichkeit) solche sind, die man unter „Verhaltensstörungen“ zusammenfassen kann: Aggressivität (65 %), Schulverweigerung (53 %), Probleme mit Eltern bzw. Kriminalität (je 49 %). Für 77 Jugendliche liegen Ergebnisse vor, die mit einer an das Untersuchungsfeld methodisch angepassten Variante des „Freiburger Persönlichkeits-Inventars“ (FPI-R), dem Kernstück des in der Untersuchung eingesetzten „Güstrower-Beziehungs-Inventars“ (GBI), erzielt wurden. Zur Interpretation dieser Ergebnisse muss man sich vor Augen halten, dass die Ergebnisse nicht schon zum Beginn der jeweiligen Auslandsmaßnahme erhoben wurden. Vielmehr reflektieren sie jeweils Verhältnisse während der Maßnahme; im Mittel waren seit Maßnahmenbeginn bereits ca. 20 Wochen verstrichen. Bedeutsame Abweichungen, Werte, die im oberen oder unteren Drittel des Ergebnisbereichs liegen, zeigen sich in folgenden 6 der 12 Skalen (10 Standardskalen, 2 Zusatzskalen) des FPI-R: • Lebenszufriedenheit (erniedrigt), • soziale Orientierung (leicht erhöht), • Erregbarkeit (erhöht), • Aggressivität (erhöht), • körperliche Beschwerden (erhöht), • Emotionalität (erhöhte emotionale Labilität). Sieht man einmal von dem nur leicht erhöhten und nur schwer interpretierbaren (s. dazu die Ausführungen von Fischer/ Ziegenspeck 2009) Wert bei „soziale Orientierung“ ab, vermitteln die fünf anderen Skalen in ihrer Gesamtheit das Bild einer psychisch hoch belasteten Gruppe. Was tun? In einem Punkte sind schnelle Antworten fehl am Platz: bei den Verhaltensstörungen, die man unter „dissoziales Verhalten (oppositionelles, aggressives, delinquentes und kriminelles Verhalten) von Kindern und Jugendlichen“ zusammenfassen kann. Wenn wir die bisher vorgestellten Befunde zusammen betrachten und uns gleichzeitig vor Augen führen, was wir über die Wirksamkeit von psychosozialen Interventiouj 11+12 (2009) 485 gesundheit im heim nen bei dissozialem Verhalten von Kindern und Jugendlichen wissen (Beelmann/ Raabe 2007; Dretzeke u. a. 2009; Heekerens 2006), dann kann man nur sagen: Weder Kinder- und Jugendpsychiatrie noch Kinder- und Jugendpsychotherapie noch Kinder- und Jugendhilfe kann für sich in Anspruch nehmen, derzeit und hierzulande mit Methoden, Modellen und Ansätzen zu arbeiten, die bei Verhaltensstörungen im Jugendalter als das Vorgehen der Wahl anzusehen sind. Man muss das vorweg sagen, um sich klar zu machen: Auch eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Kinder-/ Jugendpsychiatrie sowie -therapie und Kinder-/ Jugendhilfe, von der nachfolgend die Rede sein soll, wird nicht automatisch alle Schwierigkeiten lösen, denen wir uns angesichts des dissozialen Verhaltens von Kindern und Jugendlichen gegenüber sehen. Hier gibt es jenseits zu lösender Fragen auf der Beziehungsauch schwer zu beantwortende auf der Sachebene, die an dieser Stelle lediglich markiert, aber nicht weiter erörtert werden können. Vorschläge für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Kinder-/ Jugendpsychiatrie sowie -therapie und Kinder-/ Jugendhilfe haben sowohl die Ulmer Gruppe als auch die Autoren des „Betreuungs-Report Ausland“ vorgenommen. Es scheint klug, an dieser Stelle die zweiten zu Wort kommen zu lassen, da sie beide Pädagogen sind (und auch Professuren für Pädagogik bekleiden). Damit stehen ihre Forderungen weniger im Verdacht, der „Therapeutisierung der Sozialpädagogik“ das Wort zu reden oder der „Psychiatrisierung der Kinder- und Jugendhilfe“ Vorschub zu leisten. Torsten Fischer und Jörg W. Ziegenspeck (2009) haben an die Kinder- und Jugendhilfe adressierte Forderungen erhoben, die sich auf Diagnostik einer- und Therapie andererseits beziehen. Zunächst zur Diagnostik: „Die Untersuchung hat gezeigt, dass Indikationsmengen und Problemzuschreibungen für Auslandsmaßnahmen zu stark auf sozialpädagogische Diagnostik und trägerinterne Persönlichkeitsdiagnostik fokussiert sind. Es wird daher empfohlen, dass psychologische sowie psychiatrische Persönlichkeitsdiagnostik externer Expertisen zukünftig eine größere Entscheidungsvoraussetzung für konkrete Betreuungsformen darstellen sollten. Diese Dringlichkeit ist deshalb geboten, da die Profile von Vorhilfen und empirische Befunde nach den Informationsklassen des GBI