eJournals unsere jugend 61/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Erziehung und Bildung in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus

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2009
Michael Kohlstruck
Pädagogik gegen Rechtsextremismus hat seit Jahren Konjunktur. Häufig wird dabei der Auffassung gefolgt, die für das Erziehungsdenken typische detaillierte positive Zielsetzung könnte in die politische Logik der Bekämpfung von Demokratiegegnern eingebaut werden. Demgegenüber betrachtet das Bildungsdenken seine AdressatInnen primär als Personen, die in ihrer Subjektwerdung unterstützt werden, und nicht als Problemträger. Empirischer Hintergrund der Überlegungen ist die Studie zu "Berliner Projekten gegen Rechtsextremismus 2005/06".
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50 uj 2 (2009) Unsere Jugend, 61. Jg., S. 50 - 61 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel rechtsextremismus Erziehung und Bildung in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus Michael Kohlstruck Pädagogik gegen Rechtsextremismus hat seit Jahren Konjunktur. Häufig wird dabei der Auffassung gefolgt, die für das Erziehungsdenken typische detaillierte positive Zielsetzung könnte in die politische Logik der Bekämpfung von Demokratiegegnern eingebaut werden. Demgegenüber betrachtet das Bildungsdenken seine AdressatInnen primär als Personen, die in ihrer Subjektwerdung unterstützt werden, und nicht als Problemträger. Empirischer Hintergrund der Überlegungen ist die Studie zu „Berliner Projekten gegen Rechtsextremismus 2005/ 06“. Erziehung und Bildung Innerhalb der pädagogischen Selbstverständigung über die Prinzipien und Leitmotive des pädagogischen Handelns lassen sich zwei Pole identifizieren, die als „Erziehung“ und „Bildung“ benannt werden können. Erziehung betont die Funktion der gesteuerten Sozialisation im Hinblick auf vorab und heteronom definierte Zielsetzungen und repräsentiert die Funktion, die jeweils gesellschaftlich gültigen Normen und Werte der nachwachsenden Generation zu vermitteln. Demgegenüber wird mit Bildung die Förderung der individuellen Eigentätigkeit in der Entwicklung der Persönlichkeit insgesamt betont, die auf eine personale Subjektivität ausgerichtet ist. Die beiden Begriffe und die dahinter stehenden Denktraditionen stehen in Spannung zueinander, ohne sich wechselseitig auszuschließen. Mit ihnen werden Akzente in die jeweilige Richtung des jeweiligen Grundverständnisses des Pädagogischen markiert: Erziehung bezieht sich nicht nur auf die Reproduktion gesellschaftlicher Standards und einzelner Verhaltenskompetenzen, und Bildung schließt bei aller Betonung des individuell-subjektiven Eigensinns und der Fähigkeit zur Kritik des Bestehenden auch die Akzeptanz eines Sockels bestehender gesellschaftlicher Konventionen ein (vgl. Schmied-Korwarzik 1983; Treml 1993; Bilstein 2001). Die beiden Traditionen haben in den aktuellen Diskussionen, wie der Herausforderung des Rechtsextremismus pädagogisch angemessen zu begegnen sei, unterschiedliches Gewicht: Heute dominieren Fragestellungen und Titelformulierungen, Dr. Michael Kohlstruck Jg. 1957; Dr. phil., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Arbeitsstelle „Jugendgewalt und Rechtsextremismus“ uj 2 (2009) 51 rechtsextremismus die einer funktional ausgerichteten „Pädagogik gegen Rechtsextremismus“ zugeordnet werden können. Insofern kann eine Einseitigkeit in der Ausrichtung des pädagogischen Handelns konstatiert werden. Man würde die pädagogischen Vorstellungswelten jedoch überbewerten, würde man die Einseitigkeit zugunsten einer „Gegen-Pädagogik“ allein in den erziehungswissenschaftlichen oder bildungstheoretischen Diskursen suchen. Hier spielen drei weitere Voraussetzungen eine Rolle, nämlich (1) die Entwicklung innerhalb des Rechtsextremismus selbst, (2) die symbolische Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und (3) der offizielle Konsens in der Bekämpfung und Ausgrenzung all dessen, was dem Rechtsextremismus zugeordnet wird. Die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus Die anderweitig breit dokumentierte Entwicklung des Rechtsextremismus muss hier nur in Stichworten rekapituliert werden (Stöss 2007; Klärner 2008, 11 - 38). In der alten Bundesrepublik existierten rechtsextreme Jugendkulturen seit den 1970er Jahren. Von den heutigen Szenen unterschieden sich die damaligen Neonazis durch ihr soldatisches Selbstverständnis und Auftreten und die damit verbundene hohe Zugangshürde. Erste Breitenwirkungen fanden sie in den Fußballszenen Anfang der 1980er Jahre. Auch in der DDR gab es fremdenfeindliche und rechtsextreme Kreise. