unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Über die sinkende Verweildauer von Kindern in einem Heim - Ursachen, Wirkungen, Konsequenzen
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2009
Joachim Rumpf
Als ich 1973 die pädagogische Verantwortung für ein Heim mit 36 Plätzen übernahm, traf ich dort Mädchen und Jungen an, die sich bereits seit Eröffnung der Einrichtung im Herbst 1968 dort befanden. Viele blieben bis zum Ende ihrer Schulzeit dort. Zu den meisten von ihnen riss die Verbindung nie ab. Dies hat sich geändert, die Verweildauer sinkt in den letzten Jahren erheblich.
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26 uj 1 (2009) Unsere Jugend, 61. Jg., S. 26 - 33 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel heimerziehung Über die sinkende Verweildauer von Kindern in einem Heim - Ursachen, Wirkungen, Konsequenzen Joachim Rumpf Als ich 1973 die pädagogische Verantwortung für ein Heim mit 36 Plätzen übernahm, traf ich dort Mädchen und Jungen an, die sich bereits seit Eröffnung der Einrichtung im Herbst 1968 dort befanden. Viele blieben bis zum Ende ihrer Schulzeit dort. Zu den meisten von ihnen riss die Verbindung nie ab. Dies hat sich geändert, die Verweildauer sinkt in den letzten Jahren erheblich. Ein Blick auf die eigene Statistik verlangt nach Erklärungen. Im Zuge der Selbstevaluation sind Fragen nach Ursachen für bestimmte Entwicklungen und Trends entstanden, denen vonseiten der Forschung noch wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. In der Praxis werden Konsequenzen diskutiert und Lösungsansätze gesucht. Zunächst soll ein Überblick über die Entwicklung von sehr begrenzter Aufenthaltsdauer von Kindern in unserer Einrichtung gegeben werden: Im ersten Jahrzehnt von Dezember 1968 bis Ende 1978 waren 7 Kinder nicht länger als ein halbes Jahr in diesem Heim. Hinzu kommen 5 Geschwisterkinder, die Anfang 1969 ausdrücklich nur so lange bei uns untergebracht worden waren, bis sie in eine Pflegestelle aufgenommen werden konnten. (Diese 5 Kinder blieben übrigens bis zur Stunde die einzigen der von uns bis Ende 2007 entlassenen 315 Kinder, die direkt in eine Pflegestelle überwechselten.) Im zweiten Jahrzehnt des Bestehens dieser Jugendhilfeeinrichtung (1979 - 1988) waren es 2 Kinder, die nur relativ kurz, also unter einem halben Jahr blieben. Im dritten Jahrzehnt (1989 - 1998) wurde kein Kind nach so kurzer Zeit wieder herausgenommen. Im Laufe des vierten Jahrzehntes (1999 bis 31. 12. 2007) änderten sich die Zahlen erheblich. Mit 12 ausgeschiedenen Kindern mit einer Verweildauer von bis zu einem halben Jahr nahm die Anzahl der nur kurzzeitig bei uns lebenden Kinder erheblich zu. Auch die Anzahl jener, die nur zwischen 7 und bis zu 24 Monaten bei uns waren, ist im gleichen Zeitraum überproportional gestiegen. Dieser Trend lässt sich auch beobachten, wenn wir auf die durchschnittliche Verweildauer aller Kinder - hier ab 1988 - schauen. Dr. Joachim Rumpf Jg. 1932, Lehrer bis 1973; Erziehungsleiter in einer Jugendhilfeeinrichtung bis 1999; freiberuflich für Einrichtungen der Jugendhilfe tätig uj 1 (2009) 27 heimerziehung In den zehn Jahren von 1988 bis 1997 betrug die durchschnittliche Verweildauer der in diesem Zeitraum ausgeschiedenen Kinder 60,8 Monate. In den dann folgenden zehn Jahren deutet sich, im Gegensatz zu den vorangegangenen Zeiträumen, eine abnehmende Verweildauer an (vgl. Tabelle 1). Damit liegen unsere Zahlen deutlich über denen, die Friedhelm Peters (2008, 147) ermittelte, nach denen die durchschnittliche Verweildauer in stationären Hilfen in Deutschland „zwischen 1994 und 2004 um 10 Monate gesunken“ sei. Derartige Zahlen sagen zunächst noch nichts über die Schicksale der betroffenen Kinder aus und nichts darüber, ob und in welchem Ausmaß die im Hilfeplan zwischen allen Betroffenen vereinbarten Ziele erreicht wurden. So ist es möglich, und auch wir haben derartige Konzepte gemeinsam mit den Heranwachsenden, ihren Angehörigen und den Fachdiensten des Jugendamtes mit Erfolg umgesetzt, dass in einem vereinbarten Zeitrahmen von bis zu zwei Jahren zum Beispiel ein angestrebter Schul- oder Ausbildungsabschluss erreicht wird. Diese Möglichkeit für Kinder bzw. Jugendliche, die bei ihrem Heimeintritt eine der letzten Klassen der Haupt-, Sonder-, Realschule oder eine Berufsschule besuchten, wurde angeboten und immer häufiger genutzt. Es geht also in diesem Beitrag keineswegs darum, eine geplante und für die Entwicklung eines Kindes sinnvolle und zweckmäßige Befristung einer stationären Hilfe zurückzuweisen. Es gibt Jugendhilfeeinrichtungen, zu deren pädagogischem Konzept eine bestimmte Aufenthaltsdauer gehört (vgl. z. B.: http: / / www.jugendhilfemariahof.de/ seite1.htm, 15.09.08). Eine von vornherein befristete Hilfemaßnahme wäre dann allerdings unverantwortlich bzw. gesetzwidrig, wenn deren Gründe in anderen als im Jugendhilfegesetz verankerten Konzepten zu suchen wären, wie zum Beispiel in einer Budgetierung von Mitteln für bestimmte Jugendhilfemaßnahmen (Peters 2008, 148). „Der Einsatz ökonomischer Steuerungsmittel ist aus professionsethischer Sicht nur dann ethisch legitimiert … wenn der zentrale Norm- und Wertbezug der Profession … nicht verletzt wird“ (Langer Tab. 1: Verweildauer Durchschnittliche Verweildauer in Monaten aller in dem angegebenen Kalenderjahr ausgeschiedenen Kinder von 1998 bis 2007 1998 67 1999 80 2000 45 2001 35 2002 49 2003 41 2004 35 2005 35 2006 27 2007 10 28 uj 1 (2009) heimerziehung 2006, 396). Im Grunde ist also gegen eine zeitlich begrenzte stationäre Hilfe unter den angedeuteten Bedingungen nichts einzuwenden. Was uns irritiert und die pädagogischen Bemühungen ad absurdum führt, das ist die Zunahme von Situationen, in denen Kinder gegen die im Hilfeplan getroffenen Vereinbarungen nach Ferien- oder Wochenendaufenthalten nicht mehr in das Heim zurückkehren. Die Analyse interner und externer Ursachen Selbstverständlich sind bei der Frage nach den Ursachen einer derartig unbefriedigenden Entwicklung zunächst einmal die MitarbeiterInnen der Einrichtung herausgefordert, bei sich selbst nachzuschauen: Da ist zu prüfen, ob sich die Konzeption und deren Umsetzung im Alltag veränderte, ob und wie sich die pädagogische Atmosphäre entwickelte, wie sich das Zusammenwirken mit den Eltern und LehrerInnen gestaltete und andere wichtige Analysegesichtspunkte mehr. Notwendig ist aber auch, nach externen Gründen zu fragen. Da geben die Betroffenen selbst am ehesten Auskunft. Doch sowohl bei den sorgeberechtigten Angehörigen als auch bei den Minderjährigen, die Hilfepläne Hilfepläne sein lassen, Absprachen nicht wichtig nehmen und gleichsam „kurzen Prozess“ machen, wird gar nicht „das Heim“ für die Begründungen der eigenen Entscheidungen benannt. Was aber hat dann die zunehmende Unverbindlichkeit getroffener Vereinbarungen ausgelöst? Die Abbrüche sind durchweg ungeplant, sehr spontan erfolgt und nach unserer Kenntnis in der Regel auf einen Einstellungswandel bei den Personensorgeberechtigten zurückzuführen. Gemeint ist damit, dass die betroffenen Personensorgeberechtigten nur halbherzig die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Hilfemaßnahme mittragen