unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Meine Maske war die Unsichtbarkeit - jetzt brauch ich die Maske nicht mehr. Das Move-up-Training (MuT)
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Horst Schawohl
Das Move-up-Training (MuT) hilft Kindern und Jugendlichen, die unter Mobbing in der Schule leiden. Erste Erfahrungen mit diesem Training werden im folgenden Beitrag beschrieben.
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uj 4 (2009) 159 Unsere Jugend, 61. Jg., S. 159 - 166 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel zielgruppenorientierung „Meine Maske war die Unsichtbarkeit - jetzt brauch ich die Maske nicht mehr.“ Das Move-up-Training (MuT) Horst Schawohl Das Move-up-Training (MuT) hilft Kindern und Jugendlichen, die unter Mobbing in der Schule leiden. Erste Erfahrungen mit diesem Training werden im folgenden Beitrag beschrieben. Das in der Überschrift verwendete Zitat stammt von einem 14-jährigen Jugendlichen, der im Rahmen der Sozialen Gruppenarbeit gemäß § 29 KJHG ein Move-up- Training (MuT) (vgl. Lorenzen/ Schawohl 2007, 379ff) absolviert hat. Dieses in drei Phasen - Integration, Motivation/ Move-up, Kompetenz - unterteilte Training dauert ungefähr ein halbes Jahr und soll den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen ermöglichen, soziale Handlungskompetenzen verbunden mit einem angemessenen Abgrenzungsvermögen zu erlernen beziehungsweise wiederzuerlangen, indem eine dauerhafte Stärkung des Selbstwertgefühls erreicht wird. Im sicheren Kontext einer sechs bis zehn Personen umfassenden Gruppe werden zudem unter anderem folgende Ziele angestrebt: • Erlernen von Selbstwirksamkeit, • Entwicklung von Verhaltensalternativen, • Selbstsowie Fremdwahrnehmung einschätzen können, • Verlernen erlangter oder erlernter Hilflosigkeit, • Vermeidung bzw. Beendigung einer möglichen Opferkarriere. Den Opfererfahrungen ein Gefühl der Sicherheit und Stärkung entgegensetzen Der dahinter stehende Gedanke ist, ein Gefühl der Sicherheit und der Stärkung für diejenigen zu schaffen, „die das Leid zu tragen haben“ (Schawohl 2006, 72). Das meint auch, das Leiden der hier fokussierten Personengruppe überhaupt zu benennen, denn obwohl das Phänomen Mobbing ein ubiquitäres ist, „spielt das Opferleid gerade in den Medien eher eine Statisten- oder gar „keine Rolle … Entscheidend ist nur die physische Überlegenheit der Sieger. Dr. Horst Schawohl Jg. 1965; Diplom-Sozialpädagoge, Dr. phil., Anti-Aggressivitäts- & Coolness-Trainer® (AAT/ CT), Dozent am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) in Frankfurt und am Deutschen Institut für konfrontative Pädagogik (IKD) in Hamburg 160 uj 4 (2009) zielgruppenorientierung Die Opfer … sind als Mitmenschen nicht vorgesehen“ (Beuster 2006, 179). Das Ausmaß dieser Ignoranz wird deutlich, wenn Berücksichtigung findet, dass durch „Psychoterror auf dem Schulhof jeder sechste Schüler [gemobbt] wird“ (Dake 2007, 2f); andere AutorInnen sprechen davon, dass jede/ r siebte SchülerIn entsprechende Erfahrungen hat (Michaelsen-Gärtner/ Franze/ Paulus 2007, 13) und somit möglicherweise unter den daraus resultierenden Folgen leidet. Als solche werden „Schulangst, Leistungsabfall, … psychosomatische Erkrankungen, … Rückzug aus sozialen Bezügen, schwindendes Selbstbewusstsein/ Selbstwertgefühl, … Appetitlosigkeit, … Schlafstörungen“ (Lengsfeld 2008, 5) benannt. Mit den Worten des 14-jährigen MuT-Absolventen Lennart hört sich das so an: „Angst, Wut und Gewalt habe ich im Bereich Schule erlebt, weil ich gemobbt wurde. Ich bin richtig krank geworden davon - nicht nur so eingebildet krank oder so, sondern wirklich richtig krank mit Bauchschmerzen, Kopfschmerzen und so weiter. Die Mobber haben mich auch geschlagen, da bin ich wütend geworden und hab die geschlagen und dann dafür Ärger bekommen. Der Klassenlehrer war auch total unfähig und hat das alles mitbekommen, aber nichts gemacht. Ich selbst habe aus Wut so alle fünf Wochen mal geschlagen, also nicht so oft. Ich habe dann die Klasse in meiner Schule gewechselt. In der neuen Klasse habe ich Freunde. Wenn ich die Mobber sehe, ignoriere ich sie und sie mich.“ Um die für die unter Mobbing leidenden Kinder und Jugendlichen auftretenden Folgen, die von dem vorab zitierten Jugendlichen erwähnt, allerdings nicht abschließend aufgezählt worden sind, zu lindern, wurde das Move-up-Training (MuT) entwickelt. Das Konzept für die MuT-Gruppen wurde von Nordlicht e.V. in Hamburg erarbeitet, da dieser Jugendhilfeträger sowie der Verfasser seit vielen Jahren Soziale Trainingsgruppen für gewaltbereite und gewalttätige Jugendliche anbieten. Als Angebotserweiterung ist nunmehr das MuT-Training entstanden, das sich in drei Phasen (Integration, Move-up/ MuT-Phase, Kompetenzphase) teilt und ungefähr ein halbes Jahr dauert. In diesem Zeitraum findet eine wöchentliche Sitzung (Dauer: 2,5 Stunden) statt, die von zwei SozialpädagogInnen geleitet wird, die jeweils über eine zusätzliche Berufsqualifikation für die Durchführung von Sozialen Trainings verfügen. Im Rahmen des Move-up-Trainings sollen in mehreren Schritten nachhaltig wirksame Strategien gelernt sowie geübt werden, indem nach der Integrationsphase in der sogenannten Moveup-Phase die eine Opferrolle begünstigenden Faktoren benannt werden und durch die Aktivierung der jeweiligen Ressourcen mit individueller Gültigkeit Situationen und Momente der Selbstwirksamkeit geschaffen werden, die wiederum einen Transfer des in der Gruppe Gelernten in den Schul- und Lebensalltag ermöglichen sollen. Ein Anfang kann die Entscheidung für die Teilnahme am Training sein, da hier ein Forum geboten wird, in dem niemand Rechtfertigungen und Erklärungen für das widerfahrene Leid abgeben muss - die teilnehmenden jungen Menschen wissen, „es wird etwas passieren [nämlich aller Voraussicht nach eine Besserung] -, allerdings wird euch nichts passieren“ (Lorenzen/ Schawohl 2007, 379ff); mit dieser Gewissheit beginnt eine MuT-Gruppe. „Reden hilft - so wie hier“ Das Wissen, in der Gruppe ernst genommen und wertgeschätzt zu werden, erlaubt den Kindern und Jugendlichen, zuversichtlich und vor allem entspannter nach vorne zu blicken - auch und gerade auf die Institution Schule. Diese Zuversicht und diese Entspannung resultieren aus den Impulsen, die in der Gruppe, aus der Gruppe und durch die Gruppe bewirkt werden. Mit den Worten des 14-jährigen Jan heißt das konkret, dass er lernen wollte, „was ich machen kann, wenn ich geärgert uj 4 (2009) 161 zielgruppenorientierung werde. Ich erzähle es sonst immer nur meinen Eltern, und ich kann nicht immer auf Durchzug schalten - das ist auf Dauer nicht gut, das geht dann auf die Seele. Reden hilft - so wie hier. Ich wünsche