eJournals unsere jugend 61/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Beziehungsangebot und Beziehungsmöglichkeit. Konzeptionelle Überlegungen zu Mentorensystemen als niedrigschwellige Angebote für Kinder und Jugendliche mit ungünstigen Bindungserfahrungen

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2009
Hannah Schott
Vor dem Hintergrund, dass ambulante Hilfen ein wachsendes Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung darstellen, erscheinen Überlegungen zu differenzierten Angeboten in diesem Bereich als aktuelles Thema. Ausgehend von bindungstheoretischen Annahmen über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Beziehungsaufnahme von Kindern und Jugendlichen mit schwerwiegend negativen Bindungserfahrungen werden Mentorensysteme auf ihre Bedeutung als beziehungsorientiertes Angebot für Kinder und Jugendliche diskutiert, die in besonderer Weise Schwierigkeiten haben, sich auf Erwachsenenbeziehungen einzulassen.
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150 uj 4 (2009) Unsere Jugend, 61. Jg., S. 150 - 158 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel zielgruppenorientierung Beziehungsangebot und Beziehungsmöglichkeit. Konzeptionelle Überlegungen zu Mentorensystemen als niedrigschwellige Angebote für Kinder und Jugendliche mit ungünstigen Bindungserfahrungen Hannah Schott Vor dem Hintergrund, dass ambulante Hilfen ein wachsendes Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung darstellen, erscheinen Überlegungen zu differenzierten Angeboten in diesem Bereich als aktuelles Thema. Ausgehend von bindungstheoretischen Annahmen über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Beziehungsaufnahme von Kindern und Jugendlichen mit schwerwiegend negativen Bindungserfahrungen werden Mentorensysteme auf ihre Bedeutung als beziehungsorientiertes Angebot für Kinder und Jugendliche diskutiert, die in besonderer Weise Schwierigkeiten haben, sich auf Erwachsenenbeziehungen einzulassen. Ein Blick auf die Jugendhilfestatistik Kinder und Jugendliche, die AdressatInnen erzieherischer Maßnahmen des Jugendhilfesystems sind, zeigen tendenziell schwierige Biografien auf. Sie können durch Vernachlässigung, nicht selten durch Gewalterfahrungen und Missbrauch gekennzeichnet sein. Ein Blick in die Jugendhilfestatistik zeigt, dass unter den häufigsten Anlässen für erzieherische Hilfen Entwicklungsauffälligkeiten, Beziehungsprobleme, Trennung der Eltern und Probleme in der Familie eine Rolle spielen. Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen sind in jeder Statistik vertreten (Statistisches Bundesamt 2006 a, 2006 b, 2006 c). Wie Klawe gezeigt hat, sind die AdressatInnen Individualpädagogischer Maßnahmen zu 50 % durch Trennungs- und Beziehungsprobleme gekennzeichnet (Klawe 2008, 211). Spätestens mit der Psychoanalyse haben wir anerkannt, dass Erfahrungen von Vernachlässigung und Gewalt durch Bezugspersonen maßgeblich die Art der späteren Beziehungsgestaltung prägen. Sie können Hannah Schott Jg. 1980; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt am Main uj 4 (2009) 151 zielgruppenorientierung betroffene Kinder und Jugendliche in eine Lage bringen, in der diese sich jeglicher Beziehungsaufnahme und damit auch der verfügbaren Hilfe von außen verschließen. Die Bindungstheorie hat zu diesem Themenbereich einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis der Gestaltungsmöglichkeiten von Beziehungen geleistet, auf den ich im Folgenden zurückgreifen möchte. Ausgehend von bindungstheoretischer Sichtweise möchte ich dabei die Frage zur Diskussion stellen, ob im Falle schwerwiegend negativer Bindungserfahrungen unsere beziehungsorientierten Hilfemaßnahmen nicht einen überhöhten Anspruch an Kinder und Jugendliche stellen. Da mit einer Überforderung des Betreffenden die Gefahr des Beziehungsabbruchs einhergeht, sollen Überlegungen zu einem beziehungsorientierten Konzept angestellt