unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Zwischen Sucht und Surfen - Wo bei Computerspielen die Faszination aufhört und die Pathologie beginnt
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Kai W. Müller
Was vor einigen Jahren noch scherzhaft als "Internet-Addiction" bezeichnet wurde, entwickelt sich mittlerweile mehr und mehr zu einem ernst zu nehmenden Problem. Nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, auch in Bezug auf klinisch- und entwicklungspsychologische Aspekte stellt die Computerspielsucht eine neue Herausforderung für PsychologInnen, KlinikerInnen und PädagogInnen dar.
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204 uj 5 (2009) Unsere Jugend, 61. Jg., S. 204 - 212 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zwischen Sucht und Surfen - Wo bei Computerspielen die Faszination aufhört und die Pathologie beginnt Kai W. Müller Was vor einigen Jahren noch scherzhaft als „Internet-Addiction“ bezeichnet wurde, entwickelt sich mittlerweile mehr und mehr zu einem ernst zu nehmenden Problem. Nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, auch in Bezug auf klinisch- und entwicklungspsychologische Aspekte stellt die Computerspielsucht eine neue Herausforderung für PsychologInnen, KlinikerInnen und PädagogInnen dar. suchtprävention Ein Blick nach Südkorea verdeutlicht dabei, dass es sich bei diesem aktuell noch mit dem Hauch des Ominösen, wenig Greifbaren behafteten Phänomen des exzessiven Computerspielverhaltens weder um ein Hirngespinst der westlichen Wohlstandsgesellschaft handelt noch um eine Scharlatanerie chronisch unterbeschäftigter PsychotherapeutInnen oder SuchtberaterInnen. Andernfalls wäre schwer zu erklären, warum die südkoreanische Regierung die Computerspielsucht als nationales Gesundheitsproblem deklariert hat und unmittelbar mit der Einrichtung spezifischer Fachkliniken reagierte (Faiola 2006). Internationale Untersuchungen zur Epidemiologie dieses Störungsbildes verdeutlichen zweierlei: Erstens geht aus den teilweise erschreckend hohen Prävalenzraten (im Alterssegment der 13bis 18-Jährigen bis zu 12 %, vgl. Batthyany/ Benker/ Müller/ Wölfling 2009) hervor, dass weder die Fachwelt noch die Gesellschaft als Gesamtsystem die Augen vor der Existenz dieses Störungsbildes verschließen kann. Zweitens verdeutlichen die teilweise eklatant voneinander abweichenden Prävalenzzahlen, welche wohl treffender als Prävalenzschätzungen zu bezeichnen wären, dass die internationale Forschung zu diesem Thema noch zu ungenügend abgestimmt ist bzw. eine übergreifende Einigung bezüglich diagnostischer, nosologischer und phänomenologischer Charakteristika der Computerspielsucht noch nicht realisiert werden konnte. Was genau ist nun unter Computerspielsucht eigentlich zu verstehen? Aufgrund der fehlenden Berücksichtigung dieser Störungsform in den internationalen Klassifikationssystemen psychischer Störungen (DSM-IV-TR und ICD-10, vgl. Saß/ Wittchen/ Zaudig u. a. 2003; Dilling/ Mombour/ Kai W. Müller Jg. 1979; Diplom-Psychologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grüsser- Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht an der Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg- Universität Mainz uj 5 (2009) 205 suchtprävention Schmidt 2000, Kapitel V) und der damit verwehrten Anerkennung der Computerspielsucht als eigenständiges klinisches Störungsbild existieren bislang keine verbindlichen Leitlinien, was die Diagnostik der Computerspielsucht anbelangt. Eine unmittelbare Folge davon ist, dass ForscherInnen unterschiedlicher Fachrichtungen in ihrer Definition computerspielsüchtigen Verhaltens deutlich voneinander abweichen. Es besteht Uneinigkeit darüber, ob pathologisches Computerspielverhalten nun als Störung der Impulskontrolle aufzufassen ist, ob es lediglich ein sekundärer Ausdruck einer zugrunde liegenden sozialen Phobie ist oder ob es sich um eine Abhängigkeitserkrankung aus dem Spektrum der