und sie wie auch das der Hilfe bedürftige Kind das Prinzip der Freiwilligkeit überbewerten. Es ist wohl nicht immer gelungen, ihnen zu vermitteln, dass die gleichberechtigte Beteiligung am Kommunikationsprozess über geeignete Hilfen nicht bedeutet, gemeinsam geplante Ziele kurzfristig eigenmächtig zu verändern. Nun lässt sich dieser Trend, dass sowohl die Personensorgeberechtigten als auch die Minderjährigen die stationäre Jugendhilfe nur relativ kurz, gleichsam vorübergehend in Anspruch nehmen, auch positiv deuten und sagen: hier zeigt sich, dass der Grundsatz der Beteiligung, auf den „das ganze Konzept des SGB VIII und speziell das der Hilfeplanung nach § 36“ angelegt ist (Struck 2008, 91), ernst genommen wird. Beteiligung und Freiwilligkeit sind gut, wenn reichlich Gelegenheit und Zeit bleibt, im Interesse eines Kindes notwendige elterliche Entscheidungsprozesse zu fördern und ihre und die Motive ihres der Hilfe bedürftigen Kindes zu stabilisieren. Es sollten den KlientInnen „aufgeklärte Begründungen für sich selbst zu verantwortende lebenspraktische Entscheidungen angeboten werden, um … Handlungsmöglichkeiten zu steigern,“ erwartet Peter Marquart (2006, 168). Mangelt es an einer professionellen Begleitung durch die MitarbeiterInnen Sozialer Dienste des Jugendamtes oder anderer Fachkräfte vor Ort, kommt eine Tendenz in Richtung vermehrter Unverbindlichkeit in den Jugendhilfeprozess, der es den Personensorgeberechtigten erleichtert, dem Drängen ihrer Kinder nach Rücknahme in den Haushalt nachzugeben. uj 1 (2009) 29 heimerziehung Dieses „Drängen“ war schon in den vergangenen Jahrzehnten zu registrieren. Nach unseren Beobachtungen schrumpfen aber bei den Sozialen Diensten die Ressourcen, sodass die den Hilfeprozess begleitenden und die Heimunterbringung veranlassenden SozialarbeiterInnen den Personensorgeberechtigten nicht mit voller professioneller Kraft zur Seite stehen (vgl. den „Offenen Brief“ der JugendamtsleiterInnen Berlins vom 14. 5. 08, www.herwig-lempp. de/ daten/ doku/ 080514OffBrJugALBerlin. pdf). Auch in Folge der Ökonomisierung des öffentlichen Dienstes steht SozialarbeiterInnen des ASD in den Jugendämtern immer weniger Zeit zur Verfügung, gemeinsam mit ihrer Klientel Problemlagen zu bearbeiten (Peters 2008, 147). Zur Unverbindlichkeit von Absprachen mag auch beigetragen haben, dass Elternrechten (hier vor allem dem Aufenthaltsbestimmungsrecht) auch dann Vorrang gegeben wird, wenn nachgewiesen ist, dass das Wohl des Kindes in der Herkunftsfamilie nicht gesichert ist. Des Weiteren nimmt die Bereitschaft der Familiengerichte (und der Sozialen Dienste? ) ab, Eltern zum Wohle ihrer Kinder und zu ihrem eigenen Wohl dahingehend zu bewegen, auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu verzichten. Obwohl sich in Bezug auf die Ursachen, die Hilfen nach § 34 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG) herausfordern, in den vergangenen Jahrzehnten nichts geändert hat, vertraut der Gesetzgeber darauf, die betroffenen Eltern zur Einsicht in die für ihr Kind zweckmäßigen Hilfen bewegen zu können (ausführlich und mit aktuellen Bezügen vgl. Günder 2007, 217ff). Die Eltern, die ich in den letzten Jahrzehnten kennenlernte, fanden sehr selten von sich aus den Weg zum Jugendamt. Dass Kinder Hilfe brauchen, erkennen ErzieherInnen in den Kindergärten und LehrerInnen in den Schulen. Sie wirken auf die Eltern ein oder wenden sich an die Fachdienste des Jugendamtes. Die hier genannten externen Gründe scheinen uns ganz zentrale Ursachen für Abbrüche von Jugendhilfemaßnahmen zu sein. Insgesamt geht es