unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern - im Spiegel der deutsch-deutschen Transformation
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2009
Lothar Böhnisch
Bernd Seidenstücker
Die Autoren hatten Anfang der 1990er Jahre gleichsam die Seiten gewechselt. Bernd Seidenstücker als letzter Vertreter des (in der DDR einzigen) sozialpädagogischen Lehrstuhls an der Humboldt Universität Berlin wurde Professor an der Hochschule Darmstadt, Lothar Böhnisch kam von Tübingen erst als Gastprofessor, dann als Gründungsprofessor an die Technische Universität Dresden. Heute, fast 20 Jahre später, haben wir versucht, einen von der Erfahrung her geteilten, von der Intention her gemeinsamen Blick auf die Entwicklung der Jugendhilfe in Ostdeutschland nach der Wende zu werfen. Deshalb haben wir auch im Folgenden die Essayform gewählt.
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450 uj 11+12 (2009) Unsere Jugend, 61. Jg., S. 450 - 462 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern - im Spiegel der deutsch-deutschen Transformation Lothar Böhnisch/ Bernd Seidenstücker Die Autoren hatten Anfang der 1990er Jahre gleichsam die Seiten gewechselt. Bernd Seidenstücker als letzter Vertreter des (in der DDR einzigen) sozialpädagogischen Lehrstuhls an der Humboldt Universität Berlin wurde Professor an der Hochschule Darmstadt, Lothar Böhnisch kam von Tübingen erst als Gastprofessor, dann als Gründungsprofessor an die Technische Universität Dresden. Heute, fast 20 Jahre später, haben wir versucht, einen von der Erfahrung her geteilten, von der Intention her gemeinsamen Blick auf die Entwicklung der Jugendhilfe in Ostdeutschland nach der Wende zu werfen. Deshalb haben wir auch im Folgenden die Essayform gewählt. 20 jahre wende Rückblenden und Anregungen aus der DDR-Praxis der Jugendhilfe Zuerst sollen einige Anmerkungen zum Grundverständnis und zur Grundstruktur der Jugendhilfe in der DDR, bezogen auf den Erziehungshilfebereich, gemacht werden. Soziale Arbeit ist in ihrer grundsätzlichen Anlage - wie es sich in der historischen Entwicklung widerspiegelt - immer schon mit den jeweiligen Gesellschaftskonzeptionen und ihren Menschenbildern verknüpft. Nur so erklärt sich die jeweilig unterschiedliche Herangehensweise im Falle unterstützender, ergänzender oder/ und ersetzender Sozialisations- und Erziehungshilfen. Die Kompensation unzureichender bzw. fehlender familiärer Sozialisations- und Erziehungsleistungen wurde in der DDR über die Mobilisierung und Organisation des gesellschaftlich-erzieherischen Einflusses, besonders im Bereich der staatlichen Sozialisationsinstanzen (wie Krippe, Kindergarten, Schule, Berufsausbildung, Kinder- und Jugendorganisation), angestrebt. Die Jugendhilfe war an der Verstärkung und Bündelung dieser gesellschaftlich-erzieherischen Potenziale orientiert. Diese firmierten unter dem Begriff „spezifisch sozialpädagogischer Aktivitäten“, die in dem sogenannten „individuellen Erziehungsprogramm“ mit klaren Verantwortlichkeiten für die Eltern(-teile) und aller anderen am Erziehungs- und Bildungsprozess (s. o.) des jeweiligen Kindes bzw. Jugendlichen Beteiligten fest- und fortgeschrieben wurden. Hinzu kamen Initiativen zur notwendigen Veränderung der Lebensbedingungen der Familien: bezogen auf die Arbeitsstellen der Eltern, z. B. zur Schaffung von familiengerechterer Arbeitszeit bei Alleinerziehenden, oder kompensierende Interventionen bei anderen Verwaltungsstellen (z. B. kommunale Wohnungsverwaltungen zur Schaffung ausreichenden Wohnraums, Stundung von uj 11+12 (2009) 451 20 jahre wende Mietrückständen/ offenen Gas- und Stromrechnungen usw.). Der Bruch der in das Gesellschaftskonzept eingewobenen sozialen Kultur war nach der Wende deswegen so radikal, weil die bis dato grundsätzlich auf Generalprävention (in die die Spezialintervention eingewoben war) ausgerichtete Jugendhilfekonzeption der DDR in den neuen Bundesländern mit dem Wegfall der oben beschriebenen gesellschaftlich-sozialen Netzwerke keinen Bestand mehr haben konnte. Hinzu kommt, dass sich schon zu DDR-Zeiten diese Konzeption immer mehr von der Realität entfernte. Und zwar in dem Maße, wie die Bildungs-Erziehungs-Konzeption der DDR nicht aufging und sich die sogenannte sozialistische Lebensweise (u. a. des solidarischen Miteinanders) mehrheitlich nicht durchsetzte. Der DDR-Jugendhilfe verblieb insofern die konzeptionell eher als Sonderfall eingeräumte Einzelfallintervention. Diese war von ihrer Strategie her aber eben geradezu auf das gesellschaftlich-soziale Netz angewiesen. Bewusst wurde nicht auf individualisierend-therapeutische Verfahren und Methoden gesetzt, sondern vielmehr auf die nachhaltig stabilisierende Wirkung lebensweltorientierter Sozialisationsleistungen in ihrer ganzen Breite im Sinne eines gesellschaftsintegrierenden Ansatzes. Freilich wurde 1990 mit der Übernahme der - auch für die alten Bundesländer geltenden - neuen rechtlichen Rahmenbedingungen (KJHG) eine andere Kultur des Helfens erforderlich: von fürsorglich-paternalistischen Umgangsweisen mit der Klientel zu autonomieorientierten professionellen Interaktionsmustern. Dies erforderte einen extremen Stellenzuwachs in den Jugendämtern. Nicht nur wegen der erweiterten Zuständigkeit der Jugendämter (offene Kinder- und Jugendarbeit, insbesondere aber Kita-Bereich), sondern auch, weil mit der Professionalisierung ein (oft unsensibler) Abbau des Prinzips der Ehrenamtlichkeit einherging. Dass im DDR-Modell der ehrenamtlichen Jugendhilfekommissionen nach der Wende eher ein totalitärer Zugriff denn ein