werden, das eine geringere emotionale Anforderung an diese Gruppe stellen und damit die Bereitschaft zur Aufrechterhaltung der helfenden Beziehung fördern könnte. Dabei wird zur Diskussion gestellt, ob eine helfende Beziehung, die in ihrer Qualität symmetrisch beschaffen ist, als niedrigschwelliges Angebot für Kinder und Jugendliche geeignet sein kann, die sich aufgrund großen Misstrauens gegenüber der Erwachsenenwelt externer Hilfe verschließen. In Bezug auf diese Überlegungen wird der Gewinn von Mentorensystemen diskutiert, in denen Studierende symmetrische helfende Beziehungen anbieten. In Anlehnung an Professionalisierungsansprüche werden auch mögliche Gefahren eines solchen Systems erwogen. Unter Berücksichtigung des Hintergrundes, dass im diskutierten Themenbereich aktuell kaum verallgemeinernd evidenzbasierte Aussagen getroffen werden können, werden auf Basis einzelner Evaluationsergebnisse von Mentorenprojekten Kriterien zu Entwicklung und Qualitätssicherung solcher Konzepte abgeleitet. Beziehungsmöglichkeit von Kindern und Jugendlichen mit negativen Bindungserfahrungen Zu einem tieferen Verständnis des Beziehungsverhaltens von Kindern mit negativen Beziehungserfahrungen eignet sich die bindungstheoretische Sichtweise. Diese kann durch das Modell der internen Arbeitsmodelle die Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung vor dem jeweiligen biografischen Hintergrund erklären. Das Arbeitsmodell der Bindung gestaltet sich danach gemäß früher Beziehungserfahrungen und zeigt sich auch in späteren Entwicklungsstadien durch entsprechende Erwartungshaltungen gegenüber Bezugspersonen. Es beeinflusst somit nachhaltig die Beziehungsgestaltung. Negative Beziehungserfahrungen können daher in Ausprägung eines unsicher-vermeidenden, unsicher-ambivalenten oder desorganisierten Typs gravierende Auswirkungen auf die Beziehungsfähigkeit haben (Bowlby 1973, 1969; Grossmann 2004). Auf diese Weise kann die Haltung des Kindes einer professionellen Bezugsperson gegenüber im Vorhinein belastet sein. Jugendliche, die schwierige Lebensbiografien aufweisen, stehen Hilfemaßnahmen deshalb oft ablehnend gegenüber, insbesondere wenn sie eine Jugendhilfekarriere durchlaufen haben, die von Beziehungsabbrüchen gekennzeichnet ist (Klawe 2008, 211; Blandow 1997). Dadurch wird nicht nur die Zielerreichung der Hilfe im Vorhinein verwehrt, es kann in bestimmten Fällen außerdem zum Abbruch einer helfenden Beziehung aufgrund der emotionalen Überforderung kommen. Bedeutsam ist hier, dass Evaluationen zufolge die Dauer der helfenden Beziehung mit dem Zustandekommen einer positiv erlebten Beziehung korreliert. Eine positive Beziehung jedoch stellt aus bindungstheoretischer Sicht die Grundlage für pädagogisch re- 152 uj 4 (2009) zielgruppenorientierung levante Diskontinuitätserfahrungen dar. Bindungstheoretisch geleitete Interventionen gehen von der Annahme aus, dass ungünstige Bindungsmuster durch Erfahrungen verändert werden können, die der Bindungserwartung entgegenlaufen. Während es in der Intervention bei unsichervermeidend gebundenen Kindern darum geht, sukzessive Beziehung aufzubauen, erfordert die Arbeit mit unsicher ambivalent gebundenen Kindern vor allem eine konstante Form der Zuwendung (Julius 2008; Ellinger 2007). Die Arbeit mit unsicher gebundenen Kindern wirft Schwierigkeiten auf, die von der Bezugsperson eine hoch reflexive Haltung erfordern. So können unsicher-ambivalent gebundene Kinder durch ein stark forderndes Verhalten gegenüber einer Bezugsperson diese schnell zu ablehnenden Verhaltensweisen oder zur Grenzüberschreitung veranlassen. Damit wird das Kind dann in seinen Bindungserwartungen bestätigt. Für vermeidend gebundene Kinder ist dagegen die Tendenz bezeichnend, Beziehungsangeboten gegenüber ablehnend und auch aggressiv entgegenzutreten, da weitere schlechte Erfahrungen vermieden werden sollen. Durch derartige Verhaltensweisen wird der