Verhaltenssüchte handelt (vgl. Gillespie 2002, 249ff). Eine weitere Konsequenz ergibt sich aus der unterschiedlichen Operationalisierung des Störungsbildes. Eine akkurate Diagnostik hängt nun einmal im entscheidenden Maße davon ab, inwieweit klare Richtlinien vorhanden sind, welche in der Lage sind, das interessierende Phänomen, in diesem Fall das pathologische Computerspielverhalten, stimmig abzubilden. Es liegt auf der Hand, dass VerfechterInnen der These, dass pathologisches Computerspielverhalten als Ausdruck einer Impulskontrollstörung angesehen werden soll, andere diagnostische Kriterien heranziehen als WissenschaftlerInnen, welche eher inhaltliche Parallelen zu Abhängigkeitserkrankungen als zentral erachten. Die derzeitige allgemeine Verwirrung aufgrund der bereits erwähnten abweichenden Prävalenzangaben, welche einmal auf 3 % (vgl. Hahn/ Jerusalem 2000) und dann wieder auf 20 % (vgl. Griffiths/ Hunt 1998, 475ff) geschätzt werden, lässt sich somit gut nachvollziehen. Aktuelle Forschungsergebnisse geben jedoch Grund zu der Hoffnung, dass sich die Debatte über die Zuordnung des Störungsbildes möglicherweise bald schon geklärt haben wird. In einer Reihe von neurowissenschaftlichen Untersuchungen gelang der Nachweis, dass pathologische ComputerspielerInnen auf bestimmte Reize, welche mit Computerspielen assoziiert waren, mit vergleichbaren kortikalen Verarbeitungsmustern reagierten wie PatientInnen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankung (bspw. Alkohol, Cannabis) auf entsprechende drogenassoziierte Reize. Die mittels Elektroenzephalogramm (EEG) abgeleiteten Hirnströme lassen darauf schließen, dass pathologische ComputerspielerInnen auf entsprechende Reize mit einer emotional tieferen Verarbeitung reagieren, welche im Sinne des Modells der Anreizhervorhebung erklärt werden kann (vgl. Robinson/ Berridge 2003, 25ff). Diese Unterschiede ließen sich nicht nur im Vergleich zu Personen finden, welche sich selten mit Computerspielen beschäftigen. Sie waren ebenfalls vorhanden, wenn pathologische SpielerInnen mit regelmäßigen IntensivspielerInnen (jedoch ohne zugrunde liegendes pathologisches Spielverhalten) verglichen wurden. Kurz zusammengefasst kann konstatiert werden, dass für pathologische SpielerInnen ein entsprechender Reiz, sagen wir der Screenshot einer Spielszene, von emotional weit übergeordneter Bedeutung ist als für eine Person, die sich lediglich als Freizeitergänzung mit Computerspielen auseinandersetzt - regelmäßig zwar, jedoch nicht dysfunktional bzw. pathologisch. Dieselben Auffälligkeiten in der kortikalen Reizverarbeitung konnten bereits vor mehreren Jahren für den Bereich der stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen nachgewiesen werden. Somit scheint sich der wissenschaftliche Konsens derzeit dahingehend zu entwickeln, pathologisches Computerspielverhalten als Abhängigkeitserkrankung aus dem Spektrum der Verhaltenssüchte, d. h. nicht-stoffgebundener Süchte, aufzufassen. 206 uj 5 (2009) suchtprävention Vor diesem Hintergrund entwickelte die Forschergruppe um Grüsser (vgl. Thalemann/ Albrecht/ Thalemann/ Grüsser 2004, 226ff) einen Fragebogen, welcher eine klinische Identifizierung computerspielsüchtigen Verhaltens ermöglichen sollte. Die einzelnen diagnostischen Fragen dieses Instruments orientierten sich inhaltlich an den gängigen Kriterien stoffgebundener Abhängigkeitserkrankungen, umfassten also unter anderem Aspekte des Craving (ein vom Betroffenen als unkontrolliert empfundenes drängendes Verlangen nach Computerspielen), der Toleranzentwicklung (eine im Verlauf der Pathologieentwicklung fortschreitende Dosiserhöhung, sprich Spielzeitensteigerung) und Entzugssymptome. Letzteres Kriterium beschreibt auftretende aversive Erscheinungen bei Verhinderung der Verhaltensausführung, welche sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren können, also beispielsweise kognitiv (z. B. Konzentrationsdefizite), emotional (z. B. depressive