Gemeinwesenprinzip, das niedrigschwellige Arbeit ermöglichte, gesehen wurde, kann man heute nur noch mit Kopfschütteln nachvollziehen. Sicherlich stimmten die Proportionen nicht: ca. 1.500 hauptamtliche MitarbeiterInnen in den Jugendämtern zu ca. 30.000 Ehrenamtlichen. Neben professioneller Fachlichkeit, die allerdings nur gering zur Geltung kam, sollten bei den erzieherischen Hilfsangeboten und im Vormundschafts-/ Pflegekinderwesen die vielfältigen persönlichen Lebenserfahrungen der Ehrenamtlichen einfließen. Zudem sollte durch das Prinzip der Ehrenamtlichkeit - auch bei der Entscheidungsfindung, die Prof. Dr. rer. soc. habil. Lothar Böhnisch Jg. 1944; Professor für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Dresden, Arbeitsschwerpunkte: Sozialisation der Lebensalter, Gender, Sozialpolitik Prof. Dr. päd. habil. phil. Bernd Seidenstücker Jg. 1944; seit 1992 Professor für Pädagogik an der Hochschule Darmstadt und seit 2005 apl. Prof. für Erziehungswissenschaften/ Sozialpädagogik an der Technischen Universität Berlin, Arbeitsschwerpunkt: Jugendhilfe in ihrer ganzen Breite 452 uj 11+12 (2009) 20 jahre wende oft weit in die Lebenssphäre von Familien hineinreichte - nicht nur Expertenwissen von Belang sein, sondern auch ein Element demokratischer Kontrolle realisiert werden (vgl. die Verordnung über die Mitarbeit der Bevölkerung auf dem Gebiet der Jugendhilfe 1953, JHVO 1966). Soweit die Intention. In der Realität waren die Ehrenamtlichen in den Jugendhilfekommissionen, die flächendeckend die Basisarbeit leisten sollten, überfordert. Auch fanden sich für dieses ehrgeizige Ziel nicht ausreichend Ehrenamtliche, vor allem nicht aus der besonders avisierten Arbeiterschaft. Gleichzeitig waren die Ehrenamtlichen im Erziehungshilfebereich dann überfordert, wenn es um spezielle pädagogisch-psychologische Problemstellungen ging, deren Bearbeitung eben nicht allein mit der Methode der Organisierung gesellschaftlicher Einflussnahme gelingen konnte. Jedoch Elemente von Ehrenamtlichkeit als Laienkompetenz in die Jugendhilfe einzubringen, so z. B. bei der Führung von Vormundschaften, im Kinder- und Jugendschutz und bei den offenen Kinder- und Jugendfreizeitangeboten, wäre auch für die heutige Jugendhilfepraxis hilfreich - sollte es doch bei der Weiterentwicklung der Jugendhilfe, in der Sozialraumplanung und künftighin der Gestaltung von Bildungslandschaften darum gehen, die Ressourcen in den jeweiligen Sozialräumen zu entdecken, zu befördern, zu bündeln. Dazu gehört nicht nur die institutionelle Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule, vielmehr auch die Koordinierung der Kompetenzen von Professionellen und Semiprofessionellen/ Laien, kurzum das Sozialmanagement in einer sozialen Bürgergesellschaft. Dieser fachliche Rückblick des Kollegen mit „DDR-Hintergrund“ ist - neben der neuen Erfahrung, dass nunmehr plurale wissenschaftliche Horizonte jenseits von vorgegebenen Denkschablonen eröffnet wurden - ohne Zweifel mit der Erfahrung des Verlustes verbunden. In der Erinnerung des Kollegen mit „West- Hintergrund“ dagegen lebt die Nachwendezeit als Pionierzeit auf. Schnittmengen finden sich aber bei beiden. Die Verlusterfahrung sitzt tief, denn es geht ja nicht nur um den Abbau von Modellen und Einrichtungen, die durchaus auch heute bestehen können, sondern nicht zuletzt darum, dass im westdeutsch dominierten Transferdiskurs die Reformbestrebungen in der Jugendhilfe der späten DDR übergangen, meist einfach ignoriert wurden. So waren bereits in Folgewirkung des Helsinki-Abkommens (Korb 3: Menschenrechte) von 1975 in der DDR-Jugendhilfe seit den 1980er Jahren partiziellere Formen diskutiert und eingeleitet worden. Hervorzuheben sind hier die Bemühungen, die Partizipation der KlientInnen der Jugendhilfe zu verbessern: Einführung der sogenannten Freiwilligen Erziehungsvereinbarungen neben der Anordnung der Heimerziehung, Betonung der Aktivitäts- und Subjektstellung der zu Erziehenden, Modellvorstellung für eine bessere Zusammenarbeit der am Erziehungsprozess Beteiligten, die Gestaltung der Übergangsphase (Wohnung, Arbeit, Nachbetreuung ), eine den sozialpädagogischen Erfordernissen gemäße Neuregelung der Zuständigkeit der Jugendämter bei Ortswechsel. Auch dass der Bildungsgedanke für die DDR-Jugendhilfe zentral war, dass die Einheit von Erziehung und Bildung angestrebt werden sollte, dass Schule und Betrieb Patenschaften für entwicklungsgefährdete Jugendliche zu übernehmen hatten, rückt wieder ins Bewusstsein, wenn heute die Jugendhilfe als Bildungsort neu erfunden wird. Auch wenn künftig neue Wege und Konzepte z. B. der Alltagsbegleitung zu gehen sein werden, in deren Kontext professionelle Jugendhilfe im sozialen Umfeld uj 11+12 (2009) 453 20 jahre wende von Kindern, Jugendlichen und deren Familien eher organisierend und absichernd auftritt, kann eine Durchführungsbestimmung zur Jugendhilfeverordnung (JHVO) anregend sein. Darin wurden die genannten Verwaltungen auf der kommunalen Ebene u. a. dazu verpflichtet, elternlose Jugendliche und solche, die sich aufgrund ihrer Entwicklungsgefährdung bis zur Volljährigkeit in der Betreuung der Jugendhilfe befanden, auf deren Wunsch hin bei der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung individuell durch BetreuerInnen aus dem Arbeits-, Wohn- oder Freizeitumfeld zu unterstützen, ihnen eigenen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, ihre berufliche Entwicklung durch Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse zu sichern; für volljährig gewordene Jugendliche mit erheblichen physisch-psychischen