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nahmen Anschläge auf Asylbewerber und dauerhaft ansässige MigrantInnen in Ost- und Westdeutschland in einem ungeahnten Maße zu. Das Ausmaß fremdenfeindlicher Gewalt ist nach der ersten Hälfte der 1990er Jahre zurückgegangen, bewegt sich aber nach wie vor auf einem hohen Niveau. Hinsichtlich des jugendlichen Rechtsextremismus besteht die wichtigste Veränderung in seiner Kulturalisierung und der damit verbundenen Verbreiterung: Über Kleider- und Haarmoden, Musik sowie szeneeigene Medien hat sich eine eigenständige rechtsextreme Jugendkultur etabliert, die als ein Misch- und Übergangsfeld zwischen Jugendkultur und politischem Rechtsextremismus fungiert. Die Zugehörigkeit zu diesen Szenen und damit zu den dort herrschenden ausgrenzenden Meinungsnormen und gewalttätigen Verhaltensstandards hat heute eine ungleich höhere Attraktivität als in den 1980er Jahren. Neben der Zunahme von Gewalttätigkeiten und einer Vergrößerung rechtsextremer Jugendszenen spielt für die Auseinandersetzungen mit dem aktuellen Rechtsextremismus auch die symbolische Aufladung dieses Themas eine wichtige Rolle. Rechtsextremismus wird in Deutschland weniger als politisches und soziales Problem gesehen, wie es in allen modernen Gesellschaften existiert, sondern sehr viel stärker mit der eigenen nationalen Geschichte in Verbindung gebracht. Dies bezieht sich auch auf die Aspekte der Entstehung und Tradierung rechtsextremer Inhalte und Formensprache, im Zentrum aber steht die politisch-gesellschaftliche Funktion, die man in der offiziellen politischen Kultur der heutigen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus beimisst. Rechtsextremismus gilt nicht als ein öffentliches Problem neben anderen, sondern hat den exzeptionellen Rang eines Lebens- oder Identitätsthemas. Über das heute eingenommene Verhältnis zum Rechtsextremismus beantwortet sich Deutschland die Dauerfrage nach der eigenen politischen Reife: Haben wir es geschafft, sind wir wirklich eine demokratische Nation geworden, haben wir aus unserer NS-Vergangenheit tatsächlich ge- 52 uj 2 (2009) rechtsextremismus lernt (Fröhlich/ Kohlstruck 2008)? Diese identitätspolitische Aufladung des faktischen Problemfeldes Rechtsextremismus stellt eine aktuelle Variante der These vom deutschen Sonderweg in der Geschichte dar. Nach zögerlichen Anfängen seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat dies nach und nach dazu geführt, dass die Bekämpfung des Rechtsextremismus integraler Bestandteil der Staatsräson und der herrschenden politischen Kultur geworden ist - eine Entwicklung, die freilich ohne ständiges Drängen zivilgesellschaftlicher Akteure nicht zustande gekommen wäre. Das offizielle Deutschland jedenfalls hat es an Verlautbarungen, Kampagnen und finanzieller Förderung des Kampfes gegen Rechtsextremismus wenig fehlen lassen. Die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus konnte innerhalb der öffentlichen Kommunikation um so leichter zu einem Medium der nationalen Selbstvergewisserung werden, je stärker sie auf der kategorialen Ebene geführt wurde, d. h. je mehr die unter der Sammelbezeichnung „Rechtsextremismus“ zusammengefassten Einzelphänomene aus dem Blick gerieten. Für eine kategorial überformte Wahrnehmung gelten die 70-jährige DVU- Wählerin aus dem Landkreis Elbe-Elster und der 19-jährige „Autonome Nationalist“, der am 1. Mai 2008 gewalttätig gegen die Polizei vorging, gleichermaßen als „Erscheinungsformen des Rechtsextremismus“; für eine erfahrungsnähere Sicht der Dinge ist indes wenig gewonnen, die Unterschiedlichkeit dieser sozialen Wirklichkeiten durch die Vergabe des gleichen Skandalisierungs- und Gefahrenetiketts namens Rechtsextremismus zu nivellieren. 1 Für die von meist jungen Leuten begangenen Gewalttätigkeiten konnte etwa vielfach gezeigt werden, dass diese nur zum kleinsten Teil politisch motivierte, rationale Handlungen sind und sie vielmehr einer diffusen Aggressivität sozialisationsgeschädigter Jungmänner zuzurechnen sind (Cornel 1999; Neumann/ Frindte 2002; Marneros/ Steil/ Galvaos 2003). Nun ist aber der „Extremismus im Sozialverhalten“ hinsichtlich seiner Entstehung wie der Erfordernisse seiner praktischen Bearbeitung durchaus nicht das gleiche wie politischer Extremismus. Innerhalb der politischen Kultur Deutschlands gilt es als selbstverständlich, dass man zu „dem Rechtsextremismus“ kein anderes legitimes Verhältnis einnehmen kann als das der Ausgrenzung und der Bekämpfung. Problematisch wird diese Überzeugung dann, wenn letztlich anders gelagerte Phänomenbereiche dem Rechtsextremismus zugeordnet werden und die Bekämpfungs- und Ausgrenzungslogik pauschal auf Personen angewendet wird. Die identitätspolitische Aufladung des Themas Rechtsextremismus führt neben unangemessenen Homogenisierungen auch zu einer „Sonderwegs-Blindheit“: Der Filter der NS-Vergangenheitsbewältigung blendet diejenigen gruppenbezogenen Feindschaften aus der Wahrnehmung aus, die nicht mit der bisherigen nationalen Verbrechensgeschichte kompatibel sind. Dies ist vor allem für solche