deutlich zeigen, dass in der Jugendlichenpopulation mehrheitlich schwerwiegende Dispositionsstörungen inneren Verhaltens vorliegen. Deren Feststellung dürfte sich sozialpädagogischen Beobachtungen und Befragungen nicht immer erschließen“ (S. 201). Und zur Therapie: „Offensichtlich erreichen die Betreuungsmaßnahmen mit ihren sozialpädagogischen Wirkungsbedingungen die sozialen Veränderungs- und Neuorientierungskontexte in der Lebenswelt der Jugendlichen recht gut. Für Persönlichkeits-, Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen inneren Verhaltens, also für psychische Dispositionsdefizite, werden sie nicht ausreichend wirksam. Hier entsteht die Empfehlung, dass vielseitige und abgestufte Kooperationsformen mit Ärzten und Psychotherapeuten intensiviert und stärker als bisher gesucht werden müssen“ (S. 208). Ein Blick auf relevante Behandlungskapazitäten des Gesundheitssystems Die oben referierten Forderungen klingen in der Sache vernünftig, und vergleichbare und erweiterte werden auch im 13. Kinder- und Jugendbericht (Bundesregierung 2009; vgl. v. a. 230 - 231) gestellt. Sie wer- 486 uj 11+12 (2009) gesundheit im heim fen indes zwei Fragen auf. Die eine ist die nach der erforderlichen Qualität der „Schnittstellenarbeit“ zwischen Kinder-/ Jugendpsychiatrie sowie -therapie und der Kinder-/ Jugendhilfe, die wir unten weiter verfolgen werden. Die zweite Frage lautet, ob denn die Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie derzeit die personalen und zeitlichen Kapazitäten haben, um solchen Forderungen nachzukommen. Für das Gebiet der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie scheint das nicht der Fall zu sein, weshalb der 12. Deutsche Psychotherapeutentag im Jahre 2008 die Forderung nach einer Mindestquote für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie von mindestens 20 Prozent der zugelassenen PsychotherapeutInnen gestellt hat. In zugespitzter Weise stellt sich die Versorgungsfrage - von den Auslandsmaßnahmen einmal abgesehen - hinsichtlich der Heime, die ja nur in Ausnahmefällen (wie etwa das Münchener Waisenhaus) in der Nähe von ambulanten und/ oder stationären Angeboten der Kinder-/ Jugendpsychiatrie und der Kinder-/ Jugendlichenpsychotherapie liegen. Formen zugehender/ aufsuchender Hilfe, wie etwa in der Ulmer Interventionsstudie realisiert, verdienen daher besondere Aufmerksamkeit. Im Bericht sind Angaben darüber zu finden, wie die Angebotsseite in Sachen Kinder-/ Jugendpsychiatrie und Kinder-/ Jugendlichenpsychotherapie im Verhältnis zu allen möglichen PatientInnen aussieht. Wir betrachten nachfolgend die drei dabei unterscheidbaren Indikatoren. Für jeden dieser Einzelindikatoren gibt es extreme Schwankungen zwischen den Bundesländern, und die Rangpositionen der einzelnen Bundesländer sind hinsichtlich der drei Einzelindikatoren sehr verschieden. Kurzum: Es ist nicht klar festzustellen, ob eines der Bundesländer in Sachen Kinder-/ Jugendpsychiatrie und Kinder-/ Jugendlichenpsychotherapie die Nase vorn hat oder das Schlusslicht bildet. Wir referieren nachfolgend die Zahlen für Baden-Württemberg, weil es das Bundesland ist, in dem die meisten Heime der Ulmer Studien liegen; sein Rangplatz unter den 16 Bundesländern ist in Klammern angegeben. In Baden-Württemberg kommen • auf einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie rund 48.600 Minderjährige (Rang 15), • auf einen Bettenplatz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie rund 3.800 Minderjährige (Rang 13), • auf einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten rund 4.000 Minderjährige (Rang 3). Dass wir es im angesprochenen Bereich mit einer Unterversorgung zu tun haben, zeigen zwei im Bericht genannte Indikatoren an: Zum einen beträgt in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts die mittlere Wartezeit auf einen Therapieplatz in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie viereinhalb Monate, und zum anderen wächst in diesem Zeitraum der Auslastungsgrad der kinder- und jugendpsychiatrischen Betten (in der Mitte des Jahrzehnts über 90), während die Verweildauer sinkt (aber auch 2006 im Mittel noch immer 42,5 Tage beträgt). Schnittstellenarbeit ist auch Beziehungsarbeit