Zugang bedeutend erschwert. In unseren Hilfemaßnahmen zur Erziehung sind zahlreiche Aspekte enthalten, welche die Bedeutung von Bindungsbeziehungen anerkennen. Da allgemein anerkannt ist, dass für eine gesunde Entwicklung verlässliche und einfühlsame Bezugspersonen unerlässlich sind, können im Sinne des Kindeswohls Hilfen in Kraft treten, wenn diese Grundbedürfnisse durch die Erziehungspersonen nicht abgedeckt werden. Unter Anerkennung der Bedeutsamkeit familiärer Beziehungen werden diese vorwiegend als ambulante Maßnahmen eingesetzt (Fendrich/ Pothmann 2007, 133ff). Ein besonderer Blick soll hier auf die Maßnahmen der Intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung nach § 35 KJHG geworfen werden. In Abgrenzung zu anderen Hilfen wenden sie sich an den Jugendlichen selbst und bauen dabei maßgeblich auf die Beziehung zwischen Jugendlichem und Professionellem. Klawe/ Bräuer (1998) haben gezeigt, dass Beziehung(-sfähigkeit) eine Schlüsselfunktion im Rahmen dieser Hilfen einnimmt. Beziehung stellt dabei die wichtigste Bedingung für einen erfolgreichen Verlauf dar und fungiert als Erziehungsmittel selbst. Als letztes Glied in einer Kette gescheiterter Beziehungen sollten Individualpädagogische Maßnahmen deshalb verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen anstreben, um „‚Gegenerfahrungen‘ zu ermöglichen, die das Vertrauen in Erwachsene und damit ein positives Wachsen wieder ermöglichen“ (Klawe 2008, 211). In Hinblick auf die Bewertung der Beziehungsdimension in Individualpädagogischen Maßnahmen aus Sicht von Jugendlichen selbst zeigt sich ein bestätigendes Bild, indem von diesen die besondere Bedeutung der Beziehung und sozialen Verlässlichkeit mit 27,7 % am häufigsten genannt wird. Obgleich der Großteil der Jugendlichen die beziehungsorientierten Maßnahmen als hilfreich zu erleben scheint, verbleibt ein kleinerer Prozentsatz von etwa 10 % mit negativen Erfahrungen (ebd., 216). Durch diesen erscheint es gerechtfertigt, die Diskussion fortzuführen. Unter Berücksichtigung der Bindungstheorie erscheint in beziehungsorientierten Maßnahmen ein Anforderungsanspruch an den Jugendlichen oder das Kind enthalten zu sein, der in einem gewissen Vertrauensanspruch in Bezug auf den/ die pädagogische/ n HelferIn besteht. Klawe formuliert sogar, dass das beziehungsorientierte Setting in den Hilfen zur Erziehung die beteiligten Jugendlichen „zwingen [soll], sich auf Beziehungen zu den Betreuern einzulassen und nicht auszuweichen“ (ebd., 211). Damit wird grundlegend die emotionale uj 4 (2009) 153 zielgruppenorientierung Kompetenz des Betreffenden vorausgesetzt, sich auf die geforderte Beziehung einlassen zu können. Wie Bindungstheorie bzw. Daten zu Risikostichproben zeigen, darf diese Kompetenz jedoch nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden. Es steht deshalb zur Frage, wie Kinder und Jugendliche, deren Bindungsfähigkeit eine Beziehungsaufnahme zu erwachsenen Bezugspersonen erschwert oder verhindert, von beziehungsorientierten Angeboten erreicht werden können. Nach meinem Ermessen kann es sinnvoll sein, im Sinne einer niedrigschwelligen Sichtweise den Beziehungszugang zu erleichtern, indem die emotionalen Anforderungen herabgesetzt werden. Niedrigschwelligkeit meint das Herabsetzen von Zugangsvoraussetzungen zu Hilfeangeboten. Niedrigschwellige Angebote wenden sich durch das Bereitstellen geringerer Zugangsvoraussetzungen an Menschen, für die bestehende Voraussetzungen verfügbarer Hilfen zu hoch gestellt sind. Was kann Niedrigschwelligkeit im diskutierten Kontext bedeuten? Da helfende Beziehungen im Bereich der Erziehungshilfe in der Regel asymmetrisch angelegt sind, haben sie für Kinder und Jugendliche stark „elternähnlichen“ (Müller 1995) Charakter. Deshalb werden asymmetrischen Beziehungen gegenüber in besonderer Weise biografisch bedingte Erwartungshaltungen aktiv. Wenn in Form von Diskontinuitätserfahrungen dieser