um ein recht komplexes Motivbündel, das zum einseitigen Abbruch der Hilfe führt. Stichworte wie Schuldgefühle, Abwehr gegen Behördeneingriffe, Übertragungsprozesse, Trotz, Hilflosigkeit oder Egoismen lassen sich in den Hilfeplangesprächen erkennen. Ein Beispiel soll die Schwierigkeit, das Verhalten von Eltern zu begreifen, andeuten: In einem Bericht der Heimeinrichtung an das Hilfe gewährende Jugendamt über die Eltern eines Kindes, das am Ende der Sommerferien aufgenommen worden war, hieß es u. a., dass beide Elternteile über die Ursachen, die das Kind zunächst in die Kinder- und Jugendpsychiatrie geführt hatten, keine Aussagen machen konnten. „Ihre eigene Befindlichkeit und Betroffenheit standen im Vordergrund und nur darüber wollten sie sprechen.“ Sie waren nicht bereit oder in der Lage, während ihrer Besuche im Heim Auskünfte darüber zu geben, woher die enormen schulischen Defizite herrührten, noch wie sie alltäglichen Verrichtungen in ihrer Familie organisiert hatten. Es hatte sich herausgestellt, dass dem Jungen, als er, wie nach einer Aufnahme üblich, dem Zahnarzt vorgestellt wurde, acht Zähne gezogen werden mussten. Der Zahnarzt führte die Irreparabilität dieser Zähne auf mangelnde Mundhygiene und falsche Ernährung zurück. Der Hilfebedarf dieses Jungen in Bezug auf schulische Förderung sowie eine klare und verbindliche Alltagsgestaltung oder das soziale Verhalten lagen offen zutage. Er ließ nach wenigen Wochen des Aufenthaltes in der Einrichtung bereits erkennen, dass die neue Umgebung sich positiv auswirkte. In einem Zwischenbericht hieß es: Im Heim wirkt er „zunehmend entspannt und zeigt sich überwiegend fröhlich …Alle unterrichtenden Lehrer sehen, dass er (der Junge) sich zunehmend sicherer bewegen kann, und möchten ihm gerne die Chance einräumen, im positiv auf ihn wirkenden Klassenverband verbleiben zu können, und ihn nicht zurückstufen. Nach den Herbstferien soll darüber entschieden werden.“ Aus den Herbstferien aber kam dieser Junge nicht mehr zurück. Die Eltern behielten ihn und beendeten die Hilfe. 30 uj 1 (2009) heimerziehung werden, und bringen ihre Vorstellungen selbst mit ein. Vielleicht werden sie und ihre Eltern von den am Gespräch teilnehmenden Fachkräften sogar dazu überredet, der Einjahresfrist einer Maßnahme zuzustimmen. Doch bei Kindern, die das durchschauen, kann daraus eine Unverbindlichkeit erwachsen, die gegen erzieherische Bemühungen resistent macht. Verstärkt wird dieses Phänomen dann, wenn das Kind in eine Bewährungssituation gedrängt wird. Dann soll es in diesem Jahr zum Beispiel ein/ e gute/ r SchülerIn in Bezug auf Leistung und Verhalten werden - dann „darf“ es wieder heim. Im Dezember rief eine Mutter an und fragte im Hinblick auf das bevorstehende Weihnachtsfest die Erziehungsleiterin: „Nun, funktioniert mein Sohn wieder? Dann könnte er ja wieder heim.“ Da das von derartigen Eltern erwartete „Funktionieren“ in der Regel Kindern, die heute in die Einrichtungen kommen, unmöglich ist, werden deren Widerstände gegen eine unerfüllbare Bedingung verstärkt. Sie klammern sich am Ende nur noch an die Zusicherung, sie kämen ja eh bald wieder heim. Sie können und sie dürfen emotional nicht Fuß fassen. Das Heim darf keine Heimat - auch keine vorübergehende - werden. Das ist im Hilfeplan nicht mehr vorgesehen. Schlimm können auch die Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Kind und ErzieherIn sein Wer auf ein Kind einwirken will, sollte eine tragfähige und das heißt auch belastbare Beziehung herstellen können. Sie ist die Voraussetzung für unsere Wirksamkeit (vgl. u. a.: Mannschatz 