unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Zielgruppenorientierung. Genau hinschauen, mit wem man spricht
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C. Wolfgang Müller
In den Anfängen unserer Didaktik - also der Lehre vom Lehren und Lernen - lag der Schwerpunkt unseres Interesses bei den Inhalten unserer Lehre, denen man eine bildende Wirkung auf die junge Generation zutraute. Später brachten uns KommunikationswissenschaftlerInnen bei, dass neben den vermittelten Stoffen auch die Person von LehrerIn und SchülerIn, von Kita-Kind und ErzieherIn Einfluss auf den Lehrererfolg habe - und die Situation "vor Ort" und das soziale Arrangement des Lehr-Lern-Prozesses dazu. Die Bemühungen der KultusministerInnen der Europäischen Union, darauf gerichtet, in allen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft vergleichbare Bildungs- und Erziehungsstandards einzuführen, lenkten darüber hinaus das Augenmerk der "QualitätskontrolleurInnen" vom "Input" des Lehrprozesses, für den wir Profis verantwortlich gemacht werden, auf den "Output" der Lernergebnisse und ihrer Umsetzung im täglichen Leben von Kindern und Jugendlichen. Die lange Reihe der PISA-Vergleichsuntersuchungen ist dafür ein sprechendes, aber inzwischen auch fragwürdiges Beispiel, weil der Ländervergleich zur Hitparade eines Oberligaspiels zu verkommen droht, bei der nicht mehr wichtig ist, was man daraus lernen kann, sondern nur noch, wer oben ist und wer absteigt.
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146 uj 4 (2009) Unsere Jugend, 61. Jg., S. 146 - 149 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel zielgruppenorientierung Zielgruppenorientierung. Genau hinschauen, mit wem man spricht C. Wolfgang Müller Was bedeutet Zielgruppenorientierung für Pädagogik und Soziale Arbeit? In den Anfängen unserer Didaktik - also der Lehre vom Lehren und Lernen - lag der Schwerpunkt unseres Interesses bei den Inhalten unserer Lehre, denen man eine bildende Wirkung auf die junge Generation zutraute. Später brachten uns KommunikationswissenschaftlerInnen bei, dass neben den vermittelten Stoffen auch die Person von LehrerIn und SchülerIn, von Kita- Kind und ErzieherIn Einfluss auf den Lehrererfolg habe - und die Situation „vor Ort“ und das soziale Arrangement des Lehr-Lern-Prozesses dazu. Die Bemühungen der KultusministerInnen der Europäischen Union, darauf gerichtet, in allen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft vergleichbare Bildungs- und Erziehungsstandards einzuführen, lenkten darüber hinaus das Augenmerk der „QualitätskontrolleurInnen“ vom „Input“ des Lehrprozesses, für den wir Profis verantwortlich gemacht werden, auf den „Output“ der Lernergebnisse und ihrer Umsetzung im täglichen Leben von Kindern und Jugendlichen. Die lange Reihe der PISA- Vergleichsuntersuchungen ist dafür ein sprechendes, aber inzwischen auch fragwürdiges Beispiel, weil der Ländervergleich zur Hitparade eines Oberligaspiels zu verkommen droht, bei der nicht mehr wichtig ist, was man daraus lernen kann, sondern nur noch, wer oben ist und wer absteigt. Das Augenmerk von LehrerInnen, ErzieherInnen und SozialpädagogInnen ist also in der Gegenwart auf die „LernerInnen“ gerichtet worden, auf die speziellen Eigenheiten, die u. a. durch Herkunftsfamilien, Alter, Gesundheitszustand, Wohnortgröße und Nachbarschaft mitbestimmt werden, aber auch durch (Bildungs-)Bedürfnisse (z. B. nach Information, Beratung oder einem speziell ausgerichteten Training). Sie sollen bei der Planung, Durchführung und Bewertung von Lehr-Lernprozessen in der formalen und in der informalen Bildung berücksichtigt werden. Nun können wir aber nicht mehr in jene alten Zeiten zurückkehren, in denen Gutsbesitzer im Osten Europas ihre Kinderfrauen hatten und die Adelsfamilien in Deutschland ihre HauslehrerInnen, die beide nur für die Kinder der eigenen Familie zuständig waren. Bildung für alle und Bildung mit einem flächendeckend gut ausgebildeten professionellen Lehrpersonal in Kindertagesstätten, allgemeinbildenden Schulen, in der außerschulischen Jugendarbeit, in Hochschulen und Volkshochschulen ist eine massenhaft zu erbringende, personenbezogene Dienstleistung für jeder- Prof. Dr. Dr. h.c. C. Wolfgang Müller Jg. 1928; emeritierter Prof. Dr. phil. für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin uj 4 (2009) 147 zielgruppenorientierung mann und jedefrau geworden, die den Einzelfall