Effekt pädagogisch genutzt werden soll, ist erst einmal das Einlassen auf eine andauernde Beziehung erforderlich. Anforderungen an beziehungsorientierte Maßnahmen im Sinne von Niedrigschwelligkeit können deshalb herabgesetzt werden, indem alternative Beziehungsformen angeboten werden. Im Gegensatz zur asymmetrischen Form der Elternbeziehung kann eine Beziehungsqualität Sinn machen, die durch Gleichberechtigung und Partnerschaftlichkeit gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zur früheren Bindungsbeziehung steht hier die Symmetrie der Beziehung im Vordergrund. In Form eines theoretisch fundierten und sorgsam entwickelten Mentorensystems kann auf diese Weise Beziehungsaufnahme für Kinder und Jugendliche ermöglicht werden, die sich aufgrund emotionaler Überforderung anderer Hilfen entziehen. Diskussion von Mentorensystemen und Aspekte zur Qualitätssicherung Der Begriff des Mentors geht auf die griechische Mythologie zurück. In Anlehnung an diese beschreibt er einen gebildeten und erfahrenen Menschen, der einen weniger erfahrenen Menschen über einen bestimmten Zeitraum hinweg begleitet. Durch Betreuung und Beratung in persönlichen, geistigen und sozialen Lebensbereichen unterstützt der Mentor diesen bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Der Mentor kann damit als „erfahrener Ratgeber“ bezeichnet werden (Kluge 1996, 613). Unter Mentorenprogrammen sind heute noch Konzepte zu verstehen, innerhalb derer nichtelterliche erfahrene Personen mit bestimmten AdressatInnen Zeit verbringen und auf diese Weise an deren Leben teilhaben. Die Besonderheit einer Mentorenbeziehung liegt in ihrem partnerschaftlichen, symmetrischen Charakter. Mentorensysteme werden in verschiedenen Bereichen wie z. B. in der Unternehmensentwicklung eingesetzt (Hessisches Sozialministerium 2004) und spezifizieren eine gewisse Zielsetzung. In Bezug auf Jugendliche, die sich in besonderen Problemlagen befinden, beschreiben sie in der Regel Beziehungen zu nichtpro- 154 uj 4 (2009) zielgruppenorientierung fessionellen Personen. In der gemeinsam verbrachten Zeit wird dem Kind bzw. Jugendlichen die uneingeschränkte Aufmerksamkeit einer älteren und erfahreneren Person zuteil, die sich durch die besondere Qualität der Beziehung von den erziehungsberechtigten Bezugspersonen unterscheidet. Das intensive Erleben gemeinsamer Zeit ist in verschiedener Hinsicht bedeutsam. So tragen Zuwendung und Zeit aus Sicht von Jugendlichen in besonderer Weise zum Gelingen einer Beziehung bei (Klawe 2008, 115). Durch die besondere Form der Interaktion können tiefgreifende Lernprozesse ausgelöst werden. Das Hessische Sozialministerium bezeichnet in anderem Zusammenhang Mentoring als „Lernprozess im Dialog“ (2006, 3). Ergebnisse aus der Resilienzforschung zeigen außerdem die Bedeutung von Kompensationsmöglichkeiten ungünstiger Bedingungen durch das informelle Umfeld auf. So zeigten Werner u. a. (1990; 1992), dass Kinder personenbezogene und milieubedingte Risikofaktoren durch Unterstützung externer Bezugspersonen kompensieren können, die - obwohl sie nicht in der Lage sind, widrige Umstände zu eliminieren - über Wärme, Zuverlässigkeit und Fürsorge bzw. durch Aufzeigen von Selbsthilfestrategien über ihre Rolle als Modell kompensierend in Bezug auf Risikofaktoren wirkten. Obwohl die relevante externe Bezugsperson dabei häufig in der frühen Kindheit identifiziert wird, kann die Bedeutung stabilisierender Bezugspersonen bei Risikofaktoren bis in die Adoleszenz hinein Gültigkeit beanspruchen (Petermann u. a. 1998, 221). Nach diesen Ergebnissen erscheint im Kindes- und Jugendalter die Einrichtung einer externen Bezugsperson vielversprechend. In Bezug auf Mentorenprogramme ist in diesem Zusammenhang auf die jahrzehntelange Erfahrung durch das Mentorenprojekt Big Brothers - Big Sisters zu verweisen, das 1904 als Initiative in den USA entstand und inzwischen auch an deutschen Standorten