mir, dass es in Zukunft nicht so oft Ärger gibt mit den anderen [MitschülerInnen]“. Einige Wochen später teilte er mit, „ich bin jetzt eigentlich sehr beliebt in meiner Klasse“, sodass die Annahme bestätigt wird, wonach derjenige, der sich „ein neues Verhalten vornimmt und dieses regelmäßig trainiert, sich dadurch langfristig … ändern [kann]“ (Conen 2008, 106). Zugleich exemplifiziert dieses Statement den Prozess, der ein Resultat der Befriedigung von wichtigen Grundbedürfnissen ist: Anerkennung, Zugehörigkeit, Sicherheit. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist unter anderem zurückzuführen auf die sozialpädagogische Gestaltung der kollektiven Affektivität sozialer Gruppen; damit soll erreicht werden, „das einzelne Gruppenmitglied … vorrangig emotional anzusprechen und es so für einen persönlichen Veränderungs- und Wachstumsprozess zu motivieren“ (Krüger 2007, 45). Zudem kann vermutet werden, dass ein Zuwachs an Selbstachtung, Selbstwertgefühl sowie Selbstvertrauen bis hin zum Selbstbewusstsein zu der Einschätzung Jans hinsichtlich seiner Beliebtheit geführt hat. Dieser wahrscheinliche Zuwachs ist durchaus bedeutsam, „gibt [es doch] kein größeres pädagogisches Unglück in der Entwicklung des Menschen, als wenn ihm diese Selbstachtung verlorengeht“ (Nohl 1927, 112). Zudem geht diese Bedürfnisbefriedigung einher mit der erlebten Erfahrung, dass das MuT-Team sich individuell mit einem Gruppenmitglied in Beziehung zu setzen versteht, da hier dem Verständnis gefolgt wird, eine erforderliche Leidenschaft für und in das Beziehungsverhältnis einzubringen - es ist „das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und zu seiner Form komme“ (Nohl 1957, 134). Die Beziehungsarbeit generiert im Kontext mit dem positiven Wirkungsfaktor Gruppe für den Teilnehmer Jan die seine Situation entspannende Feststellung, er sei „nachgiebiger und lockerer geworden. Ich hab auch keine Bauchschmerzen mehr. Wahrscheinlich hängt das mit dem Training zusammen“. Letzteres bleibt zwar im Spekulativen, benennt gleichwohl die vermuteten - und gewünschten - Auswirkungen der Trainings, da unter anderem sowohl das (Wieder)-Erlangen sozialer Handlungskompetenz als auch ein angemessenes Abgrenzungsverhalten eine dauerhafte Selbstwertstärkung bewirken soll. Jan scheint für sich nunmehr einen Zuwachs an Individualität sowie Personalität erleben zu können. „Individualität heißt dabei: Der Mensch ist als Individuum mit einem Innenleben ausgestattet, in dem er alles, was ihm widerfährt - Sorge und Freude, Angst und Hoffnung-, in der Weise der … Jemeinigkeit erlebt. Das heißt: Mag auch allen anderen Menschen vergleichsweise Gleiches wie mir zustoßen, so ist es doch nicht dasselbe. … Das inkludiert ebenso, dass ein Opfer entscheidet, wann es Gewalt erlebt hat und wie schwerwiegend es diese empfunden hat - nicht der Täter oder das Umfeld! “ (Jannan 2008, 15). Personalität bedeutet: Der Mensch als Person erfährt und sieht sich als ein Entscheidungszentrum, das selbst sein Handeln bestimmen will (Geissler 2008, 80) und sich selbstzufriedener fühlt, wenn er - wie Jan - dies auch - wieder - kann. Und genau diese Individualität und diese Personalität kann ein Gruppenmitglied sowohl als für sich gültig erleben und durch die Gruppe anerkannt bekommen als auch von den anderen Gruppenmitgliedern aus deren Sichtweisen eben