Regionen relevant, die - wie Berlin - in hohem Maße durch kulturelle Pluralisierungen, internationale Zuwanderung und eine unzulängliche Einwanderungs- und Integrationspolitik charakterisiert sind. Gruppenfeindschaften von Herkunftsdeutschen gegen „Juden“, „Migranten“, „Linke“ und andere Gruppen, die vom Nationalsozialismus zu Volksfeinden erklärt worden waren, werden besonders thematisiert, während Vorurteile, manifeste Gruppenfeindschaften 1 Die Dominanz derartiger homogenisierender Kategorisierungen ist einmal Ausdruck bestimmter Deutungshegemonien und zum anderen Bestandteil eines überwertigen Gefahrendiskurses (Sessar 2007). uj 2 (2009) 53 rechtsextremismus und Gewaltakte von und zwischen Migrantengruppen deutlich weniger berücksichtigt werden. Das Erbe der Geschichte verstellt systematisch den Blick für die Gegenwart und verhindert die Einsicht, dass sich in den politisch rechts zugeordneten gruppenfeindlichen Phänomenen das Feld von Hasskriminalität keinesfalls erschöpft (Möller 2007). Vor diesem Hintergrund ist die derzeitige Tendenz zu verstehen, auch für pädagogische Handlungsfelder häufig ohne weitere professionsbezogene Selbstreflexion danach zu fragen, wie man den Rechtsextremismus bekämpfen könne. Genau genommen wird hier die Strukturlogik der politischen Auseinandersetzung unreflektiert in das pädagogische Feld übertragen. „Politisch“ bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie die Unterscheidung von Gegnern und Verbündeten. Missliebige Positionen und Verhaltensweisen werden als gegnerisch oder feindlich markiert, die Unterschiede zum Gegner werden inhaltlich begründet, für die eigenen Positionen wird geworben und die des Gegners werden diskreditiert. Es geht um die Zahl der Anhänger. Zu Recht reden die moderaten Akteure deshalb von einem „Kampf gegen den Rechtsextremismus“. Manche versuchen diesen „Kampf gegen den Rechtsextremismus“ überdies für ihre eigenen partei- oder gesellschaftspolitischen Ziele zu instrumentalisieren und suggerieren, ein „Kampf gegen Rechts“ sei das Gleiche wie die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Phänomenen. Zivilgesellschaftliche Akteure sind in der Bestimmung ihrer Verbündeten und Gegner frei, ihre Definitionsspielräume bei der Bestimmung ihrer Ausgangsprobleme sind deutlich größer als die der staatlichen Behörden: Was jeweils als „Rechtsextremismus“ gilt, ist hier nicht festgelegt. Dazugerechnet werden können bloße Einstellungen, politische Auffassungen, die dem Moralismus der political correctness nicht entsprechen, politisch fundamentaloppositionelle Äußerungen und natürlich auch die Phänomene, die für Polizei und Verfassungsschutz als Extremismus bzw. strafbares Verhalten relevant sind. Ähnlich weit gespannt ist das Spektrum der Methoden, das vom „Singen gegen Rechts“ eines Kirchenchors bis zu den Gewaltaufrufen aus Antifa-Kreisen reicht. Ähnlichkeiten bestehen auch zwischen der Gegen-Pädagogik und dem politischadministrativen Problemlösungshandeln. In beiden Handlungslogiken besteht das Ziel in der Reduzierung oder Lösung von sozialen Problemen. Zu dieser Perspektive gehört es, dass die AdressatInnen der pädagogischen Praxis unter einer eingeschränkten Perspektive in den Blick genommen werden, nämlich hauptsächlich als Träger des jeweiligen Problems. Dass sie darüber hinaus auch weitere Eigenschaften haben, dass sie auch Probleme machen, die der aktuellen Aufmerksamkeitskonjunktur entgehen, dass sie auf eine individuelle Lebensgeschichte zurückblicken und häufig selbst Opfererfahrungen machen mussten, würde niemand leugnen, für die zentrale Aufgabe ist dies aber sekundär. Die starke Nähe des Erziehungsdenkens zu einem sozialtechnologischen Selbstverständnis und zu einem pädagogischen Resultatismus (Johannes Bilstein) prädestiniert die gegenpädagogischen Ansätze zu einer Verprojektierung von pädagogischen Angeboten (Walkenhorst 1999). Berliner Projekte gegen Rechtsextremismus Die im Folgenden vorgestellte Studie zu „Projekten gegen Rechtsextremismus“ im Land Berlin folgt mit ihrer Fragestellung implizit den Annahmen des Erziehungsdenkens. Ihre hier vorgestellten Teilergebnisse weisen aber über die Ansätze einer 54 uj 2 (2009) rechtsextremismus problemreduzierenden Pädagogik hinaus und machen deutlich, inwiefern für bestimmte Zielgruppen diejenigen pädagogischen Ansätze relevant werden, die dem Bildungsdenken zuzurechnen sind. Im Auftrag der Landeskommission Berlin gegen Gewalt wurde am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin eine Untersuchung zu den Projekten gegen Rechtsextremismus der Jahre 2005 und 2006 vorgelegt. Das Ziel der empirischen Erhebung war, einen Überblick über die im Land Berlin durchgeführten Projekte gegen Rechtsextremismus der Jahre 2005 und 2006 zu gewinnen (vgl. zum Folgenden Kohlstruck/ Krüger/ Münch 2007). Für die Erhebung wurde in Abstimmung mit der Landeskommission Berlin gegen Gewalt ein Fragebogen entwickelt. Die Fragen beziehen sich auf die folgenden Themenkomplexe: (1) Projekt und Träger, darunter auch Fragen zur Stadtregion, in der das jeweilige Projekt durchgeführt wurde, (2) Inhaltliche Projektausrichtung, (3) Schulprojekte, (4) Erreichte AdressatInnen, (5) Projektdauer, (6) Projektevaluation. 