2007, 34; Schleiffer 2005, 113ff; Wolf 2007, 39). Wie kann ein pädagogischer Bezug entstehen zu Kin- Auswirkungen der verkürzten Aufenthaltsdauer Wenn diese von uns beobachtete Entwicklung anhält und die Verweildauer von Kindern, die in stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe gegeben werden, immer mehr sinkt, dann hat diese Praxis auf die betroffenen Kinder und die Situation in den Einrichtungen bedenkenswerte Auswirkungen. Das soziale Gefüge der Gruppe kann sich nicht festigen Wenn aus einer Einrichtung mit 35 Plätzen und vier Gruppen innerhalb von zwei Jahren 28 Kinder ausscheiden, wie das 2006 und 2007 bei uns der Fall war, dann müssen im gleichen Zeitraum auch 28 Kinder wieder aufgenommen werden. Auf die Gruppenprozesse hat eine derartige Fluktuation destruktive Auswirkungen. Es kann zum Beispiel keine Ruhe in das soziale Gefüge einer Gruppe einkehren. Ständig scheidet ein Kind aus, ein neues kommt hinzu. Bis jedes Kind eine positive Rolle spielen kann und seine Position gefunden hat, wird das System wieder durcheinandergebracht. Mittel- oder gar langfristig angelegte pädagogische Konzepte wie zum Beispiel das der „Positive Peer Culture“ brauchen ein Mindestmaß an Kontinuität in Bezug auf die Zusammensetzung einer Gruppe (vgl. Steinebach/ Steinebach 2008). Die Unverbindlichkeit wächst bei den betroffenen Kindern und ErzieherInnen Die Kinder, auch die jüngeren, werden an den Hilfeplangesprächen beteiligt. Sie hören also, welche Vereinbarungen getroffen uj 1 (2009) 31 heimerziehung dern, die nur mal eben zu Besuch bei uns sind? Da diese Kinder sich besonders „widerständig“ verhalten, einige von ihnen werden obendrein noch bei jedem Kontakt mit der Herkunftsfamilie in Bezug auf ihre Problematiken negativ verstärkt, kann bei Fachkräften der Wunsch entstehen, dass das Jahr bzw. der Aufenthalt des Kindes bald zu Ende gehen möge. Der Vorschlag, den schädlichen Beziehungsabbrüchen durch die Einrichtung von „Professionellen Patenschaften“ zu begegnen, erscheint mir gut gemeint, allein aber wegen der hohen Ansprüche an dieses Ehrenamt als kaum realisierbar (vgl. dazu Schmidt 2008, 19). Nicht zu unterschätzen sind mögliche negative Auswirkungen auf das Ansehen der Einrichtung Gewiss betrifft das unsere Arbeit nicht mehr direkt, wenn dem/ der SozialarbeiterIn eindeutig klar ist, dass es die Personensorgeberechtigten waren, die die Maßnahme einseitig beendeten und damit die Vertragsvereinbarungen (Hilfeplan) brachen. In der Herkunftsfamilie und in der Schule, aus der das Kind kam, aber werden die nach wie vor vorhandenen Verhaltens- und Leistungsstörungen - in der Regel - noch verstärkt, die bestehenden Konflikte vergrößert. Eine Verschlimmerung des Zustandes aber wird dem Heimaufenthalt aus der Vergangenheit angelastet: Von dort ist das Kind schwieriger entlassen worden, als es vorher war. Kein Personensorgeberechtigter oder gar Minderjähriger wird bereit sein, die Verantwortung für die Verstärkung von Auffälligkeiten bei sich selbst zu suchen. Häufen sich derartige Abbrüche im Bereich eines bestimmten Jugendamtes, kann einer Jugendhilfeeinrichtung mit der Zeit daraus ein Image-Schaden erwachsen. Aufwand und Ergebnis stehen in keinem gesunden Verhältnis mehr zueinander Da in unserer Einrichtung - und nicht nur bei uns - Heimerziehung für längere Zeit vorgesehen ist, sind alle Abläufe im Hause auf entsprechende Fristen eingestellt. Hier einige Beispiele: Schon die Vorbereitung einer Heimaufnahme ist aufwendig in Bezug auf Zeit und notwendige Fachlichkeit (Gespräche mit den Eltern, Aktenstudium, Vorstellung