als deren Gültigkeit erfahren und als für sie gültig anerkennen können. Aus 162 uj 4 (2009) zielgruppenorientierung diesem neu erlernten und/ oder wiedergefundenen Selbstvertrauen resultiert die Anerkennung durch andere, was wiederum weitere, durchaus auch außerschulische Erfolge nach sich zieht (vgl. Reiter 2008, 10ff). Mobbing in der Schule und die Folgen Die Zahlen müssen aufhorchen lassen: Aufgrund einer Langzeitstudie kann von ungefähr 500.000 Mobbingfällen pro Woche ausgegangen werden, was zu der Schlussfolgerung führt: „Mobbing ist die häufigste Gewaltform an deutschen Schulen“ (Jannan 2008, 22), und der Schulforscher Wolfgang Melzer von der TU Dresden gelangt zu dem Ergebnis, „die Schule hat heute so viele ungewollte Nebenwirkungen wie ein Medikament“ (Kosog 2008, 20). Einige dieser Nebenwirkungen können als direkte Folge des Phänomens Mobbing nach der Definition von Gollnick verstanden werden, der diesen Begriff auf den schulischen Kontext übertragen hat. Danach wird unter Mobbing „eine konfliktbelastete Kommunikation in der Klasse … oder zwischen Lehrerperson(en) und Schülern/ innen verstanden, bei der die angegriffene Person unterlegen ist und von einer oder mehreren Personen systematisch, oft und während längerer Zeit mit dem Ziel und/ oder dem Effekt der Ausgrenzung aus der Lerngruppe direkt oder indirekt angegriffen wird und dies als Diskriminierung empfindet. Dabei sind die Angriffe in verletzender Weise intendiert … und können sich gegen einzelne, aber auch gegen eine Gruppe richten und von einzelnen oder von einer Gruppe ausgehen“ (Gollnick 2008, 36f). Es sind „die leeren Gesichter der anderen, in die das Opfer blickt, wenn es Unterstützung erwartet, und die fehlende Zivilcourage, die die aggressiven Handlungen zu Mobbing werden lassen“ (Großmann 2006, 2), und es wird eine momentane Aussichtslosigkeit erkennbar. Situationen dieser Art mit den schädigenden Folgen haben die MuT-KursteilnehmerInnen beispielsweise wie folgt erlebt: • Verbreiten von Gerüchten, • Erleiden von Schlägen und Tritten, • Angespuckt werden, • Bedrohungen, zum Beispiel: „Melde dich nicht im Unterricht! “, • Nichteingreifen der Lehrkräfte, zum Beispiel mit der Begründung: „Wir haben so große Klassen“, • Schulschwänzen aufgrund von Angstgefühlen, • mehrmonatige Fehlzeiten und psychotherapeutische Behandlung. Mit den Worten des 15-jährigen André hat er das Verbreiten von Gerüchten gegen seine Person dahingehend wahrgenommen, dass zunächst „in meiner Klasse und dann in der Nebenklasse über mich gesprochen worden ist. Danach war das dann im ganzen Gang zu hören, und dann konnte ich das in den Pausen auch auf dem Schulhof von Leuten hören, die ich sonst gar nicht kannte.“ Solche Gerüchte oder Bloßstellungen im Klassenverband verursachen täglich erwartete Angstsituationen (vgl. Theisen 2007), denen nach unterschiedlich lange ausgehaltenen Demütigungsphasen manchmal durch Fernbleiben vorübergehend entronnen werden soll - gleichwohl wird die Dynamik eines Mobbingprozesses dadurch nicht per se beendet, sondern allenfalls unterbrochen. Ist die Rolle des Sündenbocks einmal vergeben, „geht es automatisch weiter: Das Mobbing-Opfer bekommt immer häufiger Ärger - auch ohne konkreten Anlass. Die Mitschüler … schikanieren das Opfer dann irgendwann aus Gewohnheit“ (Holighaus 2004, 63). Hier müsste seitens der Schule