Behinderungen, die eine selbstständige Lebensführung unmöglich machen, wurde eine angemessene sozialfürsorgerische Betreuung gesichert (7. Durchführungsbestimmung zur JHVO der DDR 1983). Ein weiteres Beispiel kann verdeutlichen, dass die Jugendhilfe die Anstrengungen darauf richtete, möglichst Heimunterbringungen zu vermeiden und dazu auch fördernde Bedingungen zu schaffen, welche die Ressourcen im sozialen und institutionellen Umfeld der Kinder und Jugendlichen aktivieren und deren Herauslösung aus dem Lebensumfeld nach Möglichkeit vermeiden konnten. Im jugend(hilfe)politischen und auch bildungspolitischen Selbstverständnis widersprach Fremdunterbringung dem Idealbild von gelingender gesellschaftlicher Erziehung, insbesondere auch erfolgreicher Schule bzw. der anderen Regelangebote im Bildungs- und Erziehungsbereich. Sie galt deshalb eher als Makel. So zielte eine Richtlinie aus dem Jahre 1974 auf die berufliche Ausbildung gekoppelt mit internatsmäßiger Unterkunft (in Lehrlingswohnheimen) und sozialer Betreuung. Diese Richtlinie war gerichtet auf „Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, bei denen Anzeichen sozialer Fehlentwicklung vorhanden (sind) und deren Persönlichkeitsentwicklung gefährdet und unter der Verantwortung der Erziehungsberechtigten nicht gesichert ist, sowie auf Jugendliche, die aus Einrichtungen des Strafvollzugs entlassen werden und zu den ErziehungsberechtigtenwegenungünstigerErziehungs- und Lebensbedingungen nicht zurück können oder wollen“ (Richtlinie 1974). Dazu arbeiteten die Jugendämter eng mit den Ämtern Berufsbildung/ Berufsberatung zusammen. Jährlich wurden auf überregionaler Ebene Bedarfsplanungen vorgenommen und entsprechende Kapazitäten in Lehrlingswohnheimen bereitgehalten bzw. geschaffen. Spätestens an den Personalbemessungskapazitäten für angedachte zusätzliche InternatserzieherInnen scheiterte allerdings nicht selten die professionelle Betreuung. Im Falle ihrer Umsetzung wirkte diese Betreuungsform der Separierung junger Menschen, die einen besonderen Unterstützungsbedarf hatten, entgegen. Durch das Zusammenleben Gleichaltriger mit unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen wurden positive Wirkungen mittels der Selbst- und Miterziehungspotenziale erhofft. Überdies sollte die avisierte Population über die berufliche Ausbildung „eine gesicherte berufliche Perspektive“ in einem möglichst qualifizierten Facharbeiterberuf erhalten, was angesichts des permanenten Arbeitskräftemangels auch eingelöst werden konnte. 1987 gab es insgesamt 1.315 Lehrlingswohnheime mit 127.727 Plätzen, wovon ein geringer Teil für die genannte Zielsetzung genutzt wurde (Statistisches Jahrbuch der DDR, 1988). Die Lehrlingswohnheimkapazitäten wurden in der Nachwendezeit extrem heruntergefahren und - wenn überhaupt - gemäß § 13, Abs. 3 KJHG nachgenutzt. Erst mit der in der Nachwendezeit grassierenden Jugendarbeitslosigkeit wurden ab Ende der 1990er Jahre sozialpädagogisch unterstützte Beschäftigungsprogramme als Modellprogramme aufgelegt, in denen diese Prinzipien der sozialen Vernetzung in der Zusammenarbeit von Erziehungshilfe und Beschäftigungsbereich gleichfalls programmleitend waren. Denn die weitgehende Entkoppelung des Jugendwohnens von der Ausbildungsbzw. Arbeitswelt ist bezogen auf die „klassische 454 uj 11+12 (2009) 20 jahre wende Klientel“ nachteilig. Diese jungen Menschen bedurften und bedürfen einer vernetzten Form von beruflicher Ausbildung und sozialpädagogischer Betreuung am Arbeitsplatz, aber vor allem auch der sozialpädagogischen Betreuung außerhalb der Arbeitswelt in den Freizeitbereich hinein, verstanden als Hilfe zur eigenständigen Lebensführung. Auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Allgemeiner bzw. Schulpädagogik und Sozialpädagogik in einem Schulversuch in (Ost-)Berlin war ein Versuch, die Lebenswelt der Kinder mit schulischem Lernen so zu verknüpfen, dass sich die Schule - ganz i. S. heutiger Debatten zur Ganztagsschulentwicklung - zu einem sozialen Lebensort entwickeln kann. Die Forschungsgruppe, die an den Lehrstühlen Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik an der Humboldt-Universität (Ost-)Berlin in den 1980er Jahren angesiedelt war, hat dem Schulversuch ein Aktivitätskonzept zugrunde gelegt, in dem davon ausgegangen wurde, dass Erziehung als spezielles Aneignungsverhältnis zu begreifen ist. Unter diesem Blickwinkel gewinnen die Aneignungsgegenstände einen hohen Stellenwert. Sie sind es, woran erzogen wird. Sie sind die Objekte, auf die sich aneignende Aktivität der Beteiligten bezieht. Die tradierte Zweipoligkeit von Erziehung, als das Verhältnis von ErzieherInnen und Kindern, wird ergänzt durch ein „Drittes“, nämlich die „gemeinsame Sache“, die gemeinsame Aufgabe. Für die heutige Ganztagsschuldebatte können insbesondere die Erfahrungen von Interesse sein, wie es gelingen kann, Schule als „sozialen Organismus“ zu begreifen, der mit vielfältigen Fäden in das jeweilige soziale Umfeld verknüpft ist. Dabei sollte man diese DDR-Erfahrungen im Ganztagsschulbereich auch dahingehend auswerten, welche Möglichkeiten und welche Barrieren der Verzahnung von schulpädagogischer und sozialpädagogischer Arbeit heute noch diskutierbar sind. So wurde z. B. im Falle drohenden Zurückbleibens von Kindern und Jugendlichen oder bereits eingetretener Schwierigkeiten durch die DDR-Jugendhilfe ein „Individuelles Erziehungsprogramm“ mit den LehrerInnen und anderen an der Erziehung Beteiligten, insbesondere den Eltern, unter Einbeziehung der Kinder bzw. Jugendlichen erarbeitet. Der Fokus war darauf