Verstimmungen), psychosomatisch (z. B. Verschiebungen des Schlaf-Wach- Rhythmus) oder behavioral (z. B. aggressive Ausbrüche). Der erwähnte Fragebogen konnte mittlerweile ergänzt und optimiert werden und steht nun als validiertes klinisch-diagnostisches Instrument zur Verfügung (Screener zum Computerspielverhalten, CSV-R- Screener, vgl. Wölfling/ Müller/ Beutel 2009). Unter Verwendung des CSV-R- Screeners konnten in verschiedenen epidemiologischen Untersuchungen an Kindern und Jugendlichen sehr stabile und verlässliche Prävalenzen bezüglich computerspielsüchtigen Verhaltens ermittelt werden, welche sich bei ca. 1.5 bis 3.0 % belaufen. Unter Berücksichtigung missbräuchlichen Verhaltens ergeben sich höhere Werte von 8.0 bis 12.3 % (vgl. Thalemann/ Albrecht/ Thalemann/ Grüsser 2004; Wölfling/ Müller/ Beutel 2009). Doch welche Besonderheiten und Defizite weisen Jugendliche mit pathologischem Computerspielverhalten im Einzelnen auf? An einer groß angelegten Studie, welche 1.068 Wiener SchülerInnen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren umfasste (Batthyány/ Benker/ Müller u. a. 2009), konnte ein erster Überblick zum Medienverhalten pathologischer und nicht-pathologischer ComputerspielerInnen gewonnen werden. So konnte gezeigt werden, dass es sich bei pathologischen NutzerInnen vornehmlich um männliche Jugendliche handelte (ca. 74 % unter Berücksichtigung missbräuchlicher und abhängiger SpielerInnen), deren durchschnittliche wöchentliche Spielzeit sich auf 12 Stunden beziffern ließ. (Dieser Wert stellt ein aggregiertes Maß aus Spieldauer an einem Werktag sowie dem gesamten Wochenende dar.) Im Vergleich hierzu weisen Jugendliche, die als regelmäßige, jedoch nicht pathologische ComputerspielerInnen klassifiziert wurden (in diese Kategorie fielen insgesamt 59 % der Befragten), deutlich geringere durchschnittliche Spielzeiten von 6.9 Stunden auf. Als regelmäßige SpielerInnen wurden dabei all jene Jugendliche eingestuft, welche angaben, mindestens zwei bis drei Mal pro Woche Computerspielen nachzugehen, ansonsten jedoch kein klinisches Kriterium für ein suchtartiges Verhalten erfüllten. Weitere bedeutsame Unterschiede zwischen pathologischen und regelmäßigen ComputerspielerInnen fanden sich in einem früheren selbstberichteten Alter, in welchem der/ die Jugendliche damit begann, Computerspiele regelmäßig zu nutzen (8.6 versus 9.3 Jahre), der längsten jemals ohne Unterbrechung gespielten Zeit (10.4 versus 6.1 Stunden) sowie der Bevorzugung von Online-Rollenspielen (62 % versus 49 %). Neben diesen rein deskriptiven Befunden konnte festgestellt werden, dass pathologisch spielende Jugendliche erhöhte Werte aufwiesen in Bezug auf uj 5 (2009) 207 suchtprävention • Schulängstlichkeit, • empfundenen Leistungsdruck, • die Tendenz, wegen Computerspielen die Schule zu schwänzen, • psychosomatische Schmerzsymptome und • Konzentrationsdefizite. Diese exemplarisch referierten Ergebnisse demonstrieren den deutlich psychopathologischen Charakter computerspielsüchtigen Verhaltens und belegen eine ausgeprägte Mehrfachbelastung bezüglich verschiedener psychosozialer und psychosomatischer Aspekte. Ähnliche Prävalenzraten und psychosoziale Belastungsfaktoren wurden an unabhängig voneinander befragten Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren in Nordrhein-Westfalen, Berlin und Saarbrücken gefunden (Wölfling/ Thalemann/ Grüsser 2007). Somit scheint geklärt, dass die pathologische Nutzung von Computerspielen eindeutig als Problem unter heutigen Jugendlichen anzusehen ist. Doch worin genau liegen die Gründe hierfür? Aus den oben aufgeführten Untersuchungen geht hervor, dass 83 % der befragten Jugendlichen angeben, einen eigenen PC zu besitzen. Doch eine verfügbare multimediale Ausstattung kann sicherlich nicht als ursächlich für die Ausbildung pathologischer Nutzungsgewohnheiten angesehen werden. Bereits in den 80er Jahren besaßen viele Jugendliche ein eigenes Fernsehgerät. Ist deswegen