2 Auf Basis der Studie wurden vier Empfehlungen für die künftige Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus formuliert. Stadtgeografische Schwerpunkte und sozialräumliche Verankerung Diese erste Empfehlung stützt sich auf die bekannte Tatsache, dass rechtsextreme Phänomene ungleichmäßig über die Stadt verteilt sind. Man kann dies anhand zweier Indikatoren zeigen. Sowohl anhand des Indikators Wahlentscheidung zugunsten einer rechtsextremen Partei als auch anhand des Indikators rechte Gewalttaten (i. S. der Polizeistatistik) lässt sich sehen: Rechtsextremismus ist in manchen Bezirken ein größeres Problem als in anderen. Hinsichtlich der Wahlerfolge der NPD und der REPs zeigt sich, dass einzelne Ortsteile deutlich überdurchschnittliche Ergebnisse aufweisen. Bei der Erfassung der rechten Gewalt wurde dem stadtgeografischen Ansatz gefolgt, den der Berliner Verfassungsschutz 2004 vorgelegt hatte (Senatsverwaltung für Inneres 2004). Bestätigt wurde auch für die Folgejahre, dass rechte Gewalt einen räumlichen Index hat, d. h. rechte Gewalt ist in nahezu allen Ortsteilen zu beobachten, in bestimmten Regionen ist sie aber deutlich stärker ausgeprägt als in anderen. Die Daten sowohl von freien Trägern als auch der Polizei stimmen nicht in den absoluten Zahlen, aber in den Relationen zwischen den Bezirken und Ortsteilen überein. Die Ortsteile mit den höchsten Ergebnissen für rechtsextreme Parteien und die am stärksten mit rechter Gewalt belasteten Gebiete sind nur teilweise identisch. Dies spricht für die These, dass die verschiedenen Dimensionen des Problemfeldes Rechtsextremismus voneinander relativ unabhängig sind. Die deutlichen stadtgeografischen Schwerpunkte bei der rechten Gewalt legen es nahe, auch die Projekte gegen 2 Die exakte Zahl der Projekte, die sich gemäß ihrer Eigendefinition gegen Rechtsextremismus richten und die in den Jahren 2005 und 2006 im Land Berlin durchgeführt wurden, ist unbekannt. Im Rahmen der Erhebung wurden 407 freie und öffentliche Träger, darunter die damaligen Berliner Projekte aus den drei Bundesprogrammen „Xenos“, „Civitas“ und „Entimon“ angeschrieben. Darüber hinaus wurden die zwölf Bezirksämter und die rund 1000 Berliner Schulen einbezogen. 48 % des Rücklaufs waren Fehlanzeigen. Für die Auswertung wurden die 166 ausgefüllten Bögen zugrunde gelegt. Unter diesen 166 Projekten waren 75 Projekte, die an Schulen durchgeführt wurden. An der Untersuchung haben über fünfmal mehr Projekte teilgenommen als die 31 seinerzeit vom Berliner Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus geförderten Projekte. uj 2 (2009) 55 rechtsextremismus Rechtsextremismus vorrangig in und um solche Gebiete durchzuführen, die besonders belastet sind. Vor dem Hintergrund der Existenz derartiger stadtgeografischer Problemzonen fällt es auf, dass von 162 Projekten lediglich 25 einen Sozialraumbezug aufweisen und damit einen festen Bezug zu Kiezen und Quartieren haben. Von zehn Projekten, die mit gewaltnahen jungen Leuten arbeiten, liegen Angaben zum stadtgeografischen Ort der Durchführung vor. Hier ist bemerkenswert, dass etwa in Friedrichshain kein Projekt und im Prenzlauer Berg lediglich ein Projekt genannt wird. Die beiden Altbezirke gehören zu den mit am stärksten gewaltbelasteten Regionen. Etwas besser stellt sich die Situation in Lichtenberg (zwei Projekte) und in Neukölln (drei Projekte) dar. Auf der sozialräumlich lokalen Ebene, also der Arbeit in den Stadtteilen, sollte es darum gehen, den Zustrom weiterer Kinder und Jugendlicher in rechtsextrem orientierte Szenen zu verringern. Dies scheint nur möglich, wenn die offene Jugendarbeit und die aufsuchende Jugendarbeit Angebote machen, die selbst milieubildenden Charakter haben, d. h. wenn sie Sozialräumlichkeit als ein Arbeitsprinzip praktizieren (Böhnisch 1999, 280ff). Stärkere Berücksichtigung von relativ bildungsarmen Zielgruppen Die in die Untersuchung eingegangenen Projekte erreichen eine imponierend große Zahl von AdressatInnen. Nach ihren eigenen Angaben haben sie in den beiden Jahren mehr als 180.000 Personen angesprochen. Das Gros sind junge Leute unter 21 Jahre, die zweitstärkste Zielgruppe sind MultiplikatorInnen. Bei einer genaueren Durchsicht zeigt sich, dass nicht alle Bildungsschichten in gleicher Weise einbezogen werden. Die Arbeit mit HauptschülerInnen, BerufsschülerInnen bzw. Auszubildenden macht einen nur sehr kleinen Anteil aus. Sehr wenige Projekte arbeiten mit relativ bildungsarmen Zielgruppen wie HauptschülerInnen (18 