gerichtet, besonders die LehrerInnen und andere hauptamtlich mit der Erziehung, Ausbildung und Betreuung Befassten nicht aus ihrer Verantwortung für die Kinder zu entlassen, sondern vielmehr deren jeweiligen Beitrag in den Individuellen Erziehungsprogrammen zu fixieren und in festen Intervallen fortzuschreiben („zu konkretisieren“). Analogien zur heutigen Hilfeplanung sind hier nicht zufällig, und die Erfahrungen können in die gegenwärtigen Überlegungen zur Zusammenarbeit mit den Schulen eingebracht werden. So wurde in den Individuellen Erziehungsprogrammen z. B. aufgenommen, welche Erfolgserlebnisse für das Kind durch Anknüpfung an welche Interessenlage im schulischen Kontext ermöglicht werden können, durch welche Fördermaßnahmen der LehrerInnen die schulischen Leistungen verbessert werden können, wie und mit welchen Inhalten die LehrerInnen die Zusammenarbeit mit den Eltern verbessern wollen, durch welche Freizeitangebote der Schule die Integration der Kinder in die Gemeinschaft gefördert werden kann, aber gleichermaßen, was der/ die SchülerIn, was die Eltern zu erbringen haben. Sicher: wir reden im Vorgenannten von Reformansätzen, die immer wieder hoheitlich blockiert wurden bzw. wenn sie von dort proklamiert wurden, in der Realität uj 11+12 (2009) 455 20 jahre wende wegen der permanent angespannten ökonomischen Situation immer wieder zum Erliegen kamen. Denn die Jugendhilfe hatte in der DDR keinen guten Stand. Sie hatte sich nach der offiziellen Ideologie mit generationsüberdauernden „Resten“ der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft herumzuschlagen. Mit Erreichen des Sozialismus - so die Programmatik - wären diese „Überbleibsel (klein-)bürgerlicher Lebens- und Verhaltensweisen“ überwunden; die Erziehungshilfe hätte im Bildungs- und Erziehungswesen aufgehen sollen, wie dies mit der Kinder- und Jugendarbeit bereits geschehen war. So lange aber Jugendliche in Heimen untergebracht waren, galt dies nicht als Vorzeigebeispiel für eine gelungene sozialistische Erziehung und warf auch kein positives Licht auf die Schule. Wenn internationale Delegationen, die in die DDR kamen, Heime oder Jugendwerkhöfe sehen wollten, dann wurde das meist abgeblockt. Zudem waren die Kapazitäten der Jugendwerkhöfe und anderer Heime aus den vorgenannten Gründen bewusst niedrig gehalten; von daher waren sie oft überbelegt. Bezogen auf den Heimbereich lautete nach der Wende jedoch das nicht selten politisch eingefärbte Pauschalurteil, auf eine Kurzformel gebracht: Autoritärer Staat ist gleich hohe Eingriffsorientierung (Heimunterbringung). Der statistische Vergleich bringt jedoch ein anderes Bild zu Tage: Wurden 1989, dem letzten Jahr eines möglichen deutsch-deutschen Vergleichs, im (alten) Bundesgebiet pro 10.000 Minderjährigen 75,8 junge Menschen fremduntergebracht, so waren dies in der DDR im gleichen Jahr 34,3. Daraus ist ersichtlich, dass in der DDR weit weniger als die Hälfte (45,3 %) außerhalb der eigenen Familie untergebracht war, als dies in der alten Bundesrepublik 1989 der Fall war. Erfahrungen und Konsequenzen aus der Nachwendezeit Der Neuankömmling aus Westdeutschland hatte damals nicht solche Einblicke. Es galt mit dem anzufangen, was (noch) da war. Da vieles an Jugendhilfeaktivitäten in der DDR über Betriebe, Schulen und Quartiersarbeit abgewickelt wurde, war auch vieles weggebrochen. Betriebe waren geschleift, Schulsysteme umgestellt, Stadtviertel sozial entmischt, Motivationen angesichts der Desillusionierung, die mit dem Untergang der DDR verbunden war, zerstört. Dennoch konnte man die Erfahrung machen, dass sich seit Mitte der 1980er Jahre Reformkräfte in der DDR entwickelt hatten, die nun, in der Übergangszeit nach der Wende, freigesetzt wurden. Die kirchliche Jugendarbeit, die schon in der DDR mit jugendlichen Außenseitern gearbeitet hatte, konnte sich nun produktiv in Szene setzen. Sie brachte ihre Erfahrungen vor allem in die Entwicklung der Offenen Jugendarbeit und der Streetwork ein. ErzieherInnen sahen sich nun auf einmal aufgefordert, jenseits starrer Richtlinien zu experimentieren. Die Runden Tische, die allerorten entstanden, gelten bis heute als einzigartige bürgerschaftliche Modelle. So kristallisierten sich nach der Wende an vielen Orten Personen und Gruppen heraus, die die Übergangszeit nicht nur zur Experimentierzeit machten, sondern vor allem auch die nun brüchige Infrastruktur der Jugendhilfe wenn nicht zu stabilisieren, so doch einigermaßen aufrechtzuerhalten versuchten. Diese offene Zeit nach der Wende, in der auch in der Jugendhilfe der neuen Bundesländer Experiment und Abbruch so nah beieinander lagen, wurde durch eine Entwicklung abgelöst, ja oft abgeschnitten, die unter dem Begriff der „Transformation“ schließlich die 1990er Jahre geprägt hat. 456 uj 11+12 (2009) 20 jahre wende Mit der Eins-zu-Eins-Übertragung der westdeutschen institutionellen und organisatorischen Strukturen der Jugendhilfe gab es schließlich kaum mehr Anknüpfungspunkte an die Vor- und Nachwendezeit. Die rechtlichen und administrativen Strukturen aus der alten Bundesrepublik wurden übertragen; die Kultur, in der sie sich entwickelt hatte, konnte aber nicht übertragen werden. So war von vornherein eine Tendenz der „hohlen“ Formalisierung und Bürokratisierung angelegt, die uns bis heute zu schaffen macht. Andererseits war dieser einseitige Transformationsprozess insofern nachvollziehbar, als es mit dem Wegbrechen der betrieblichen, schulischen und gemeindlichen Strukturen sowie der staatlich gelenkten Jugendarbeit weder Infrastruktur noch entsprechende Professionalität