Reinhart Lempp, der frühere Tübinger Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie, ist einer der wichtigsten Protagonisten der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie nach dem 2. Weltkrieg. Der Zusammenarbeit von Kinder-/ Jugendhilfe und Kinder-/ Jugendpsychiatrie galt sein uj 11+12 (2009) 487 gesundheit im heim besonderes Interesse, und sein schmales Buch „Die seelische Behinderung bei Kindern und Jugendlichen als Aufgabe der Jugendhilfe“ (Lempp 1994/ 2006) ist als Klassiker anzusehen. Sein Vorwort (Lempp 2007) zu Marc Schmids (2007) Darstellung der 1. Ulmer Prävalenzstudie schließt mit den Worten: „Der Pädagoge, insbesondere der Sozialpädagoge, muss sich also auch um die Kinder- und Jugendpsychiatrie bemühen, ebenso wie der Kinder- und Jugendpsychiater sich um die Sozialpädagogik kümmern muss. Diese dringende Notwendigkeit hat die hier vorgelegte Untersuchung von Marc Schmid überzeugend deutlich gemacht“ (Lempp 2007, 15). „Bemühen“ und „kümmern“ sind Worte, die illustrieren, was mit „Beziehungsarbeit“ gemeint ist. Damit die Arbeit an der Schnittstelle zwischen Kinder-/ Jugendhilfe und Kinder-/ Jugendpsychiatrie aber anderes wird als die Einleitung und Beförderung von „Drehtürkarrieren“ oder die Errichtung und Unterhaltung von „Verschiebebahnhöfen“ und damit es ein Ende hat damit, dass sich beide Seiten „multipler ideologischer Schuldzuweisungen“ (Fegert 2007, 7) bedienen und „den jeweils anderen als Lückenbüßer an der Grenze der eigenen Ressourcen“ (ebd.) benutzen, bedarf es fortlaufender und verstärkter Beziehungsarbeit. Das ist ein weites Feld und eine große Aufgabe. Wichtige Anregungen dazu, wie beide Seiten zum Wohle der KlientInnen bei wechselseitigem Respekt, der solidarische Kritik nicht aus-, sondern einschließt, zusammenwirken können, sind bereits vorhanden; zu verweisen ist hier v. a. auf das „Handbuch Jugendhilfe - Jugendpsychiatrie. Interdisziplinäre Kooperation“ (Fegert/ Schrapper 2004) sowie auf einzelne Beiträge von seiten der Kinder- und Jugendhilfe (etwa Dörr 2009) und der Kinder- und Jugendpsychiatrie (etwa Fegert/ Besier 2009). Strukturelle Änderungen Beziehungsarbeit ist unerlässlich für eine erfolgreiche Schnittstellenarbeit, die ihrerseits notwendig ist, weil Kinder- und Jugendpsychiatrie und -therapie auf der einen sowie Kinder- und Jugendhilfe auf der anderen Seite hier und heute unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssystemen, um es in Luhmannscher Sprache auszudrücken, angehören. Und das bringt es mit sich, dass nicht nur die Gräben zwischen unterschiedlichen Disziplinen und Professionen zuzuschütten, sondern auch die Mauern verschiedener Kostenträger zu überwinden sind. Die Situation der Auf- und Zerteilung der gesellschaftlichen Bearbeitung von Problemlagen im Kindes- und Jugendalter ist Folge einer bald einhundertjährigen Entwicklung. Und wer die Eigendynamik und -logik gesellschaftlicher Funktionssysteme ähnlich beurteilt wie Niklas Luhmann (1997), hat allen Grund zum Zweifel, dass sich daran künftig etwas ändert. Aber man sollte eine Idee nicht aus dem Kopf streichen, an die Reinhart Lempp erinnert, auch wenn sie derzeit als Utopie anmutet: „Schon Mitte der 60er Jahre forderte der Strafrechtler Karl Peters auf dem Jugendgerichtstag erstmals die Überwindung der vielfältigen geschichtlich bedingten rechtlichen Zuständigkeiten in unserer Sozialgesetzgebung durch ein einheitliches Jugendhilferecht, in das die Zuständigkeiten und Ressourcen der Jugendhilfe ebenso wie der Krankenkassen, der Schulen, der Jugendgerichtsbarkeit und der Sozialhilfe mit eingehen sollten“ (Lempp 2007, 14). Von seiten der Kinder- und Jugendhilfe hat Margret Dörr in ihrer Expertise zum 13. Kinder- und Jugendbericht im Rückgriff auf Reinhart Lempp und unter Bezugnahme auf Jörg Fegert den Vorschlag unterbreitet, der einem Einreißen der Mauern der Kostenträgerschaft gleichkommt: 488 uj 11+12 (2009) gesundheit im heim „Statt eine weitere Diskussion über das Konkurrenz- oder Ergänzungsverhältnis zwischen diesen beiden Paragraphen (§ 35 a und § 27 Abs. 3 KJHG; d. Verf.) zu führen, sollte ein Poolsystem implementiert werden, bei dem alle in Frage kommenden Kostenträger (Krankenkassen, Jugendhilfeträger, örtliche und überörtliche Sozialhilfeträger, Justiz) in einen gemeinsamen Topf einzahlen, aus dem unabhängig von der jeweiligen Etikettierung die notwendigen Hilfen finanziert werden können (vgl. Lempp 1990). Denn ein großer Teil der Defizite von inter-institutionellen Kooperationen zeigt sich bezüglich der Finanzierung (! ) bzw. der Finanzierungsverantwortung. ‚Obwohl unser Sozialrecht im SGB IX auch Budget- und Paketlösungen vorsieht, gibt es immer noch große Ängste, gleichzeitige Notwendigkeiten der Krankenbehandlung und der Erziehungshilfe in Paketlösungen mit Mischfinanzierungen zu realisieren.