und Kennenlernen des Kindes, Verhandlungen mit LehrerInnen u. a. wichtigen Bezugspersonen). Aber auch der Verwaltungsaufwand ist am Anfang hoch (Kostenklärungen, Aktenanlagen, Ausstattung mit Kleidung, Schulmaterial, Taschengeld u. a.). Es wäre eine Prüfung wert, bis zu welcher Aufenthaltsdauer die gesellschaftlichen Kosten in ein ungünstiges Verhältnis zum Ertrag kommen, wobei mit „Ertrag“ die im Hilfeplan vereinbarten Nah- und Fernziele gemeint sind. Da inzwischen alle Lebensbereiche in unserer Gesellschaft unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden, muss die Frage nach der hier gemeinten „Rentabilität“ öffentlicher Erziehungshilfe sowohl für die Leistungserbringer als auch für die Kostenträger gestellt und jede Maßnahme daraufhin geprüft werden. Michael Mascenaere und Gerhard Schemenau (2008, 30) haben erst kürzlich darauf hingewiesen, dass die „Effektivität in hohem Maße von der Hilfedauer abhängt und somit ein Großteil der Effekte erst nach dem ersten Jahr der Hilfe erreicht wird.“ Zu den Merkmalen, die den Erfolg einer Maßnahme beeinflussen, so ergab eine Meta- Analyse über die Auswirkungen Erzieherischer Hilfen, gehört die Aufenthaltsdauer in Heimeinrichtungen (vgl. Gabriel/ Keller/ Studer 2007, 29). Diese Einschätzung wird durch den Nachweis untermauert, dass alle Mädchen und Jungen, die in 32 uj 1 (2009) heimerziehung unserer Einrichtung bis zum Ende ihrer Schulzeit bleiben durften, die jeweiligen Schulabschlüsse auch erreichten. Eine entsprechend vergleichbare Aussage über die vor dem Abschluss von Schule oder Berufsausbildung ausgeschiedenen Kinder und Jugendlichen ist allerdings nicht möglich. Mögliche Konsequenzen und Lösungsansätze Auf einige Konsequenzen, die sich für mich aus den bisherigen Überlegungen ergeben, möchte ich aufmerksam machen: Sofern deutlich eine negative Bilanz zu erwarten ist, zum Beispiel durch nicht durchsetzbare Verbindlichkeiten bei Absprachen, sollte eine Hilfemaßnahme nicht mehr vom Jugendamt bewilligt werden. Auch ein Gesetzgeber sollte nicht dekretieren dürfen, was er nicht durchzusetzen vermag. Dies wäre dann der Fall, wenn er den ausführenden Organen die materiellen und juristischen Mittel vorenthält, einen Hilfeanspruch mit Bedingungen zu verknüpfen, die nötig wären, um die mit der Gewährung von Hilfen verbundenen Ziele zu erreichen. Auf diese Zusammenhänge verweist beispielhaft der oben erwähnte „offene Brief“ der Berliner JugendamtsleiterInnen. Vor dem Hintergrund der hier angedeuteten Entwicklungen müssten sich die Erwartungen, die sich an eine stationäre Jugendhilfemaßnahme knüpfen, dieser Realität anpassen, also entsprechend gesenkt werden. Konnten, noch einmal sei es gesagt, ausnahmslos alle Kinder, die über das Ende ihrer Schulzeit bei uns im Hause waren, den ihnen möglichen Schulabschluss erreichen, so würde bei gleich bleibenden Tendenzen künftig dieses Ziel bei immer weniger aufgenommenen Kindern erreicht werden können. Auch in Bezug auf andere Ziele, wie die Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Leistungshaltung und Lebensführung oder zu sozialen Tugenden, müssten auf kleinerer Flamme gekocht werden. Für stationäre Einrichtungen und die Fachkräfte der Sozialen Dienste der Jugendämter wird es künftig darauf ankommen, innerhalb des Aufnahmeprozesses die von den Personensorgeberechtigten und den Heranwachsenden vorgetragenen Ziele der Hilfemaßnahme unmissverständlich und eindeutig mit der hierfür notwendigen (Mindest-) Verweildauer zu verbinden und zu vereinbaren. Selbst wenn sich in der Praxis ein ungeplanter Abbruch nicht immer