in der Jugendhilfelandschaft gab. An den neu gegründeten sozialpädagogischen Fachbereichen der Universitäten und Fachhochschulen wurde nachqualifiziert, umgeschult. Die nun offiziell propagierte neue Fachlichkeit (aus den alten Bundesländern transportiert oder vor Ort entwickelt) kümmerte sich meist wenig um Kompetenzen, die in der Vorwende- und Wendezeit erworben wurden. Deshalb versuchten wir, vor allem in den Nachqualifizierungen, an den Alltagserfahrungen der studierenden PraktikerInnen anzuknüpfen. Dennoch blieb das Problem der berufsbiografischen Entwertung, das oft auch die Einsicht in die Möglichkeiten blockierte, welche die neuen Erkenntnishorizonte hätten eröffnen können. Was dabei manchen aus Westdeutschland kommenden Professionellen immer wieder zu schaffen machte, war die im Osten fehlende Erfahrung mit dem demokratischen Konflikt. Viele der westdeutschen Fachkräfte stammten ja aus einer Generation, die sich in den Jugendhilfekonflikten und Reformkampagnen der 1970er und 80er Jahre fachlich entwickelt und zumindest ihren jugendhilfepolitischen Anspruch darauf bezogen hatten. Dass der demokratische Konflikt zu integrativen Kompromissen und darin zu sozialem Fortschritt führen kann, konnte hierzulande nicht so ohne Weiteres vorausgesehen werden. Im Gegenteil: Von den Hochschulen bis in die Ämter bildeten sich zuweilen seltsame, aber bezeichnende Bündnisse zwischen westdeutschen Sozialtechnokraten und autoritären Exponenten ostdeutscher Prägung. Das Ende bzw. die pragmatische Funktionalisierung der Runden Tische, die in der Zeit nach der Wende eine neue Konfliktkultur verhießen, bedeutete im gewissen Sinne auch das Ende einer konfliktbewussten Entwicklung der ostdeutschen Jugendhilfe. Danach ging es um die institutionelle Transformation und die Sicherung von Einflussräumen. Vor allem die Wohlfahrtsverbände haben es versäumt, die sich damals neu entwickelnden lokalen und regionalen Konfliktkulturen anzuerkennen und in ihre Verbandskulturen aufzunehmen. Sie standen im Wettbewerb um die Claims. Hier liegt einer der zentralen Gründe, warum sich aus der Wendephase heraus nicht eigenständige Merkmale einer ostdeutschen Jugendhilfekultur durchsetzen und weiterentwickeln konnten. Mit dieser Klage steht die Jugendhilfe nicht allein, sie ist auch in anderen gesellschaftlichen und Politikbereichen zu hören. Positive regionale Ausnahmen - wie z. B. in der Offenen Jugendarbeit, der Streetwork, der sozialpädagogischen Beschäftigungsförderung, der Wohngruppenarbeit, aber auch in den Modellen geschlechtssensibler Praxis und integrierter Jugendhilfe - sollen dabei nicht übergangen werden. An den ostdeutschen Hoch- und Fachschulen nach der Wende wurde aber nicht nur nachqualifiziert, sondern vor allem auch auf die neuen Ausbildungsgenerationen gesetzt. Diese entwickelten vielerorts in ihrer institutionell-professionellen Unuj 11+12 (2009) 457 20 jahre wende befangenheit eine Dynamik der Projektgründungen und experimentellen Ansätze in den Bereichen, die wir bereits als positive Ausnahmen angeführt haben und wie sie in Westdeutschland oft nicht mehr zu beobachten waren. Vieles verpuffte aber in den starren institutionellen Strukturen der öffentlichen und verbandlichen Jugendhilfe, deren Immobilität ja in der Regel darauf zurückzuführen war, dass sie keine eigene Institutionenkultur entwickeln konnten und dadurch oft im bürokratischen Formalismus stecken blieben. Ambivalent war auch die Politik der aus dem Westen gekommenen freien Träger, die einerseits Modellfelder eröffneten, gleichzeitig aber auch eine Claimpolitik der Besetzung möglichst vieler Felder der Jugendhilfe betrieben, auch wenn sie in manchen Bereichen gar keine Fachtradition hatten. Dennoch: In den städtischen Kommunen ist bis heute viel passiert, das hängt natürlich auch damit zusammen, dass die Jugendhilfe in den neuen Bundesländern wohl eine stärkere kommunale Prägung hat als die in Westdeutschland. Regional übergreifende Modelle waren und sind seltener. Die aber, die innovativ entwickelt werden konnten, haben gezeigt, dass in Ostdeutschland viel mehr an experimenteller Jugendhilfe möglich gewesen wäre: Denn die Modellansätze im Bereich der integrierten Erziehungshilfen (z. B. Jugendhilfestationen), des Kinder- und Jugendschutzes als Form niedrigschwelliger Präventionsarbeit, der Straßenkinder- und Frauenhausarbeit, des Quartiersmanagements, der Modelle in der Jugendberufshilfe und der sozialpädagogischen Beschäftigungsförderung, der Entwicklung regionaler sozialer Netzwerke können sich auch im europäischen Jugendhilfevergleich sehen lassen. Hier kann man inzwischen durchaus einiges vom Osten lernen! Gerade die Erfahrungen von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung und die damit verbundenen sozialen und psychosozialen Probleme, biografischen Entwertungen und Zukunftsängste durchziehen nahezu alle Bereiche der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern. Selbst die kulturelle und politische Bildungsarbeit kann nicht losgelöst von der Beschäftigungsproblematik agieren. Für die Jugendhilfe brachte das zum einen die Gefahr der Überforderung mit sich, zum anderen bot sich aber auch die Chance einer gleichermaßen lebensweltlich wie sozialpolitisch neuen Verortung. Vor allem die Jugendberufshilfe hat sich hier seit den Nachwendejahren von einer bloß ergänzenden und fallweisen Maßnahme zu einem System sozialpädagogischer Beschäftigungsförderung entwickelt. Damit hat sich nicht nur der Klientenkreis der Jugendhilfe um die jungen Erwachsenen an der zweiten Schwelle des Übergangs von