interveniert werden, am besten derart, dass ein sofortiges Unterbinden (vgl. Spiewak 2008, 38), uj 4 (2009) 163 zielgruppenorientierung gleichsam ein „aktives Eintreten gegen Mobbing“ (Koch 2007, 55) erfolgt. Somit klingt die Maxime an, dass Schule „als pädagogische Institution Einfluss auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler nehmen und auf diesem Wege zum Abbau von Gewalt beitragen [kann]“ (Hurrelmann/ Bründel 2007, 133). Bedauerlicherweise wird diese Maxime nicht so selbstverständlich umgesetzt, wie es seitens der Schülerschaft erwartet wird. Durch die Ignoranz und eine ausbleibende Intervention seitens der Lehrkräfte verstärken diese „in der Regel die Aktivitäten der Täter. Sie tragen aber auch mit dazu bei, dass sich beim Opfer Gefühle wie Wut und Rache entwickeln“ (Gebauer 2007, 24), was einer der MuT-AbsolventInnen mit seinen Worten so bestätigt: „Ich hatte totale Wut auf die Mobber. Am liebsten würde ich mich rächen. Ich habe mich ohnmächtig gefühlt, weil es zu viele waren. Keiner hat mir geholfen, keiner konnte mir helfen - nicht mal die Erwachsenen. Die Lehrer hatten Angst vor den Eltern und wollten deshalb einfach nichts machen. Irgendwann konnte ich dann nicht mehr und bin gegangen. Leider musste ich gehen und nicht die anderen. Mein Psychiater hat mir dann gesagt, dass ich freiwillig gegangen bin, weil sich die Situation nicht mehr mit meiner Würde vereinbaren ließ. … Vier Jahre hat das alles gedauert. Ich würde die [Mobber] am liebsten mal an die Unantastbarkeit der Würde des Menschen erinnern. Es gibt keine Entschuldigung, die ich akzeptieren würde.“ Hier wird die Verbitterung und momentane Unversöhnlichkeit des Jugendlichen unterstrichen. Sollte nun das Opfer an sich arbeiten, um weniger Angriffsfläche zu bieten? „Völlig falsch“, urteilt die Wissenschaftlerin Mechthild Schäfer von der Universität München, „nicht das Opfer soll zur Therapie, ändern muss sich allein der Täter“ (Jacobs 2007, 14) - so lautet der Auftrag an die Lehrerschaft. Gleichwohl überlegen die TeilnehmerInnen der MuT-Gruppen gemeinsam, mit welchen Strategien sie zukünftig eventuellen Mobbing-Situationen entgehen können, um den oben genannten Drangsalierungen nicht noch einmal ausgesetzt zu sein. Zugleich soll dadurch das bisherige Folgeverhalten der TeilnehmerInnen durch neu erlernte Verhaltensstrategien abgelöst werden. Das ist vor dem Hintergrund einer von Olweus durchgeführten und von Bannenberg/ Rössner zitierten Studie von besonderer Wichtigkeit: Danach „gaben nur 31,3 Prozent der Betroffenen an, sie hätten sich einem Lehrer oder einer Lehrerin mitgeteilt; mit ihren Eltern sprachen 51,6 Prozent der Opfer. Nur 14,4 Prozent aller Schülerinnen und Schüler vermerkten ein häufiges oder regelmäßiges Einschreiten der Lehrer(innen) gegen das aggressive Verhalten“ (2006, 33). Bei diesen Statistiken ist zu bedenken: „Mobbing, Hänseleien und die üblichen Streitereien, die den größten Teil schulischer Aggressionen ausmachen, sind schwer zu messen“ (Reiter 2008, 34). Demzufolge bleiben sie nicht nur statistisch unberücksichtigt, sondern finden eben auch aufgrund der im Verborgenen bleibenden Aktivität nicht die angemessene sowie unabdingbare Aufmerksamkeit, sodass die Erforderlichkeit eines auf Akzeptanz und Anerkennung beruhenden Beziehungsverhältnisses erkennbar wird, das zudem Sicherheit und