‘ (Fegert 2007: 7)“ (Dörr 2009, 46 - 47). Änderungen der Qualifikationsstruktur Strukturelle Änderungen sind das eine, personale das andere. An die Adresse der Kinder- und Jugendhilfe gerichtet, weist die Kommission eigens auf die Notwendigkeit tätigkeitsfeld- und aufgabengebietspezifischer Qualifizierung hin: „Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe erfordern eine reflexive Professionalität. Die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe bedürfen gezielter Aus-, Fort- und Weiterbildung in gesundheitswissenschaftlichen Grundlagen (z. B. Salutogenese, Empowerment, New Public Health, Transfer der medizinischen und entwicklungspsychologischen Forschungsergebnisse in die Praxis) sowie in Kooperationswissen in Bezug auf Gesundheitsdienste, Eingliederungshilfe und Rehabilitation“ (Bundesregierung 2009, 257). Sie verspricht sich davon, dass die Fachkräfte dann „einerseits mit den Bedürfnissen und Auffälligkeiten dieser jungen Menschen besser umgehen und andererseits die Kooperation mit dem Gesundheitssystem ‚auf gleicher Augenhöhe‘ leisten“ (ebd.) können; vorausgesetzt, und dies fordert die Kommission in diesem Zusammenhang, die Fachkräfte haben den entsprechenden zeitlichen Rahmen dafür. Diese Voraussetzung ist derzeit nicht in befriedigendem Maße gegeben; der Verkleinerung der Heimbelegzahlen in den letzten Jahren korrespondierte eine Reduktion des Fachpersonals der stationären Erziehungshilfen (Rauschenbach/ Schilling 2008). Literatur Behlmann, A./ Raabe, T., 2007: Dissoziales Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Erscheinungsformen, Entwicklung, Prävention und Intervention. Göttingen Besier, T., 2008: Evaluation eines aufsuchenden, multimodalen ambulanten Behandlungsprogramms für Heimkinder zur Vermeidung stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlungsaufenthalte. Unveröff. Diss., Medizinische Fakultät der Universität Ulm Besier, T./ Fegert, J. M./ Goldbeck, L., 2009: Evaluation of psychiatric liaison-services for adolescents in residential group homes. In: European Psychiatry, 25. Jg. (im Druck) Bundespsychotherapeutenkammer, 2009: Psychotherapie > Themen von A - Z > Kinder und Jugendliche > 2. Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. www.bptk.de/ psychotherapie/ themen_von_a_z/ kinder_und_jugendliche/ 722818.html, 11. 7. 2009 Bundesregierung, 2009: Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland - 13. Kinder- und Jugendbericht - und Stellungnahme der Bundesregierung. Drucksache 16/ 12860 des Deutschen Bundestags. Berlin Döpfner, M./ Lehmkuhl, G., 2000: Diagnostik- System für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10/ DSM-IV (2., korrigierte u. erg. Aufl.). Göttingen Dörr, M., 2009: Gesundheitsförderung in stationären Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. uj 11+12 (2009) 489 gesundheit im heim Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht. www.dji.de/ cgi-bin/ projekte/ output. php? projekt=939, 14. 7. 2009 Dretzke, J./ Davenport, C./ Frew, E./ Barlow, J./ Stewart-Brown, S./ Bayliss, S./ Taylor, R. S./ Sandercock, J./ Hyde, C., 2009: The clinical effectiveness of different parenting programmes for children with conduct problems: a systematic review of randomised controlled trials. In: Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health, 3. Jg. www.capmh.eom/ content/ 3/ l/ 7, 20. 7. 2009 Fegert, J. M., 2007: Vorwort. In: Schmid, M.: Psychische Gesundheit von Heimkindern. Eine Studie zur Prävalenz psychischer Störungen in der stationären Jugendhilfe. 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