der Ausbildung zum Arbeitsmarkt, sondern auch das Instrumentarium erweitert. Aus der Erkenntnis heraus, dass beschäftigungslose Jugendliche und junge Erwachsene Anerkennung und soziale Integration gerade außerhalb der Erwerbsarbeit brauchen, wenn sie sich die Zugänge zum Arbeitsmarkt nicht verbauen wollen, wurde die sozialpädagogische Begleitung allerorten zur zweiten tragenden Säule der Beschäftigung neben den berufsqualifizierenden Maßnahmen. Gleichzeitig konnte sie mancherorts eingebunden werden in einen dritten Sektor neuer Beschäftigungs- und Kooperationsformen neben dem ersten Arbeitsmarkt. Dass dies alles in einem nationalen Beschäftigungssystem ablief und abläuft, das weiter relativ starr auf den ersten Arbeitsmarkt zentriert ist, hat vieles an Modellübertragungen erschwert. Hier wäre es längst an der Zeit, die ostdeutschen Erfahrungen in ihrem Pilotcharakter anzuerkennen und ihre Verallgemeinerung und Institutionalisierung im Regelsystem zu betreiben. 458 uj 11+12 (2009) 20 jahre wende Dennoch bleibt ein Nebeneinander von Innovation und Blockierung, das durch die Abbautendenzen der letzten Jahre prekärer geworden ist. Die besonderen Lebensprobleme in Ostdeutschland - überproportionale Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, damit einhergehende Überforderung familialer Unterstützungssysteme, Mobilitätsdruck und krasse regionale Disparitäten - fordern neue Antworten heraus, blockieren aber gleichzeitig wieder aufgrund kurzfristiger und unmittelbarer Handlungszwänge. Hier erweist sich auch oft das westdeutsche Hegemonialprinzip als sperrig. Denn vieles, was in Ostdeutschland an Modellen über Förderungsmaßnahmen der Europäischen Union angestoßen worden ist, kommt über den Modellcharakter nicht hinaus, weil die aus dem Westen implementierten Strukturen die Modellergebnisse schwer aufnehmen können. So reiben sich z. B. sozialpädagogisch begleitende Beschäftigungsmodelle der Jugendberufshilfe des dritten Sektors an der traditionell erwerbsarbeitszentrierten, auf den ersten Sektor fixierten Struktur des bundesrepublikanischen Arbeitsförderungssystems, scheitern regionale Netzwerkinitiativen an den partikularen Interessen der großen und kleinen verbandlichen Träger, fehlt der Rückhalt von regionalen sozialen Initiativen, die in der institutionell verregelten Jugendhilfestruktur kaum Platz finden. Gleichzeitig mangelt es in Ostdeutschland immer noch an einer öffentlichen Konfliktkultur, an dem Bewusstsein, dass Wandel über demokratischen Konflikt vorangetrieben werden kann. In diesem Zusammenhang wurden immer zwei Barrieren genannt, welche die Etablierung einer kritischen Öffentlichkeit in Ostdeutschland verhindert haben: zum einen die alltagstradierten politischen Verhaltensweisen, die aus der DDR-Zeit überkommen waren - Ritualismus, Autoritarismus, Funktionsorientierung, familialer Rückzug -, zum anderen der gegenwärtige soziale und ökonomische Druck der Arbeitslosigkeit bzw. des Arbeitsplatzrisikos. Dabei ist deutlich geworden, dass diese dem DDR-Erbe zugeschriebenen Eigenschaften nicht einfach überdauert haben, sondern in den neuen kritischen Lebenskonstellationen aufbrechen, als Haltepunkte der Orientierung und Selbstsicherung ihre Anziehungskraft behalten. Insofern fließen die „alten“ und „neuen“ Situationen ineinander über, sodass man es sich zu leicht macht, wenn man es einfach als „Verharren“ in alten Strukturen interpretiert. Es ist ein Gemisch, das, sowie es freigesetzt ist, gleichzeitig durch Vergangenheit und Gegenwart geprägt ist. Deshalb war es ja auch für viele, die in der Nachwendezeit Entwicklungsarbeit in der ostdeutschen Jugendhilfe geleistet haben, so wichtig, Strukturen der Milieubildung und Anerkennung zu schaffen. Die „Biografiewelle“ in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, in der in vielen kommunalen Zirkeln biografische Wendeerfahrungen aufgearbeitet wurden, waren ein solcher Versuch, den Entwertungstendenzen Anerkennungsmilieus entgegenzusetzen. Auch wird bis heute nicht genügend erkannt, dass es eine besondere Aufgabe der Jugendarbeit in Ostdeutschland ist, Milieu- und Anerkennungsbezüge für Jugendliche zu schaffen, denn viele Jugendliche in den neuen Bundesländern sind immer noch mit besonderen gesellschaftlichen Abwertungen und isolierten Lebenssituationen konfrontiert. Dass dies heute an manchen Orten vor allem die Rechtsextremisten erkannt haben, ist angesichts der Abbautendenzen in der ostdeutschen Jugendarbeit bitter. Das wird von uns beiden so gesehen: als Hypothek der DDR-Vergangenheit, aber auch als Versäumnis der Nachwendezeit. uj 11+12 (2009) 459 20 jahre wende Gleichzeitig finden wir es endlich an der Zeit, Jugendhilfeansätze aus der späten DDR von ihren Strukturprinzipien (und nicht von ihren Programmatiken her) neu zu bewerten und auch entsprechend anzuerkennen. Wie oft hört man heute von älteren ostdeutschen KollegInnen mit „DDR-Hintergrund“ sagen, „das gab’s doch schon mal“, wenn es um neu deklarierte Ansätze im Ganztagsschulbereich, der niederschwelligen Quartiersarbeit, der Jugendpartnerschaften und der Betriebspartnerschaften geht. Hier DDR-Erfahrung aufzuarbeiten wäre nicht nur eine Referenz an ostdeutsche Berufsbiografien, sondern vor allem auch notwendiger Bestandteil eines historisch-vergleichenden Fachdiskurses. Auch die Erinnerung an vieles, was in der DDR-Jugendhilfe nicht geklappt hat, kann heute produktiv bearbeitet werden, wenn man nur endlich die Scheuklappen des unhinterfragten Ideologieverdachts einmal beiseite legen würde. So sollte man, wenn man heute angesichts der zunehmenden