angesiedelt ist (Big Brothers Big Sisters Deutschland 2008). Big Brothers Big Sisters wurde unter Einbezug von Vergleichsgruppen evaluiert und kann bezüglich des Selbstwerts und der Sozialkompetenz von Kindern, aber auch im allgemeinen Bereich der Entwicklung, in Einstellungen gegenüber der Schule und auf dem Gebiet der Drogenprävention positive Effekte vorweisen (Tierney u. a. 2000). Im Kontext negativer Bindungserfahrungen ergeben sich in Hinblick auf Mentorensysteme weitere Vorteile. So erscheint aus bindungstheoretischer Sicht die Konstanz der Bezugsperson als besonders bedeutsam. Mentorensysteme eignen sich, weil sie über längere Zeiträume hin etabliert werden können und ein zusätzliches Angebot darstellen müssen, das die bestehenden Beziehungen zu Bezugspersonen nicht berührt. Sie erfolgen damit nicht zu Lasten der vorhandenen pädagogischen Fürsorge und bergen weniger die Gefahr, mit dieser in Konkurrenz zu treten. Konkurrenz zu Erziehungspersonen aber birgt die Gefahr, das Bindungsverhältnis zwischen diesen und dem Kind weiter zu gefährden. Deshalb müssen wir Eltern „auf ihrem ersten Rang respektvoll ‚sitzen‘ lassen und unsere Beziehungen vom zweiten aus anbieten“ (Kreszmaier 1994, 207). Dass die Gefahr der Entstehung eines Konkurrenzverhältnisses zwischen MentorIn und Erziehungsperson geringer ist als bei professionellen Beziehungen, ist bereits in der anderen Art der Beziehung angelegt. Der bedeutsamste Vorteil des Mentorings liegt darin, dass für Kinder und Jugendliche, die sich nicht auf elternähnliche Beziehungen einlassen können, die Aufnahme und das Aufrechterhalten einer partnerschaftlichen Beziehung erleichtert werden kann. Dieser Vorteil besteht vor uj 4 (2009) 155 zielgruppenorientierung allem dann, wenn sich der/ die MentorIn in seinen persönlichen Merkmalen von den gewohnten Bezugspersonen unterscheidet. In unserem Zusammenhang bietet es sich zudem an, Mentorensysteme auch auf ihre Bedeutung hinsichtlich der spezifischen Bindungstypen zu überprüfen. Mit der Zielgruppe der beziehungsablehnenden Kinder und Jugendlichen ist bereits der vermeidende Bindungstyp angesprochen. Ein Mentorensystem trägt hier dem Freiheitsbedürfnis dieser AdressatInnen in besonderer Weise Rechnung: Mentoring kann zeitlich sehr flexibel installiert werden und stellt mit einem in der Regel geringen Stundenangebot und geringen Sequenzen dem Betreffenden ausreichend Raum zur Verfügung. Es kann mit einem geringen Zeitaufwand beginnen und behutsam gesteigert werden. Vor allem für die beginnende Beziehung kann dieser Aspekt von entscheidender Bedeutung sein. Durch die symmetrische Form der Beziehung erhalten die AdressatInnen zudem das Gefühl der Kontrollierbarkeit. Dieses Empfinden kann den Betreffenden das Einlassen auf die Beziehung erleichtern. Bei unsicher ambivalent gebundenen Kindern sehe ich vor allem hinsichtlich des organisatorischen Rahmens Vorteile, innerhalb dessen festgelegte Verabredungen und Vereinbarungen getroffen werden müssen. Die gemeinsam verbrachte Zeit in regelmäßigen Sequenzen stellt gewissermaßen ein Ritual dar und ermöglicht dem Kind Erfahrungen von Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit durch eine Bezugsperson. Gleichzeitig begrenzen diese Rituale das fordernde Verhalten des Kindes. Es kann dadurch die Erfahrung machen, dass der/ die BezugspartnerIn, unabhängig jeglichen fordernden Verhaltens, immer wieder Zeit mit ihm verbringen wird. Beim desorganisierten Typ kann ein Mentorensystem zur Reduktion der Angst des Ausgeliefertseins an die Bezugsperson dienen und somit die Beziehungsaufnahme erleichtern. Die AdressatInnen machen innerhalb der gleichberechtigten Beziehung wichtige Autonomieerfahrungen, die sich als Diskontinuitätserfahrungen darstellen können. In dieser Art kann Mentoring auch als vorübergehende Hilfe geeignet sein, indem es den Weg zu weiteren Hilfen durch pädagogische Fachkräfte vorbereitet. Schauen