Zugehörigkeit gewährleistet. „Hier kann man sich wohlfühlen“ Es sind zum einen die ganz konkreten Tipps der Gruppe und des MuT-Teams, die jedem/ jeder TeilnehmerIn zu einem selbstbewussteren Auftreten verhelfen, zum anderen ist es das Wissen um die erlebte Sicherheit innerhalb der Trainingsgruppe, da ohne jegliche Erforderlichkeit für Recht- 164 uj 4 (2009) zielgruppenorientierung fertigungen oder Erklärungszwänge den jungen TeilnehmerInnen Gehör und Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Lediglich in Parenthese sei hier angemerkt, dass ein vertrauenswürdiges Beziehungsangebot und das Wissen um die Belastbarkeit einer solchen Beziehung gleichsam „als ein Schutzfaktor [gilt], welcher geeignet ist, einen Jugendlichen vor einer … Tat zurückzuhalten“ (Robertz/ Wickenhäuser 2007, 123). Dieser Aspekt sollte bei der Betrachtung dieser Thematik nicht unterschätzt werden. Insbesondere hat sich für die GruppenteilnehmerInnen das Gespräch als hilfreicher Bestandteil des Trainings erwiesen. Einhergehend mit den Gesprächen werden soziale Kompetenzen vermittelt - und zwar durch die Gruppe selbst. Den MuT- TeilnehmerInnen bietet die Gruppe folgende Profitierungschancen: • die Erkenntnis, dass sie mit ihren Problemlagen nicht alleine sind, • Unterlegenheitsgefühle und Selbstzweifel können einer Realitätsprüfung unterzogen werden, • Möglichkeiten des interpersonalen Lernens mit Gleichaltrigen und durch Gleichaltrige, • Gruppenrahmen als Ort der Sicherheit und des Vertrauens (vgl. Schaller 2005, 21). Dieses Setting lebt vom gesprochenen Wort und will dadurch Veränderungsprozesse initiieren, will das Handlungsrepertoire erweitern, will den jungen Menschen dazu motivieren, dass er „über seine emotionalen Erlebnisse spricht, … über seine Bewertungen, Wünsche und Ziele und dass er sich über sie klarer wird oder sich wenigstens deutlich um Klärung bemüht“ (Weinberger 1995, 84), indem zukunftsorientiert argumentiert wird. Gleichwohl gelingt dieser Brückenschlag eben mit dem Ausgangspunkt bei den zurückliegenden Mobbingerfahrungen in der Schule, da das Sprechen über diese konkreten Erlebnisse zum Verstehen und Verarbeiten aus Sicht der TeilnehmerInnen einen wichtigen Beitrag leistet. Das Erlangen eines angemessenen Abgrenzungsverhaltens erfolgt beispielsweise durch das konkrete Erlernen von Handlungsstrategien, die unter anderem den Anspruch inkludieren, eigene Grenzen definieren und durchsetzen zu können (vgl. Erb 2007, 118). Trotz der zurückliegenden leidvollen Erfahrungen bewirkt die Teilnahme an der MuT-Gruppe für die jungen Menschen durchaus Momente der Entspannung und Behaglichkeit, wie es ein 15-Jähriger ausdrückt: „Hier kann man sich wohlfühlen und freuen, und es macht Spaß. Hier sind Freunde mit ähnlichen Erfahrungen, und man kann sich verabreden, wenn man möchte.“ Der gleichaltrige Rico ergänzt, es gebe „keinen Mobbingdruck, und es ist eine schöne Atmosphäre, und endlich wird mir zugehört und ich werde verstanden“. Hier wird die entlastende Funktion des gesprochenen Wortes deutlich. Durch die erfahrene Wertschätzung sowie die gespürte Annahme wird eine Stimmung generiert, „in der Angst und Spannung und die daraus resultierenden … Fluchtgedanken abgebaut werden. Angesichts der Bejahung … können sich Selbstverneinung und Selbstverachtung des Klienten auf Dauer nicht halten, ebenso wenig seine Angst“ (Weber 2005, 109f). So kann ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit initiiert werden, das für Yannick (15 Jahre) eine Offenheit mit dem guten Gefühl erlaubt: „Ich muss meine Maske nicht mehr tragen.