Verzahnung von Arbeit und Alltag z. B. über Betriebskindergärten nachdenkt, auch das in der DDR im Alltag leidlich beklagte Problem diskutieren, dass der Rhythmus des Betriebes zwangsläufig in den Erziehungskontext eindringt. Die Nachwendezeit als Lern- und Verständigungszeit Aber auch die Nachwendezeit der 1990er und beginnenden 2000er Jahre hat inzwischen ihre eigene Entwicklungsbilanz. Diese ist immer noch offen und darin ungewiss, aber inzwischen auch reich an Erfahrungen, wie Missverständnisse und neues Selbstbewusstsein gleichermaßen kommuniziert werden können. Dies soll an drei - unterschiedlichen - Beispielen dargestellt werden: am Gender-Diskurs, an der Problematik des Rechtsextremismus und an der Frage der „Modellfähigkeit“ ostdeutscher Projekte. D ie wohl überraschendste wie erschreckendste Herausforderung für die ostdeutsche Jugendhilfe der Nachwendezeit war die aufbrechende Ausländerfeindlichkeit, der unerwartete Rassismus bei Gruppen ostdeutscher Jugendlicher. Die Professionellen, die aus Westdeutschland kamen, waren genauso ratlos wie die JugendarbeiterInnen hierzulande. Wie konnte in einem Land, das eine so geringe Quote von AusländerInnen aufwies, ein solcher Sog entstehen? Sicher war in der DDR-Zeit vieles tabuisiert und nicht aufgearbeitet worden. In einem sich als antifaschistisch verstehenden Staat wurde das ja allenfalls als Relikt, aber nicht als ernstzunehmende Strömung abgetan statt ursächlich aufgearbeitet zu werden. So dachte man jedenfalls offiziell. Wie allerdings gleich nach der Wende die ostdeutschen Flohmärkte mit Nazi- Devotionalien überschwemmt wurden, ließ auf das Gegenteil schließen. Aber nicht nur das Aufbrechen eines jahrzehntelang zurückgehaltenen Tabus war die eigentliche Ursache dieser rechtsextremen Verstörungen der Jugendlichen. Es war vor allem die massive Desorientierung nach der Wende, die anomische Konstellation, in der alles möglich, aber kaum etwas erreichbar war, alles Vorangegangene wertlos erschien und nicht Neues an Wert gewann. Das Prinzip der Jugend, nach dem Grenzen überschritten werden müssen, um Grenzen erkennen zu können, war in einer nun als grenzenlos empfundenen Situation außer Kraft gesetzt. Der Halt, den die Eltern bieten sollten, war in vielen Familien nicht gegeben, da sie selbst von biografischer Entwertung und Arbeitslosigkeit heimgesucht waren. Auch gewohnte Orientierungspunkte der Gleichaltrigen- 460 uj 11+12 (2009) 20 jahre wende Kultur waren weggewischt: Jugendclubs wurden geschlossen, der überkommene Alltags-Rhythmus von Pflicht und Geselligkeit durchbrochen, die ungewohnte Konsumwelle für viele eher überfordernd denn befreiend. Die Rechtsradikalen verstanden es, die Konstellationen der Orientierungs- und Haltlosigkeit zu nutzen: Sie boten (und bieten weiterhin) Orientierung, Ordnung, Geborgenheit und Anerkennung an, wenn auch um den Preis der autoritären Unterwerfung und der Abwertung anderer. Nicht mehr und nicht weniger steckt bis heute dahinter. Die ostdeutschen Kids und Jugendlichen sind nicht rechtsradikal, sie sind „zwangsläufig“ in den Sog rechtsradikaler Strömungen geraten. Man kann sie nicht einfach wie Neonazis behandeln. Das war auch die Devise der „akzeptierenden Jugendarbeit“, mit der sich in den 1990er Jahren JugendarbeiterInnen und StreetworkerInnen an die Arbeit machten. Die Missverständnisse, wie sie vor allem in den neuen Bundesländern beschwört wurden, waren für uns unverständlich. „Glatzenpflege auf Staatskosten“ war eine der Etikettierungen, mit denen das Bundes-Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) belegt wurde. Dabei glaubten wir, die von der TU Dresden aus die wissenschaftliche Begleitung übernommen hatten, hinreichend erklärt zu haben: „Akzeptieren“ bedeutet nicht, die rechtsorientierten Einstellungen gutzuheißen, sondern zu verstehen, warum die Jugendlichen in das neonazistische Fahrwasser geraten, um ihnen Alternativen (funktionale Äquivalente) anbieten zu können. Gerade aus den Erfahrungen dieses Programms haben wir gelernt: Es waren (und sind bis heute) Kids und Jugendliche, die unter mangelndem Selbstwert und fehlender sozialer Anerkennung leiden und durch aggressive Abspaltung dieser ihrer Hilflosigkeit Kompensation suchen. Die Neonazis bieten ihnen mit ihrem autoritären und rassistischen Programm die entsprechenden Projektionsflächen. Die Projekte des damaligen Programms haben vielen, die sonst sicher abgedriftet wären, Orte der Anerkennung und Wirksamkeit geboten, zumindest eine Pufferzone geschaffen. Die Grundidee dieses Programms ist heute aktueller denn je: Es braucht Orte, Projekte, Gelegenheitsstrukturen in den Regionen, in denen Jugendliche sich produktiv in Szene setzen, bemerkbar machen können. Umso skandalöser und kurzsichtiger ist der gegenwärtige Trend zum Abbau der offenen Jugendarbeit, während gleichzeitig rechtsextreme Organisationen ihre Projekte in die jugendpolitisch vernachlässigten Landstriche setzen. E ines der tiefgreifenden Missverständnisse in und nach der deutsch-deutschen Transformationsphase entzündete sich gerade auch im Fachdiskurs der Jugendhilfe an der Geschlechterfrage. Worauf man im Rückblick auf die DDR hierzulande stolz sein konnte, war doch die berufliche und gesellschaftliche Emanzipation der Frau. Dies wurde nun aus der westdeutschen feministischen und frauenpolitischen Diskussion heraus in Frage gestellt, mit Hinweisen auf weiterbestehende familiale Gewaltverhältnisse und patriarchale Politikstrukturen. Wo doch die weibliche Berufsquote wesentlich höher lag als in der alten BRD und ostdeutsche Frauen