wir noch einmal auf die Darstellungen der Beurteilung zum Gelingen der Beziehungsentwicklung aus Sicht der Jugendlichen nach Klawe, wird zudem folgende Tendenz deutlich: Während die Bedeutung der Zuwendung, der bedingungslosen Anteilnahme, der Verlässlichkeit und des Engagements einen Prozentanteil der Nennung von bis zu 16,6 % erreichten, wurde die Nennung Autorität/ Ruhe nur zu 2 % getätigt (Klawe 2008, 215). Die Einrichtung von Mentorensystemen im diskutierten Kontext ist neben den genannten Vorteilen nicht unbedenklich. Sie bedarf bestimmter Vorsichtsmaßnahmen und setzt eine exakte Form der Qualitätssicherung voraus. Dazu gehört die gezielte Planung und Evaluation des Projekts sowie auch die Begleitung der MentorInnen, was einen Anspruch an eine kooperative Zusammenarbeit mit den beteiligten PartnerInnen nach sich zieht. Das Hessische Sozialministerium (2006) hat im Zusammenhang der Personalentwicklung ein Raster zur Planung von Mentorenprojekten entwickelt, das in der Grundidee für den diskutierten Kontext Gültigkeit beanspruchen kann und mit dem ein Rahmen für die Umsetzung eines Mentorenprojektes geschaffen ist. Danach muss nach über- und untergeordneten Zielen und hinsichtlich der Zielerreichbarkeit nach Kontext, Zielgruppen und (internem oder externem) Standort der MentorInnen unterschieden werden. 156 uj 4 (2009) zielgruppenorientierung Ein Mentorenprojekt in unserem Kontext wirft weiterhin besondere Klärungsbedarfe auf. Dazu zählt die Frage nach dem erforderlichen Professionalisierungsgrad der MentorInnen. Wir befinden uns hier bekanntlich in einem pädagogischen Bereich, in dem auch psychische Belastbarkeit und psychosoziale Kompetenzen eine Rolle für pädagogisches Handeln spielen. So sind selbst bei pädagogischen Fachkräften insbesondere in konfliktbelasteten Situationen Verhaltensweisen zu beobachten, die durch persönliches Erleben wie innere Betroffenheit geleitet sind (Schott 2006). Oevermann (1996) verweist im Rahmen seiner Professionalitätstheorie mit der Unterscheidung der spezifischen und diffusen Sozialbeziehungen sogar grundlegend auf das Problem, dass es in pädagogischen Beziehungen zur Konfusion von Persönlichkeit und professioneller Rolle kommt, da pädagogische Fachkräfte immer auch persönlich in den Prozess involviert sind. Es erscheint somit erforderlich, dass einerseits die Gruppe derer, die sich als MentorInnen eignen, bedachtsam ausgewählt werden muss. Dabei eignen sich Personen, die nicht zu den pädagogischen Fachkräften gezählt werden dürfen, aber auch nicht fachfremd sind. Eine vielversprechende Möglichkeit scheint im Einbezug von PädagogikstudentInnen zu liegen, die sich gewissermaßen in einem Übergangsstatus befinden. Verschiedene Ergebnisse und Berichte verweisen auf deren Eignung als kompensierende Bezugsperson (Heinzel u. a. 2007). So zeigen Ergebnisse aus der Evaluation des Mentorenprojekts Balu und Du in Bezug auf verschiedene Problembereiche vielversprechende Effektstärken. Aus diesen Ergebnissen ist ersichtlich, dass das Programm effektiv die Integration der angesprochenen Kinder fördern kann und zur Entwicklung von Sozialkompetenzen beiträgt. Kottmann stellt außerdem in einem Bericht zum Präventionsprojekt Schule für alle die Perspektive eines Jungen dar, der als besonders bedeutsam erachtete, dass seine Mentorin „sich exklusiv um ihn kümmern, ihm zuhören und nur mit ihm etwas unternehmen konnte“ (Kottmann 2007, 38). Außerdem müssen MentorInnen Instrumente an die Hand gegeben werden, durch die ein gewisser Professionalisierungsgrad erreicht werden kann. Meiner Ansicht nach müssen sie fachlich auf ihre Tätigkeit vorbereitet werden, indem kontextspezifisches pädagogisch relevantes Fachwissen, aber auch methodische Fertigkeiten für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen vermittelt werden. Im Rahmen einer professionellen Begleitung kann außerdem durch beständige Reflexion und Austausch