Projekte) oder Berufsschülern (7 Projekte). Von 163 Projekten geben 17 an, mit Auszubildenden oder Teilnehmern an berufsvorbereitenden Maßnahmen zu arbeiten. Bei lediglich sechs Projekten stehen sie als Zielgruppe an erster Stelle. Für eine stärkere Einbeziehung spricht zunächst der Gleichheitsgrundsatz: Mit welcher Begründung und mit welchem Recht kommen die Projekte in erster Linie denen zugute, die ohnehin höhere Bildungsabschlüsse haben bzw. anstreben? Fragt man weiter nach den rechtsextrem orientierten Gruppen oder den fremdenfeindlich und gewaltnahen Gruppen - Gruppen, die doch überhaupt einen wesentlichen Teil des Problemfeldes Rechtsextremismus ausmachen -, so zeigt sich, dass auch diese Gruppen nur in geringem Maße in die Arbeit einbezogen wurden. Nur elf Projekte arbeiten mit gewaltaffinen und rechtsextrem orientierten Gruppen. Sie bilden nur für drei Projekte die Zielgruppe mit der höchsten Priorität. Keines der an der Untersuchung beteiligten Projekte arbeitet mit Personen, die aus rechtsextremen Kreisen aussteigen möchten. Die Arbeit mit Angehörigen der rechtsextrem orientierten und gewaltbereiten Jugendszenen sollte unbedingt verstärkt werden - schließlich verspricht diese Arbeit und nicht die Arbeit mit engagierten GymnasiastInnen eine Reduzierung der Gewaltakte: Zu der Frage der Urheber rechter Gewalt stimmen die Studien der letzten Jahre darin überein, dass aus der Bevölkerungsgruppe der bildungsarmen männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden der größte Teil rechter Gewaltakte begangen wird. 56 uj 2 (2009) rechtsextremismus Hierarchisierung der Ausgangsprobleme Die dritte Veränderungsanregung betrifft die konzeptionellen Grundlagen der Landesförderung. Vorgeschlagen wird, innerhalb des Problemfeldes Rechtsextremismus zwischen hochrelevanten und weniger relevanten Problemen zu unterscheiden und gezielt solche Projekte zu fördern, die sich mit den dringenderen Problemen befassen. Eine reflektierte Förderungspolitik muss zunächst entscheiden, ob sie in rechtsextremen Meinungen in der Bevölkerung oder ob sie in rechtsextremen Wahlentscheidungen des Wahlvolkes die zentrale Handlungsaufforderung sehen will, ob primär rechtsextrem agierende Jugendszenen bekämpft werden sollen oder ob man sich um diejenigen kümmern will, die potenziell von Kadern rekrutiert werden. Zwei Schritte sind also unumgänglich: Erstens muss das Problemfeld portioniert werden, also in bearbeitbare Teilprobleme zergliedert werden. Man kann nicht „den Rechtsextremismus“ als solchen bekämpfen, weil er in dieser Allgemeinheit so wenig existiert wie „die Kriminalität“ oder „die Gewalt“ (Kohlstruck 1999). Sozialwissenschaftlich gesprochen geht es um die Notwendigkeit einer Operationalisierung des Kollektivsingulars „Rechtsextremismus“. Jede praktische Auseinandersetzung setzt zweitens voraus, dass die Portionierung durch ein Ranking ergänzt wird: Wie in jedem Problemfeld so hat man auch innerhalb des Rechtsextremismus zwischen dringenden und weniger dringenden Problemen zu unterscheiden. Angesichts der unterschiedlichen und teilweise inkompatiblen Konzepte von Rechtsextremismus in der Öffentlichkeit stellt sich die Frage, wie sich die öffentliche Förderung orientieren soll. Dem Problemfeld Rechtsextremismus werden sowohl legale Aktivitäten (etwa Wahlverhalten, Meinungsäußerungen) wie auch strafbares Verhalten (etwa rechte Gewalt im Sinne der politisch motivierten Kriminalität (PMK) und verfassungswidrige Bestrebungen) zugeordnet. Dieser Hintergrund erfordert von der staatlichen Politik Entscheidungen, auf welche Facetten des Problemfeldes Rechtsextremismus sich die Interventionen beziehen sollen. Damit ist keine Entscheidung in der Frage verbunden, was theoretisch zum Problemfeld gerechnet werden darf und was nicht; es ist dies lediglich eine pragmatische Prioritätensetzung innerhalb der Förderpolitik. Die Empfehlung der Studie lautet: Die Politik sollte sich stärker auf die Auseinandersetzung mit einem Problemkomplex konzentrieren, über dessen Dringlichkeit keinerlei Dissens besteht, nämlich auf den Bereich, der in der Polizeistatistik als „rechte Gewalt“ registriert wird. Gewaltakte stellen in besonderer Weise eine Provokation des Staates dar. Die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols ist an die Erfüllung der Aufgabe gebunden, die physische und psychische Integrität aller Bevölkerungsgruppen zu schützen. Entsprechend kann sich das Ziel, rechte Gewalt vielgestaltig und konsequent zu bekämpfen, über die Grenzen der politischen Lager hinweg der Zustimmung aller Rechtschaffenen sicher sein. Mit dem Vorschlag einer Hierarchisierung von Problemen innerhalb des Problemfeldes Rechtsextremismus korrespondiert die gängige Unterscheidung von drei Typen der Prävention, nämlich der primären, der sekundären und der tertiären Prävention. Der formelle Charakter dieser