in allen Berufsfeldern - gerade auch den technischen - und in den mittleren Leitungspositionen deutlich vertreten waren! Da half auch der Hinweis nicht viel, die Frauen in der DDR hätten bei aller Berufstätigkeit weiter die Familienarbeit zu tragen gehabt und diese „Doppelbelastung“ verweise doch auf eine strukturelle Ungleichheit der Geschlechter. uj 11+12 (2009) 461 20 jahre wende Dieses Missverständnis hat bis heute seine Spuren hinterlassen, bricht immer wieder auf, wenn es um Traditionen und Konzepte der Frauen- und Mädchenarbeit geht. Die Männer wiederum sind bei all dem außen vor geblieben, der Gender-Disput konzentrierte sich auf die Frauen. Die Auseinandersetzung um die Rolle der Männer in der DDR-Gesellschaft blieb aus. Heute wundern wir uns über die Hilflosigkeit mancher junger Männer in den neuen Bundesländern, ihre Immobilität, ihren Drang nach Rechts. Auch das ist in der Folge der damaligen West-Ost-Vermittlung zu thematisieren. D ie späteren 1990er Jahre brachten der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern bis in die 2000er Jahre hinein einen breiten Modellschub. Die Programmatik des „Experimentier- und Innovationsraumes“, den sie ökonomisch und sozial darstellen sollten, schien einlösbar. Gerade weil sie zu den bevorzugten Zielgebieten der EU-Förderung gehörten, erhielten sie die Chance, im sozialpolitischen Bereich regionale Modelle zu erproben. „Netzwerke statt Maßnahmen“ war die förderungspolitische Devise, und es konnten Formen integrierter Jugendhilfe, regionale Übergangssysteme und - in den EQUAL-Entwicklungspartnerschaften - Kooperationen zwischen Jugendhilfe, Wirtschaft und Beschäftigung im „Dritten Sektor“ in Gang gebracht werden. Hier wurde der ostdeutschen Jugendhilfe zum Vorteil, was ihr im deutsch-deutschen Transformationsprozess als Nachteil angekreidet wurde: Da sie nicht institutionell versäult war, konnte sie flexible Strukturen und kreative Vorort- Lösungen entwickeln. Im EU-Fachdiskurs standen deshalb die portugiesischen, spanischen oder italienischen KollegInnen den ostdeutschen Professionellen oft näher als diese den westdeutschen, denn sie hatten ähnliche Entwicklungsbedingungen. Das Problem ist bis heute, dass diese Modelle - vor allem im Beschäftigungsbereich - bei uns nicht entwicklungsbestimmend sind, sondern in den gesamtdeutschen Richtlinien-Rahmen eingepasst werden müssen und damit ihre Schubkraft verlieren. Hier liegt das eigentliche entwicklungspolitische Defizit in den neuen Bundesländern, das gerade der Jugendhilfe weiter zu schaffen macht. Schlussbemerkung TransformationstheoretikerInnen sprechen von einem deutschen Sonderweg im Vergleich zu den anderen postsozialistischen Gesellschaften. Durch die Ausblendung der eigenständigen ostdeutschen soziokulturellen Traditionen kam es zu kulturellen Abstoßreaktionen, da innovative Potenziale ostdeutscher Kulturen blockiert wurden. Die dann beklagte „Sperrigkeit“ ostdeutscher Mentalitäten bei der Einführung der in den westdeutschen Milieus gewachsenen Handlungsansätze überrascht deshalb gerade aus lebenswelttheoretischer Sicht nicht. Da die Definitionsmacht vornehmlich bei westdeutschen AkteurInnen lag, waren die Erfahrungen aus der DDR- Jugendhilfe, nachdem nicht selten beinahe schon ritualisierte, negative Pauschalurteile gefällt waren, in ihrer Differenziertheit nur selten von Interesse. Auch die Erkenntnisse, die in der institutionalisierten Kleinkinder- (Krippe) bzw. Vorschulkinder- (Kindergarten) und außerschulischen Schülerbetreuung (Hort) lagen, wurden nicht ernsthaft ausgewertet. Eher müssen dafür Erfahrungen aus Frankreich und den skandinavischen Ländern herhalten. Eine von Bernd Seidenstücker 2000 durchgeführte Umfrage unter Fachkräften, die sowohl zu DDR-Zeiten als auch nach der Wende in der Jugendhilfe tätig waren und sind, ergab bezüglich der Frage, was 462 uj 11+12 (2009) 20 jahre wende sich aus der DDR-Jugendhilfezeit erhalten hat, ein bezeichnendes Meinungsbild: Die Jugendhilfe habe heute wie damals keine gesellschaftliche Lobby, sie sei nur schlecht ausgerüstete soziale Feuerwehr, sie habe gesellschaftlich verursachte Probleme möglichst kostengünstig und lautlos zu lösen und sähe sich immer wieder Alibiverlautbarungen der Politik gegenüber. Was uns deshalb in unserem deutschdeutschen Vergleich an problematischer Gemeinsamkeit auch heute noch auffällt, ist die gesellschaftliche Tatsache, dass die Jugendhilfe in der DDR wie auch in der alten Bundesrepublik eine Randstellung innehatte und dass dies auch in der neuen Bundesrepublik anhält. War diese Marginalität in der DDR politisch-ideologisch, so ist sie in der Bundesrepublik systemisch bedingt. Dieser Randstellung entsprach und entspricht auch eine larmoyante bis resignative Grundhaltung bei nicht wenigen PraktikerInnen der Jugendhilfe. Hier sehen wir eine der wichtigsten Aufgaben zukünftiger Ausbildung und Praxis: dazu beizutragen, dass sich eine kritische Jugendhilfeöffentlichkeit entwickeln kann, die die Unverzichtbarkeit der Jugendhilfe in einer strukturell sich wandelnden, immer wieder neue psychosoziale Probleme freisetzenden Gesellschaft aufzeigen und anmahnen kann. Nur so können wir dem Paradoxon entgegenwirken, dass die sozialen Risiken von heute bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen, Jugendhilfe aber weiterhin an den Rand gedrängt wird. Die Autoren Prof. Dr. Lothar Böhnisch TU Dresden - Fakultät Erziehungswissenschaften Weberplatz 5 01217 Dresden Prof. Dr. Bernd Seidenstücker Hochschule Darmstadt Adelungstraße 51 64283 Darmstadt bernd.seidenstuecker@h-da.de