die Qualität der Mentorenarbeit entscheidend verbessert werden. Supervision und der regelmäßige Austausch der MentorInnen von Erfahrungen erscheint in Hinblick auf die besondere Beziehung, die Fragen hinsichtlich der eigenen Rolle aufwirft, als grundlegende Voraussetzung. Der regelmäßige Austausch in einer festen Kleingruppe hat sich hier an verschiedenen Stellen als erfolgreich erwiesen (Heinzel u. a. 2007). Je nachdem, ob es sich um eine interne oder externe Form des Mentorings handelt, erscheint zusätzlich eine Vernetzung der beteiligten Kooperationspartner erforderlich, die von verschiedenen Seiten aus dazu beitragen können, den Prozess zu evaluieren. In Hinblick auf Fragen der Rollen- und Zuständigkeitskonstellationen sollte im Rahmen einer prozessorientierten Evaluation ein Schwerpunkt auf die Frage gerichtet werden, wie die An- oder Einbindung des Mentorensystems an das bereits vorhandene (Hilfe- oder Familien-)System erfolgt. Eine Evaluation auf Wirksamkeitsebene sollte mit Hilfe standardisierter Verfahren zur Überprüfung der Zielerreichung erfolgen. Eine differenzierte Überprüfung kann erreicht werden, indem sich interne und externe Evaluationsformen ergänzen. uj 4 (2009) 157 zielgruppenorientierung Fazit und Ausblick Ausgehend von den eingeschränkten Möglichkeiten der Beziehungsaufnahme von Kindern und Jugendlichen mit schwerwiegend negativen Bindungserfahrungen wurden Überlegungen angestellt hinsichtlich der Bereitstellung symmetrischer Beziehungen als niedrigschwelliges Angebot. Ergebnisse zu individualpädagogischen Hilfemaßnahmen bestätigten dabei die Bedeutung beziehungsorientierter Maßnahmen, gleichwohl ergab sich genau aus dieser Bedeutung heraus die Notwendigkeit der Weiterentwicklung und Differenzierung diesbezüglicher Angebote. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Mentoring als Zugangsweg für Kinder und Jugendliche geeignet sein kann, die sich aufgrund emotionaler Überforderung der verfügbaren Hilfen von außen verschließen. Der Gewinn eines Mentorensystems in diesem Kontext ergibt sich vor allem aus der besonderen Beziehungsqualität heraus, die in Hinblick auf verschiedene Bindungstypen besondere Bedeutung beanspruchen kann. Unter Berücksichtigung der verfügbaren Daten erfordern Mentorensysteme dabei eine besondere Form der Qualitätssicherung, innerhalb derer das Einhalten der dargestellten Kriterien erforderlich erscheint. Auf Grundlage dieser Standards könnten geeignete Projekte entwickelt und auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Die systematische und vergleichbare Evaluation von Mentorenprojekten dieser Art wäre auf einer spezifischen zielgruppenbezogenen Datenbasis noch zu erbringen, um diesbezüglich evidenzbasierte Aussagen treffen zu können. Es wäre hier zunächst der Aspekt der Niedrigschwelligkeit von Mentorensystemen zu prüfen, indem Daten zur Inanspruchnahme und zur Teilnahmedauer am Angebot gesammelt würden. Im Weiteren wäre einerseits zu fragen, ob Mentorensysteme zum Aufbau der Beziehungsfähigkeit beitragen können, andererseits wäre von Interesse, ob diese Form der Hilfe Wirksamkeit in Hinblick auf Erziehungs- und Entwicklungsziele erreicht. Schließlich müssten auch geeignete Wege gefunden werden, die es möglich machen können, Mentorensysteme an die bestehenden Systeme anzubinden. Diese Anbindung stellt gleichzeitig einen qualitätssichernden Aspekt dar. Mentorenprogramme können und dürfen keine professionellen Maßnahmen ersetzen und erscheinen als zusätzliches beziehungsstiftendes Angebot adäquat. In dieser Form könnten sie sich aber - sinnvoll angegliedert und unter Einbezug von Qualitätsstandards - für eine kleine Gruppe von Kindern und vor allem von Jugendlichen als Hilfe erweisen, die andere Beziehungsangebote ablehnen, weil die damit einhergehenden Anforderungen an ihre Beziehungsmöglichkeiten zu hoch gesetzt sind. Literatur Big Brothers Big Sisters Deutschland, 2008. www. bbbsd.org/ geschichte_erfolge/ 51,0,0,0,1.html, 1. 