“ Dieses neu gewonnene Selbstvertrauen, dieses Mehr an Zutrauen und Sicherheit wird durch anerkennendes Lob durch das Team und die Gruppe für Yannick unterstützt. Zuteil gewordenes Lob „ist ein empfindliches Moment der Kommunikation. … Es gilt nur, wenn der uj 4 (2009) 165 zielgruppenorientierung Lobende dem Gelobten etwas gilt“ (Flitner 2004, 105). Flitner betont die Bedeutung dieses Instruments, um ergänzend auf den Tadel zu verweisen, der - bezogen auf den hier betrachteten Kontext - analog als eine wohlmeinende Kritik im Sinne einer weiterführenden Unterstützung zu verstehen ist. Tadel setzt „ein persönliches Verhältnis voraus, eine Anerkennung des Tadelnden [hier: wohlmeinenden Kritikers; Anm. d. Verf.], mindestens seiner Definitionsmacht, ohne die der Tadel zum einen Ohr herein- und zum anderen hinausfliegen würde. … Pädagogisch brauchbar ist er nur …, insofern er die Aufforderung und Möglichkeit enthält, das Getadelte zu korrigieren; insofern er also nicht entmutigt, sondern den Weg zur Verbesserung weist“ (ebd.). Diesbezüglich offeriert die MuT-Gruppe ein Forum, bei dem die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen sowohl ihre Bedürfnisse benennen und durch neue Kontakte bejahen und ausleben können bei der gleichzeitigen Möglichkeit, individuelle oder situative Einschränkungen als solche verstehen und anerkennen und diese Erfahrungen wiederum in ihren (Schul-)Alltag integrieren zu können. Wenn den TeilnehmerInnen vermittelt werden kann, „guten Gewissens zu ihren individuellen Grenzen, Bedürfnissen und Werten zu stehen, [dann] mobben sie nie und werden niemals gemobbt“ (Juul 2008, 121) - so die äußerst zuversichtliche Vermutung des dänischen Familientherapeuten. Inwieweit diesem absoluten Tenor gefolgt werden kann, sei dahingestellt, gleichwohl darf eine optimistische Betrachtung als angebracht gelten, da die aktuellen Kursauswertungen des Verfassers (Schawohl 2008) eine Tendenz bestätigen, die mit Torbens (14 Jahre) ausführlichen Worten - und erneut ohne Maske - so lautet: „Früher habe ich mir eine Maske aufgesetzt, aber jetzt nicht mehr. Früher ja, weil ich da nicht so selbstbewusst war und mich weniger wehren konnte. Ich hab mich versteckt und meine schulischen Leistungen haben sich verschlechtert. Meine Maske war die Unsichtbarkeit, ich wollte von den anderen nicht gesehen werden. Jetzt, seit dem Training, ist mir das egal; ich bin selbstbewusster geworden und bin so o. k., wie ich bin. Ich hab jetzt auch Freunde, die mich so akzeptieren, wie ich bin. Jetzt brauch ich die Maske nicht mehr.“ Fazit: Die Teilnahme an einer MuT-Gruppe vermittelt Anerkennung, Zugehörigkeit sowie Sicherheit und verschafft den TeilnehmerInnen nachhaltige Momente der Entspannung und Entlastung - das stimmt zuversichtlich und gibt allen Beteiligten ein Gefühl von anhaltender Zufriedenheit. Literatur Bannenberg, B./ Rössner, D., 2006: Erfolgreich gegen Gewalt in Kindergärten und Schulen. München Beuster, F., 2006: Die Jungenkatastrophe. Reinbek bei Hamburg Conen, H., 2008: Sein und werden. In: Menschen - das magazin, H. 4, S. 106ff Dake, S., 2007: Psycho-Terror auf dem Schulhof. In: Hamburger Morgenpost vom 25. 