Einteilung erlaubt es, sie für verschiedene Problembereiche zu verwenden: Rechtsextremismus, Drogen, Alkohol, Gesundheit etc. Bezogen auf das Problemfeld uj 2 (2009) 57 rechtsextremismus Rechtsextremismus bedeutet dies: Primäre Prävention zielt auf Personen und Gruppen ohne Auffälligkeiten, die man in einem allgemeinen, d. h. eben unspezifischen Sinne stärken möchte, um ihrem Auffälligwerden vorzubeugen. Sekundäre Prävention bedeutet im Feld des Rechtsextremismus die Arbeit mit Gruppen, die als besonders problematisch gelten, also etwa mit rechtsextrem orientierten und gewaltaffinen jungen Männern mit relativ niedrigem Bildungsniveau. Tertiäre Prävention wäre die Arbeit mit Personen, die bereits mit einschlägigen Straftaten aufgefallen sind und bei denen es nun um eine Vermeidung von Rückfälligkeiten geht. Schaut man sich vor dem Hintergrund dieser Präventionstypen die Berliner Projektlandschaft der Jahre 2005 und 2006 an, so lässt sie sich insgesamt charakterisieren als eine vielgestaltige und bunte Informations- und Bildungsarbeit zum Themenfeld Rechtsextremismus. Zwei Arbeitsansätze werden indes relativ wenig genannt: körper- und bewegungsorientierte Konzepte innerhalb von Erlebnis-, Abenteuer- und Sportpädagogik und gewalttherapeutische Ansätze. Diese Ansätze zielen auf das Gewaltproblem und damit auf das zentrale Problem des Rechtsextremismusfeldes. Sie rangieren gleichwohl unter den am wenigsten genannten Arbeitsansätzen. Als Indikator eines besonderen Veränderungsbedarfes ist die Tatsache zu werten, dass gewalttherapeutische Arbeitsansätze mit lediglich sieben Nennungen an letzter Stelle stehen. Hinsichtlich der verwendeten Arbeitsansätze ist festzustellen, dass der am häufigsten genannte Ansatz die Schulung und Förderung allgemeiner personaler Kompetenzen und des allgemeinen sozialen Lernens ist. Der am zweithäufigsten genannte Ansatz ist die historische Bildung zum Nationalsozialismus. Es folgen dann Projektinhalte, die mit dem Problemfeld Rechtsextremismus in einem spezifischeren Verhältnis stehen, nämlich die Reflexion von Teilnehmererfahrungen und die Vermittlung von Informationswissen zum Themenfeld. Nur sieben Projekte arbeiten mit Ansätzen, die unmittelbar auf Gewaltaktivitäten bezogen sind. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Projektinhalten der an Schulen durchgeführten Projekte: Von den fünf am häufigsten genannten Arbeitsansätzen können nur zwei, nämlich die Erfahrungsreflexion und das Argumentationstraining gegen Rechtsextremismus, als themenspezifische Ansätze gelten. Ein großer Teil der Arbeitsansätze ist dem Bereich allgemeiner Bildungsarbeit zuzurechnen. Die Arbeit bleibt damit in großen Teilen problem- und zielgruppenunspezifisch. Das Gros der Projekte praktiziert inhaltliche Arbeitsansätze, die sich der primären Prävention zuordnen lassen. So stehen soziales Lernen und die Stärkung von allgemeinen interkulturellen Kompetenzen in keinem spezifischen Verhältnis zum Rechtsextremismus. Auch die Bildungsarbeit zum historischen Nationalsozialismus wird systematisch missverstanden, wenn von ihr spezielle Effekte gegen Rechtsextremismus erwartet werden. Zu prüfen wäre für eine künftige Förderungspolitik, inwieweit die Arbeit im Sinne einer sekundären und tertiären Prävention auszubauen ist. Im derzeitigen Verhältnis von Projekten dominiert die Primärprävention. Regelangebote stärken, Sonderprogramme reduzieren Bei den untersuchten Projekten handelt es sich um Projekte, die beanspruchen, mit ihrer jeweiligen Arbeit etwas gegen einen gesellschaftspolitischen Problemkomplex, eben den Rechtsextremismus, zu tun. Es 58 uj 2 (2009) rechtsextremismus sind „Anti-Projekte“. Solche Projekte und Programme sind auf die Reduzierung von Problemkomplexen ausgerichtet. Sie werden in der Öffentlichkeit und ggf. auch von Evaluationen danach beurteilt, wieweit sie mit ihrer jeweiligen konkreten Zielsetzung, wie sie mit der Wahl ihrer Mittel und Methoden und mit der Auswahl ihrer AdressatInnen tatsächlich geeignet sind, klar definierte Ausgangsprobleme zu reduzieren. An dieser Stelle besteht - aufs Ganze gesehen - eine gewisse Kluft zwischen dem Anspruch einer Problemminimierung und der Tatsache, dass in hohem Maße keine spezifischen Anti-Projekte durchgeführt werden, sondern allgemeine Bildungsaufgaben von den Projekten wahrgenommen werden. Die Sozialisation der jungen Generation in eine zivile Kultur, also die Internalisierung von Werten und Respekt vor den moralischen und rechtlichen Normen der Moderne, sind Erfordernisse, die unabhängig von allen rechtsextremen Versuchen bestehen, eine andere Wertordnung zu propagieren oder durchzusetzen. Das Gleiche gilt für Projekte, die mit interkulturellen Ansätzen arbeiten. Auch bei diesen Arbeitsansätzen handelt es sich um Aufgaben, die in der Tatsache der Zuwanderung begründet sind; sie hängen nicht von der Existenz