zwar sehen soll, aber im Regelfall nicht hinreichend berücksichtigen kann. Zuerst haben die kommerziellen MarktforscherInnen diese Schwierigkeit entdeckt. Sie sollten den massenhaften Waren der nicht mehr bedarfsdeckenden, sondern bedarfsweckenden Gebrauchsgüter-Industrie den Weg zu potenziellen KundInnen weisen, die bestimmte Waren brauchen oder doch für bestimmte Warenangebote in der Werbung erst einmal kauffreudig gestimmt werden könnten. Im letzten Jahrhundert arbeiteten MarktforscherInnen im Wesentlichen mit vorhandenen statistischen Merkmalen, die demografische Daten widerspiegelten: Geschlecht, Alter, Schulbildung, Wohnortgröße, Religionszugehörigkeit. Ihrer Forschung verdanken wir ein paar interessante soziologische und sozialpsychologische Erkenntnisse. Etwa die Erkenntnis, dass bekennende evangelische Eltern anders mit Puppen, Märklin- Eisenbahnen und anderem Spielzeug umgehen als katholische Eltern (vgl. Dichter 1964). Oder die Tatsache, dass Männer anders auf parfümiertes Gesichtswasser reagieren als Frauen - und dass die männliche Haut einer anderen Zusammensetzung von Hautcremes bedarf als die weibliche Haut - und dass unterschiedliche Hauttypen bedient werden müssen. Am Ende des 20. Jahrhunderts erwiesen sich die durch eine solche grobkörnige Marktforschung definierten Zielgruppen für bestimmte Produkte des alltäglichen und gehobenen Bedarfs als zu ungenau, um renditeträchtige Strategien für die Produktion, die Platzierung und die Werbung von Waren (und nahezu gleichzeitig auch von Dienstleistungen) zu entwickeln. Deshalb machte die Marktforschung einen Sprung von der Bestimmung der Klassenlage zur Bestimmung der Lebenslage potenzieller KundInnen. Das Sinus Sociovisions Institut in Heidelberg (vgl. www.sinus-soziovi sion.de) verband (clusterte) statistisch-demografische Personengruppen zu „Lebensstilgruppen“, die innerhalb der groben Sozialschichten der Bevölkerung einen bestimmten Lebensstil repräsentierten: Etwa den gut gebildeten jugendlichen Exzentriker, der nicht jedem Trend hinterherläuft, sondern seine einzelgängerhafte Individualität pflegt und unter Umständen als Repräsentant einer modischen Avantgarde gelten kann. Oder den rüstigen, aber konservativen Rentner mit auskömmlichem Familienbudget, der besonders positiv auf Konsumangebote reagiert, die ihn an seine eigene Jugendzeit erinnern. Solche Beschreibungen von Lifestyle- Typen - die natürlich für jede Produktgruppe von Waren und Dienstleistungen der Industrie neu und gesondert formuliert werden müssen - haben in allen entwickelten Industrieländern zu dem Ruf nach der Beschreibung möglichst passgenauer Zielgruppen geführt, vor allem auch, um die überbordenden Werbeetats der Großproduzenten in der Kosmetik- und Getränke- Industrie vor Fehlinvestitionen zu schützen. Immer noch gilt der alte Werber-Spruch: „Wir sind sicher, dass wir die Hälfte unseres Werbe-Etats falsch investieren. Wir wissen nur noch nicht, welche Hälfte.“ Deshalb, weil diese Unsicherheit inzwischen korrigiert worden ist, lesen wir heute die meisten Anzeigen für Klosterfrau Melissengeist und Herzgold in den Ratgeberzeitschriften, die in den Apotheken ausliegen. Und Zeitschriften für junge Eltern überleben mit Anzeigen, die für neue Erziehungsratgeber werben, wie dem Fortsetzungsband von Michael Winterhoff (2009) „Tyrannen müssen nicht sein“, der mit der missverstandenen anti-autoritären Erziehungs-Maxime von Kindern ehemals 68-Eltern hart ins Gericht geht, die ihre eigenen Kinder so erziehen: „Lasst sie machen, sie sind schließlich schon als Zweijährige autonome Persönlichkeiten“ (vgl. Winterhoff 2009, 14f). 148 uj 4 (2009) zielgruppenorientierung W as hat das alles mit Erziehung und Bildung, mit der Zeitschrift zu tun, die professionellen ErzieherInnen und SozialpädagogInnen helfen soll, ihre gesellschaftlich wichtigen Tätigkeiten auf der Höhe der Zeit zu reorganisieren? Zunächst sollten wir die Botschaft ernst nehmen (und zu einem handlungsleitenden Prinzip machen), dass nicht nur unsere „Botschaften“ von Bedeutung sind und unsere Personen, die diese Botschaften transportieren, sondern auch eine möglichst „zielgruppenspezifische“ Beachtung der Personen, mit denen wir es direkt oder indirekt als Lehrende und Lernende zu tun haben (denn auch wir als Lehrende sind Lernende gleichzeitig und gleichermaßen). In einem zweiten Schritt sollten wir