9. 2007, S. 2f Erb, H. H., 2007: Gewalt in der Schule. Wien Flitner, A., 2004: Konrad, sprach die Frau Mama … Weinheim/ Basel Gebauer, K., 2007: Mobbing in der Schule. Düsseldorf/ Zürich Geissler, E. E., 2008: Der einzelne und die Gesellschaft. In: MUT, 43. Jg., H. 2, S. 78 - 87 Gollnick, R., 2008: Schulische Mobbing-Fälle. Analysen und Strategien. Berlin Großmann, C., 2006: Mobbing unter Schülerinnen und Schülern. Hamburg Holighaus, K., 2004: Zoff in der Schule. Weinheim/ Basel Hurrelmann, K./ Bründel, H., 2007: Gewalt an Schulen. Weinheim/ Basel Jacobs, C., 2007: … und raus bist du! In: Focus- Schule, H. 1, S. 8 - 18 Jannan, M., 2008: Das Anti-Mobbing-Buch. Weinheim/ Basel 166 uj 4 (2009) zielgruppenorientierung Juul, J., 2008: Nein aus Liebe. München Koch, S., 2007: Problemschüler: Die Lehrer sind gefragt. In: Psychologie heute compact, H. 16, S. 55 - 57 Kosog, S., 2008: Die neue Schule. In: Süddeutsche Zeitung Wissen, H. 10, S. 18 - 27 Krüger, G., 2007: Arbeit mit emotionalen Prozessen. In: standpunkt: sozial, H. 2, S. 44 - 50 Lengsfeld, D., 2008: Mobbing in der Schule. http: / / wiki.mobbing-gegner.de/ Mobbing/ Mobbingin-der-Schule, 18. 07. 2008 Lorenzen, U./ Schawohl. H., 2007: „Es wird etwas passieren - allerdings wird euch nichts passieren! “ In: Unsere Jugend, 59. Jg., H. 9, S. 379 - 385 Michaelsen-Gärtner, B./ Franze, M./ Paulus, P., 2007: Mobbing? Nicht an unserer Schule! Lüneburg Nohl, H., 1957: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Frankfurt am Main Nohl, H., 1927: Jugendwohlfahrt. Sozialpädagogische Vorträge. Leipzig. Zitiert nach: Flitner, A., 1992: Reform der Erziehung. München, S. 166f Paulus, P., 2007: Mobbing unter Schülern. In: forum schule, 21. Jg., H. 1, S. 32 - 34 Reiter, A. K., 2008: Nie wieder schüchtern! In: Focus-Schule, H. 5, S. 10 - 20 Reiter, A. K., 2008: Vertragt euch wieder! In: Focus-Schule, H. 3, S. 32 - 36 Robertz, F./ Wickenhäuser, R., 2007: Der Riss in der Tafel. Heidelberg Schaller, R., 2005: Wege, an sie ranzukommen. Selbstmanagement- und Psychodrama-Training mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen. Weinheim/ München Schawohl, H., 2006: Opfer werden ist nicht schwer, Opfer sein dagegen sehr. In: standpunkt: sozial, H. 1, S. 72 - 78 Schawohl, H., 2008: Fragebogen nach Beendigung der MuT-Gruppe. Typoskript Spiewak, M., 2008: Falsche Panik. In: DIE ZEIT vom 1. 10. 2008, S. 37f Theisen, M., 2007: Täglich die Angst. München Weber, W., 2005: Wege zum helfenden Gespräch. München Weinberger, S., 1995: Klientenzentrierte Gesprächsführung. Weinheim/ Basel Der Autor Dr. Horst Schawohl Nordlicht e.V. Rahlstedter Straße 68 22149 Hamburg schawohlhorst@aol.com Wir sind eine Internatseinrichtung im Spitzensport für Leistungssportler im Alter von 15 -18 Jahren in Baden-Württemberg. Für die persönliche Betreuung der Sportler suchen wir eine pädagogische Fachkraft (m/ w) in Vollzeitbeschäftigung. Die Arbeitsstelle erfordert einen Einzug (mit Partner(in), ohne Kinder) in unsere Betreuerwohnung im Internat. Wenn Sie eine pädagogische Ausbildung und Sportaffinität besitzen sowie Erfahrung und Freude im Umgang mit Jugendlichen haben, senden Sie bitte Ihre Bewerbungsunterlagen unter Chiffre 1308 an: ConTex - Conception & Text Frau Renate Kienzler Postfach 1086 71610 Ludwigsburg E-Mail: info@contexlb.de Anzeige