7. 2008 Blandow, J., 1997: Über Erziehungshilfekarrieren. Stricke und Fallen der postmodernen Jugendhilfe. In: Institut für Soziale Arbeit e.V. (Hrsg.): Jahrbuch der sozialen Arbeit. Münster, S. 172 - 188 Bowlby, J.,1973: Attachment and Loss. Bd. I und II. New York Cappenberg, M., 2004: Besuchskontakte vor dem Hintergrund der Bindungstheorie. In: Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hrsg.): 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Idstein, S. 71 - 98 Ellinger, S., 2007: Störungen im Bindungsverhalten. In: Ellinger, S./ Koch, K./ Schroeder, J. (Hrsg.): Risikokinder in der Ganztagsschule. Stuttgart Fendrich, S./ Pothmann, J., 2007: Profilwandel der Hilfen zur Erziehung setzt sich weiter fort. In: Jugendhilfe, 40. Jg., H. 3, S. 132 - 138 158 uj 4 (2009) zielgruppenorientierung Grossmann, K./ Grossmann, K. E., 2004: Bindung - das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart Heinzel, F./ Garlichs, A./ Pietzsch, S. (Hrsg.), 2007: Lernbegleitung und Patenschaften. Reflexive Fallarbeit in der universitären Lehrerausbildung. Bad Heilbrunn, S. 132 - 145 Hessisches Sozialministerium, 2006: Mentoring. Im Dialog zur Chancengleichheit. Leitfaden zur Durchführung von Mentoring-Projekten. Wiesbaden Hessisches Sozialministerium, 2004: Die gläserne Decke durchstoßen - Mentoring, eine moderne Strategie für Frauen. Dokumentation der 10. Fachtagung am 20. 10. 2001. Wiesbaden Julius, H., 2008: Bindungsgeleitete Interventionen. In: Gasteiger-Klicpera, B./ Julius, H./ Klicpera, K.: Handbuch der Sonderpädagogik. Band 3. Göttingen Klawe, W., 2008: Individualpädagogische Maßnahmen als tragfähiges Beziehungsangebot. Ergebnisse einer empirischen Studie. In: Unsere Jugend, 60. Jg., H. 5, S. 208 - 217 Klawe, W./ Bräuer, W., 2001: Zwischen Alltag und Alaska. Praxis und Perspektiven der Erlebnispädagogik in den Hilfen zur Erziehung. Weinheim Kluge, F., 1996: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin Kottmann, B., 2007: Das Bielefelder Projekt „Schule für alle“. Prävention von Selektion und Förderung benachteiligter Kinder durch Studierende. In: Heinzel, F./ Garlichs, A./ Pietzsch, S.: Lernbegleitung und Patenschaften. Bad Heilbrunn, S. 32 - 42 Kreszmaier, A., 1994: Das Schiff Noah - Dokument einer therapeutischen Reise. Weitra Maykus, S., 2008: Hilfe zur Erziehung in Bewegung? ! Überlegungen zu Normalisierungstendenzen in den Hilfen zur Erziehung. In: Unsere Jugend, 60. Jg., H. 5, S. 194 - 207 Müller, B., 1995: Wozu brauchen Jugendliche Erwachsene? In: Deutsche Jugend, 43. Jg., H. 4, S. 160 - 169 Oevermann, U., 1996: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe, A./ Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt am Main, S. 70 - 182 Petermann, F./ Kusch, M./ Niebank, K., 1998: Entwicklungspsychopathologie. Ein Lehrbuch. Weinheim Schleiffer, R., 2001: Der heimliche Wunsch nach Nähe. Bindungstheorie und Heimerziehung. Münster Schott, H., 2006: Professionelle Selbstreflexion von Pädagogen im Kontext Kinder und Jugendlicher mit Verhaltensstörungen. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Frankfurt am Main Statistisches Bundesamt, 2006 a: Betreuung einzelner junger Menschen. Tabellen 3.1, 3.2, 3.3. Auskunft am 1. 7. 2008 vom Statistischen Bundesamt Statistisches Bundesamt, 2006 b: Betreuung einzelner junger Menschen. Tabellen 3.4, 3.5, 3.6. Auskunft am 1. 7. 2008 vom Statistischen Bundesamt Statistisches Bundesamt, 2006 c: Betreuung einzelner junger Menschen. Tabellen 3.7, 3.8, 3.9. Auskunft am 1. 7. 2008 vom Statistischen Bundesamt Tierney, J. P./ Grossman, J. B./ Resch, N. L., 2000: Making a Difference. An Impact Study of Big Brothers Big Sisters. www.ppv.org/ ppv/ publi cations/ assets/ 111_publication.pdf Die Autorin Hannah Schott Institut für Sonderpädagogik Senckenberganlage 15 60054 Frankfurt am Main hannah.schott@em.uni-frankfurt.de