versuchen, die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, mit denen wir es zu tun haben, im Hinblick auf ihre (bei aller Unterschiedlichkeit) Gemeinsamkeiten zu erkennen und zu beschreiben: Wohnsituation: Einzelhaus, Mietwohnung, Unterkunft für Zugezogene; Familiensituation: Kleinfamilie, Großfamilie, Mehrgenerationenhaushalt, Berufstätigkeit auch der Frauen im Haushalt, erwachsene Kinder; Arbeitssituation: selbstständig, abhängig berufstätig (ganztags, halbtags, dauerhaft oder in Zeit- und Kurzarbeit, Nebenbeiarbeit), arbeitslos; Lebensperspektive: Will die Familie weiter und höher? Ist sie zufrieden mit ihrer Lage und will sie sie erhalten? Hat sie Besorgnisse und Befürchtungen in Bezug auf ihren Abstieg im sozialen Gefüge? Bei Kinder- und Jugendgruppen mit multiethnischem Hintergrund sind sicher noch zusätzliche Informationen heranzuziehen, in welchem Maße die soziokulturellen und soziospirituellen Traditionen des Herkunftslandes zumindest in der Erziehung durch die Ursprungsfamilie eine Rolle spielen. Diese Informationen führten zu einer (gedachten) Zielgruppenbildung innerhalb der Gruppen von Kindern und Jugendlichen, mit denen wir es zu tun haben. Denn wir können ihnen ja nicht in getrennten Veranstaltungen gegenübertreten (was vielleicht einfacher wäre, was aber auch die Integrationsfunktion unseres allgemeinbildenden Erziehungswesens infrage stellen würde), sondern müssen mit ihnen gemeinsam klarkommen. Und darin besteht heute die wichtigste Aufgabe von LehrerInnen, ErzieherInnen und SozialpädagogInnen in unserem Land: Die Kunst, die heute von uns verlangt wird (und die zu meistern wir erst neuerdings und noch viel zu wenig vorbereitet werden), heißt mit einem englischen Wort: Diversity Management: schöpferischer Umgang mit Vielgestaltigkeit, die auf den ersten Blick eher lähmt als ermutigt. Darauf ist unser Bildungssystem nicht vorbereitet. Es möchte die Zugänge zu den einzelnen Einrichtungen von Erziehung und Bildung möglichst reinlich sortieren: In Volksschule und Realschule, in öffentliches Gymnasium und private Elite- Zusatz-Einrichtungen wie die britischen public schools, in Fachhochschulen und Universitäten. Und die noch nach Studiengebühren und Ranking sortiert. Wer das nicht will - und das sind bei uns die meisten -, der muss versuchen, die neue Vielfalt unserer Lehrenden und Lernenden in gleichberechtigte Gruppen zu sortieren, denen allen gemeinsam ist, dass sie nicht gegeneinander konkurrieren, sondern miteinander unterschiedliche Wege suchen, um das eine gemeinsame Ziel zu erreichen, das Johannes Amos Comenius, der berühmte tschechische Theologe und Pädagoge schon im 17. Jahrhundert formuliert hat: Es müsse möglich sein, „alle alles zu lehren“ - aber mit unterschiedlichen Medien: mit Wörtern, mit Geschichten, mit Bildern und mit dem Vor-Machen durch Vor-Leben. uj 4 (2009) 149 zielgruppenorientierung Heute verfügen wir hoffnungsvollerweise über viele unterschiedliche Medien zum Transport unserer „Weisheiten“, aber wir müssen auch mit vielen unterschiedlichen Zielgruppen rechnen, die auf unterschiedliche Weise die angebotenen Medien und ihre Botschaften nutzen. Der Umgang mit dieser Vielfalt ist unsere historische, professionelle Herausforderung. Diversity Management - die Kenntnis von und der Umgang mit unterschiedlichen Zielgruppen - ist ein wichtiger Teil bei der Erneuerung unserer (sozial-)pädagogischen Berufe. Literatur Comenius, J. M., 10 2007: Große Didaktik: die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren. Stuttgart Dichter, E., 1964: Strategien im Reich der Wünsche. München Winterhoff, W., 2009: Tyrannen müssen nicht sein. Warum Erziehung nicht reicht - Auswege. Gütersloh Der Autor Prof. Dr. Dr. h. c. C. W. Müller Bozener Straße 3 10825 Berlin 2007. 599 Seiten. 18 Abb. 25 Tab. (978-3-497-01897-0) kt € [D] 29,90 / € [A] 30,80 / SFr 50,50 In der Sozialen Arbeit beschäftigt man sich mit Kindern, Erwachsenen oder alten Menschen, regelt Konflikte oder vermittelt Dienstleistungen. Man kann sich als Seelsorger oder Manager, als Trainerin, Sozialtherapeutin oder als Anwältin der Benachteiligten verstehen. Was aber macht diesen Beruf wirklich aus? In diesem Buch wird ein handlungstheoretisch fundiertes Profil des Berufes entwickelt. Dargestellt werden: Ziele und Rahmenbedin- • gungen des Berufes, Arbeitsfelder und • Tätigkeitsgruppen, Fallbeispiele erfahrener • Fachkräfte, Kernkompetenzen. • a www.reinhardt-verlag.de