des Rechtsextremismus ab und sind nur mittelbar auf ihn bezogen. Die hier als problemunspezifisch charakterisierten Ansätze zur Förderung der allgemeinen sozialen Kompetenz, der interkulturellen Kompetenz und der historisch-politischen Bildung sind selbstverständlich in hohem Maße legitim. Sie gehen inhaltlich auf die allgemeinen Ziele von Sozialisation, Erziehung und Bildung zurück, wie sie in den pädagogischen und schulbezogenen Fachdiskussionen positiv formuliert werden. Mit der Differenz zwischen dem Anspruch der Förderung, Rechtsextremismus zu reduzieren, und der Realität einer allgemeinen Förderung personaler Bildung ist nicht lediglich eine Art Webfehler verbunden, der vielleicht zu verschmerzen wäre. Es können damit auch weitergehende Probleme verbunden sein: Erstens ist damit die Möglichkeit eröffnet, politisch motivierte Kritik am Programm im Ganzen wie an einzelnen Projekten zu formulieren. Wenn der Anspruch des Programms vom Inhalt der Projekte nicht eingelöst wird, kann das für das Image des Programms negative Folgen haben. Zweitens führt die Konstruktion, allgemein gültige Ziele von Sozialisation, Erziehung und Bildung als Antwort auf die Herausforderung des Rechtsextremismus einzuführen, auf der Ebene der grundsätzlichen Geltung von Wertorientierungen zu einer - freilich ungewollten - fragwürdigen Umkehrung: Personale Bildung, der Erwerb von individuellen Kompetenzen und von gegenwartswie vergangenheitsbezogenem Wissen haben nun nicht den Rang von selbstevidenten Werten und Zielen (sozial-)pädagogischer Arbeit; in der Logik eines Bekämpfungsprogramms werden sie zu bloßen Reaktionen und Instrumenten der Gefahrenabwehr zurückgestuft. Sie haben ihren Wert nicht in sich selbst, sondern sie erhalten ihn nach Maßgabe ihres Beitrags zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Diese implizite und ungewollte Verkehrung auf der Ebene einer Wert- und Zielbestimmung dokumentiert sich in einer Entgrenzung des Präventionsdenkens über seinen legitimen Bereich hinaus, wie sie in den letzten Jahren in den einschlägigen Fach- und Wissenschaftsdiskussionen problematisiert worden ist (Freund/ Lindner 2001). Pointiert formuliert hat personale Bildung im Präventionsdenken keinen Eigenwert mehr, sie wird nur noch nach Maßgabe ihres Präventionsbeitrages legitimiert, d. h. zur Verhinderung oder Reduzierung eines geuj 2 (2009) 59 rechtsextremismus sellschaftlichen Übels. Drittens schließlich spiegelt sich die hier zunächst auf der Ebene der Wert- und Zielbestimmung dargestellte Problematik auch im Institutionellen wider. Viele der untersuchten Projekte arbeitennichtnurmitArbeitsansätzen, die für das Ausgangsproblem Rechtsextremismus in dem Sinne unspezifisch sind, dass sie etwa die zentrale Herausforderung der rechten Gewalt nicht bearbeiten. Darüber hinaus übernehmen solche Projekte de facto auch Aufgaben, die als Regelaufgaben in den Bereich der Schulen oder der Kinder- und Jugendhilfe fallen. Diese Diagnosen verweisen auf grundsätzliche Erfordernisse einer Klärung von Aufgabenverteilungen und Zuständigkeitsklärungen zwischen den zeitlich befristeten Projekten einerseits, die zu dem besonderen Thema Rechtsextremismus gefördert werden, und der Institution Schule und den Behörden andererseits, die für die Verwirklichung der im KJHG formulierten allgemeinen Ziele zuständig sind. Derartige Klärungen scheinen sowohl aus der Sicht des Landesprogramms als auch aus der Perspektive der Schulen und der Kinder- und Jugendförderung angebracht zu sein. Für die Förderung von problemspezifischen Projekten ergibt sich daraus die Chance, die Passgenauigkeit im Verhältnis zu den Ausgangsproblemen zu erhöhen und damit ggf. auch die Möglichkeit, Effekte zu erzielen (und später dokumentieren zu können), die sich im engeren Sinne als Impulse des Programms und seiner Projekte darstellen lassen. Für die Schulen sowie die Kinder- und Jugendförderung könnte mit einer Vergewisserung ihrer Zuständigkeit für allgemeine Ziele die Möglichkeit verbunden sein, sich von weit reichenden überdehnten Output-Erwartungen zu entlasten und im eigenen Selbstverständnis wie in der öffentlichen Selbstdarstellung ihren genuinen Aufgaben nachzugehen. Nachzudenken wäre in diesem Zusammenhang sicher auch über eine neu gewichtete Verteilung der Mittel zwischen Sonderprogrammen und Regelförderung: Die Ansätze, die hinsichtlich des Rechtsextremismusproblems als primäre, unspezifische Prävention zu gelten haben, sollten im Rahmen der Regelaufgaben von Schule, Ausbildung sowie der Kinder- und Jugendhilfe deklariert und finanziert werden und nicht aus den Töpfen von Sonderprogrammen. Bildung: Stärkung des Subjekts Die Konjunktur der sonderprogrammgeförderten, projektförmigen und problembezogenen Pädagogik darf nicht übersehen lassen, dass auch diejenigen pädagogischen und sozialpädagogischen Arbeitsansätze in einer Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus stehen, die sich dessen Bekämpfung nicht ausdrücklich auf die Fahnen und in die Anträge schreiben. (Sozial-)pädagogische Arbeitsansätze, die einem Bildungsauftrag folgen und nicht einer monothematischen Perspektive verpflichtet sind, unterstützen eine auf Selbstbewusstsein und Selbstbestimmungsfähigkeit ausgerichtete Persönlichkeitsentwicklung (Scherr 1997; König 2008). Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit sind insofern angestammte und überdies gesetzlich legitimierte Arbeitsfelder, die heute zu Unrecht im Schatten der Gegen-Pädagogik stehen. Ihr Hauptziel ist die Befähigung ihrer AdressatInnen, ein selbstbestimmtes und sozialverträgliches Leben zu führen. Damit ist die Chance verbunden, selbst- und fremdschädigendes Verhalten zu reduzieren sowie die Verhaltensnormen einer zivilen Gesellschaft zu übernehmen. Dies impliziert mit der zunehmenden Sozial- und Berufsintegration 60 uj 2 (2009) rechtsextremismus u. a. auch eine Verringerung von Sucht- und Gewaltphänomenen sowie anderer Auffälligkeiten. Die Fachdiskussionen zu gewaltauffälligen und rechtsextrem auftretenden jungen Leuten reichen bis in die 1960er Jahre zurück (Simon 2001); Erfahrungen wurden hier bereits ausgewertet, als man von den Sonderprogrammen der vergangenen 15 Jahre noch nichts ahnte. Hervorgehoben wird, dass die Handlungsansätze in dieser Arbeit - korrespondierend mit einer personenbezogenen Perspektive - heterogen sind, miteinander verschränkt werden müssen und die ganze Bandbreite der Jugend- und Jugendsozialarbeit umfassen (Bohn 2002). Neuere Evaluationen zeigen, dass hier die aufsuchende Arbeit eine wichtige Rolle übernehmen kann (Tossmann/ Tensil/ Jonas 2007; Gulbins u. a. 2007). Die Ansätze einer Bildungsarbeit unterscheiden sich bewusst von denen des Erziehungsdenkens und seiner Gegen-Pädagogik: Primär geht es ihnen um den Aufbau einer tragfähigen Beziehung zu ihrer Klientel. Sie ist die zentrale Voraussetzung, junge Leute zu unterstützen, soweit sie Probleme haben, und Verhaltensänderungen anzuregen, soweit sie Probleme machen. Die Erarbeitung einer Interventionsberechtigung (Kraußlach 1981) ist vom Gelingen einer Unterstützung in Krisen oder bei der Organisation von Ausbildung, Berufstätigkeit und Freizeit nicht zu trennen. Mit dem umfassenden Ziel einer Unterstützung der Subjektbildung ist der Grundgedanke verbunden, junge Leute während einer Phase ihrer Lebenszeit zu begleiten. Der Fokus ist hier auf die Person und ihre Biografie gerichtet, nicht auf die Reduzierung eines bestimmten Problems, sei es nun politisch, medizinisch oder kriminologisch definiert. Damit ist notwendigerweise ein anderer Zeittakt verbunden als mit kurzzeitpädagogischen Maßnahmen. Ihr Gelingen hängt wesentlich davon ab, dass sich Beziehungen über längere Zeit entwickeln können, dass Rückschläge und ein Lernen aus Fehlern möglich sind. Die Förderung von Personen, genauer: die Unterstützung der Fähigkeit, als selbstständige Person ihr Leben zu führen, steht in Spannung zu zeitlich eng befristeten Projekten. Ihren eigentlichen institutionellen Ort hat sie in den Regelstrukturen, wo sie dem unproduktiven Innovationszwang der sogenannten Modellprojektförderung weniger ausgesetzt ist. Hochplausibel sind in diesem Zusammenhang die jugendpolitischen Forderungen, eine breit angelegte Grundversorgung für Kinder und Jugendliche vorzuhalten und erst auf dieser Basis u. U. weitere Angebote auszudifferenzieren (Simon 2005). Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen dem Erziehungs- und dem Bildungsdenken betrifft die Liberalität der beiden Ansätze. Die Gegen-Pädagogik legitimiert sich über die Bearbeitung des Problems Rechtsextremismus; eine strukturelle Folge ist die entsprechende Überaufmerksamkeit und eine Hermeneutik des Verdachts. Je weiter nämlich das Ausgangsproblem verbreitet und je raffinierter seine Maskierungen zu sein scheinen, um so legitimer scheint auch der Bedarf an Aufklärung, an pädagogischer Intervention und auch an unmittelbarer Kontrolle von Meinungsäußerungen. Frei von dem Furor der Bekämpfung können sich die Bildungsansätze demgegenüber eine größere Gelassenheit bewahren: Ihr Ziel ist nicht das Aufspüren eines „latenten Rechtsextremismus“ oder eines diffusen „Alltagsrassismus“, sondern die Befähigung ihrer Klientel, alle Angebote ideologischer Orientierung gleichermaßen kritisch zu befragen. Eine Fixierung auf die rechtsextremen Varianten von Weltanschauungsfragmenten ist dabei eher hinderlich. uj 2 (2009) 61 rechtsextremismus Literatur Bilstein, J., 2001: Erziehung, Bildung, Spiel. In: Liebau, E. (Hrsg.): Die Bildung des Subjekts. Beiträge zur Pädagogik der Teilhabe. Weinheim/ München, S. 15 - 71 Böhnisch, L., 2 1999: Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. 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