vermeiden lässt, so sollte die Hürde dafür durch mehr Verbindlichkeit höher gesetzt werden. Einem Kind wäre jedoch nicht geholfen, wenn Vertragsverletzungen der Personensorgeberechtigten mit der Beendigung von Hilfen geahndet würden, mit dem Hintergedanken: nun sehen Sie zu, wie Sie allein zurecht kommen. Stattdessen - noch einmal sei es betont - sollte auf Eltern von allen Fachkräften, mit denen sie Kontakt haben, in einer für die bewilligte Maßnahme förderlichen und ihren Entschluss ständig bekräftigenden Weise eingewirkt werden, bis die angestrebten Ziele erreicht sind. Literatur Gabriel, T./ Keller, S./ Studer, T., 2008: Wirkungsorientierte Jugendhilfe Bd. 03. Wirkungen erzieherischer Hilfen - Metaanalyse ausgewählter Studien. www.wirkungsorientierte-jugendhilfe.de, 25.09.2008, 40 Seiten Günder, R., 2007: Praxis und Methoden der Heimerziehung. Freiburg Jugendamtsleiter Berlin 2008: Offener Brief an die politisch Verantwortlichen und Gremien im Land Berlin zur personellen Situation der Berliner Jugendämter. In: Dialog Erziehungshilfe, 3. Jg., H. 2/ 3, S. 52 - 54 uj 1 (2009) 33 heimerziehung Langer, A., 2006: Professionsmanagement, Professionsethik und ökonomische Ethik. Thesen zum (Sozial-)Management professioneller Dienstleistungserbringung vor dem Hintergrund von Ökonomisierungsprozessen in der Sozialen Arbeit. In: neue praxis, 36. Jg., H. 4, S. 393 - 412 Mannschatz, E., 2007: Heimerziehung. Zum Problemhintergrund einer umstrittenen Betreuungsform. Berlin Marquard, P., 2006: Vertrauen, Reflexivität und Demokratisierung als Handlungskompetenzen. Professionelle Bedingungen und Herausforderungen für eine Soziale Kommunalpolitik. In: neue praxis, 36. Jg., H. 2, S. 167 - 185 Mascenaere, M./ Schemenau, G., 2008: Erfolg und Misserfolg in der Heimerziehung. In: Unsere Jugend, 60. Jg., H. 1, S. 26 - 33 Peters, F., 2008: Es gab schon mal andere Zeiten …“ Unsystematische Einblicke in das schwieriger werdende Verhältnis zwischen ASD und freien Trägern. In: Forum Erziehungshilfen, 14. Jg., H. 3, S. 145 - 150 Schleiffer, R., 2005: Über Bindungsbeziehungen im Heim. In: Forum Erziehungshilfen, 11. Jg., H. 2, S. 113 - 118 Schmidt, E., 2008: Professionelle Partnerschaft. In: Dialog Erziehungshilfe, 3. Jg., H. 1, S. 19 - 28 Steinebach, C./ Steinebach, U., 2008: Hilfsbereitschaft statt Gewalt. Wirkungen von Positive Peer Culture (PPC) in der stationären Jugendhilfe. In: Unsere Jugend, 60. Jg., H. 7/ 8, S. 312 - 320 Struck, N., 2008: Heimerziehung heute - mögliche Dialoge mit ehemaligen Heimkindern. In: Forum Erziehungshilfen, 14. Jg., H. 2, S. 87 - 91 Wolf, K., 2007: Wirkungsorientierte Jugendhilfe Band 04. Metaanalyse von Fallstudien erzieherischer Hilfen hinsichtlich von Wirkungen und „wirkmächtigen“ Faktoren aus Nutzersicht. www.wirkungsorientierte-jugendhilfe. de, 25. 9. 2008, 44 Seiten Der Autor Dr. Joachim Rumpf Lehrer, GHR, Diplompädagoge Hühnerbühl 7 79733 Görwihl www.rumpfs-paed.de 2002. 120 Seiten. (978-3-497-01629-7) kt Der Umgang mit aggressivem Verhalten ist so vielschichtig wie das Phänomen selbst. In einer Situation kann Ignorieren angebracht sein, eine andere Situation erfordert Konsequenz, aber auch das Nachgeben kann angemessen sein. Rezepte helfen also nur bedingt. Viel wichtiger ist es, dass Eltern sich über Aggressionen, ihre Erscheinungsformen und Ursachen informieren. Dass sie sich Wissen aneignen, wie man in unterschiedlichen Situationen mit der Aggressivität eines Kindes umgehen kann und welche positiven Bedingungen im Umfeld des Kindes und der Familie geschaffen werden können. a www.reinhardt-verlag.de