eine Störung namens Fernsehsucht zu einem Problem geworden? Ganz sicher nicht. Auch die Nutzung von Computerspielen ist keine wirkliche Neuheit. Bereits Anfang der 80er Jahre waren Computerspiele populär und fanden eine hohe Verbreitung unter Jugendlichen. Trotzdem stellt sich erst heutzutage, mehr als 25 Jahre später, das Problem der Computerspielsucht. Der Grund hierfür ist demnach am ehesten in der Programmierung neuer Formen von Computerspielen zu sehen, welche im Onlinemodus über das Internet gespielt werden. Sogenannte MMORPGs (Massive Multiplayer Online Role Playing Games, oder einfach kurz Online-Rollenspiele) scheinen bei weitem die größte Anziehungskraft auf die jugendlichen User auszuüben und ein ausgeprägtes Potenzial zur (Mit-)Verursachung eines pathologischen Nutzungsmusters in sich zu bergen. Gibt es auch mannigfaltige Vertreter dieses Spielgenres, so ähnelt sich das zugrunde liegende Spielprinzip doch erheblich. In zumeist augenfällig archaisch gestalteten Fantasiewelten haben SpielerInnen, die theoretisch aus allen Ländern der Welt stammen können, die Möglichkeit, sich einen virtuellen Spielcharakter, den sogenannten „Avatar“, nach eigenen Vorstellungen zu kreieren, mit welchem sie dann durch die unendlich erscheinenden virtuellen Spielwelten streifen können, auf der Suche nach zu bestehenden Aufgaben, zu lösenden Rätseln oder sonstigen Herausforderungen. Je mehr Aufgaben erfolgreich gelöst werden, desto mehr Gegenstände, welche im weiteren Verlauf des Spiels von Bedeutung sind, eignet sich der/ die AvatarIn an und desto mehr Fähigkeiten vereinigt er bzw. sie auf sich. Dabei sind die Spiele so angelegt, dass sich gerade zu Anfang, wenn der/ die AvatarIn in seinen/ ihren Möglichkeiten noch sehr eingeschränkt ist, schnell erste Erfolgserlebnisse ergeben. Der/ die neue SpielerIn löst eine Aufgabe nach der anderen erfolgreich und beobachtet dabei, wie seine/ ihre Spielfigur sukzessiv an Stärke und (virtuellem) Prestige gewinnt. Diese direkte Rückmeldung von Erfolgserlebnissen scheint einen ersten potenziell suchterzeugenden Einfluss auszuüben. Gerade in einer frühen Entwicklungs- 208 uj 5 (2009) suchtprävention phase, zwischen Kindheit und beginnender Adoleszenz, müssen Kinder erst lernen, was viele Erwachsene bereits beherrschen, nämlich das Prinzip des Belohnungsaufschubs (Delay of Gratification, vgl. Mischel/ Shoda/ Rodriguez 1989, 933ff). Dieses Prinzip besagt, dass Individuen nicht bei allen Handlungen mit einer unmittelbaren Belohnung rechnen müssen, sondern oftmals zunächst auf längerfristigen Erfolg ausgerichtete Planungen initiieren. Der Erfolg bzw. die spätere Belohnung existiert bei solchen Aufgaben zunächst lediglich als mentale Repräsentation im Kopf der Handlungsausführenden. Ein solches Prinzip ist jedoch in der virtuellen Welt der Online- Rollenspiele weitestgehend unnötig. Der/ die SpielerIn stellt sich gemeinhin einer konkreten Aufgabe, welche er/ sie entweder löst oder eben nicht. Wird sie auf Anhieb gelöst, erhält er/ sie ohne weitere Umstände eine Belohnung. Versagt er/ sie, kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt der Versuch wiederholt werden. In jedem Fall kommt es bei intensivem Kontakt mit dem Spiel zu einer Erhöhung der wahrgenommenen spielbezogenen Kompetenzerwartung, was sich direkt belohnend auf den/ die NutzerIn auswirkt. Eine solche Erfahrung hat für nicht-pathologische SpielerInnen keine weiteren Konsequenzen. Bei pathologischen SpielerInnen hingegen stellt sie eine zentrale Komponente zur weiteren Suchtentwicklung dar. Ein Grund hierfür ist in der insgesamt herabgesetzten allgemeinen Kompetenzerwartung zu sehen, welche bei pathologischen SpielerInnen in empirischen Untersuchungen unter Verwendung der Skala zur Erfassung der Allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung (vgl. Schwarzer/ Jerusalem 1995) nachgewiesen werden konnte (vgl. Müller/ Wölfling in Vorbereitung zur Publikation). Die Allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung (bzw. Kompetenzerwartung) stellt die Einschätzung eines Individuums hinsichtlich seiner persönlichen Ressourcen und Fähigkeiten im Umgang mit Schwierigkeiten und Handhabung von allgemeinen Fährnissen des täglichen Lebens dar. Ein/ e SpielerIn mit einer verminderten Kompetenzerwartung, der bzw. die die unmittelbar belohnend wirkenden Effekte im Umgang mit Online- Rollenspielen spürt, macht somit im virtuellen Raum eine positive und damit immens verhaltensverstärkende Erfahrung, die im realen Leben oftmals verwehrt geblieben ist. Ein erster Schritt, der die Ausbildung einer Immersion begünstigt (von Immersion spricht man, wenn das reale Leben in der Wahrnehmung der SpielerInnen sukzessiv an Bedeutsamkeit verliert und in der Priorität hinter dem virtuellen Leben zurückbleibt). Im weiteren Verlauf des Spiels verändert sich dieser implementierte Verstärkerplan jedoch. Die Aufgaben werden komplexer, nehmen mehr Zeit in Anspruch. Zwar hat sich die Stärke der Avatarin/ des Avatars im Vergleich zum Anfangsstadium des Spiels deutlich entwickelt, dennoch ist es ihm bzw. ihr ab einem gewissen Punkt nicht mehr möglich, die gestellten Herausforderungen (im Spielerjargon „Quests“ genannt) alleine zu bewältigen. Hier jedoch greift ein weiteres Prinzip von Online-Rollenspielen, welches dieses Genre fundamental von Computerspielen der früheren Generation abhebt. Der/ die SpielerIn agiert nicht mehr allein in den virtuellen Weiten des Online-Universums. Um sich herum weiß er/ sie tausende weitere reale MitspielerInnen, deren Reaktionen unberechenbarer sind als die jedes programmierten Computerkontrahenten. Aus Analysen zum Spielspaß von Computerspielen ist bekannt, dass es gerade das Wissen um reale MitspielerInnen ist, welches den Spielspaß ungemein erhöht (vgl. Vorderer 2001, 247ff) bzw. in extremer Ausprägung suchtartiges Verhalten auszulösen vermag. uj 5 (2009) 209 suchtprävention Doch nicht nur die Existenz realer MitspielerInnen verursacht eine gewisse Sogwirkung. Insbesondere die direkte kooperative Interaktion ist es, welche für bestimmte Spielertypen oftmals den (pathologischen) Reiz von Online-Rollenspielen ausmacht. Wie beschrieben, sind gewisse Herausforderungen auf fortgeschrittenen Spielleveln nicht mehr aus eigener Kraft zu meistern. Somit obliegt es dem/ der SpielerIn, sich mit anderen MitspielerInnen zu organisieren, gemeinsam ein Ziel zu verfolgen und als Gruppe Gleichgesinnter Aufgaben zu bewältigen, die alleine unlösbar wären. Solche Spielergruppen, auch Gilden genannt, welche aus 20 und mehr SpielerInnen bestehen können, sind ein zentrales Element in Online- Rollenspielen. Hierbei handelt es sich in der Regel nicht um lose oder zufällig zusammengewürfelte Pseudogemeinschaften, sondern um feste soziale Strukturen, welche oftmals über einen langen Zeitraum eine feste Schicksalsgemeinschaft bilden. Man teilt Erfolge und Misserfolge, erkundet gemeinsam neue geheimnisvolle Gegenden, besiegt scheinbar übermächtige GegnerInnen, erarbeitet sich einen (virtuellen) Sozialstatus im Gruppengefüge und schafft sich somit eine Art soziales Netz. Dies stellt soweit kein Problem dar, solange auch im realen Leben eine gewisse soziale Eingebundenheit, sprich die Existenz von SpielgefährtInnen, FreundInnen oder der Peergroup, gewährleistet ist. Bei für die Sogwirkung von Online-Rollenspielen anfälligen Individuen ist jedoch der Umstand gegeben, dass eine vorher bestehende soziale Inhibition, also eine Gehemmtheit in der direkten Interaktion mit Anderen, vorhanden zu sein scheint. In oben beschriebenen epidemiologischen Studien konnte dies empirisch nachgewiesen werden. Jugendliche mit pathologischem oder riskantem Spielverhalten weisen im Vergleich zu lediglich regelmäßig Spielenden signifikant erhöhte Werte in sozialer Unsicherheit (operationalisiert über die entsprechende Subskala des Eating Disorder Inventory, kurz EDI-2) auf (vgl. Thiel/ Jacobi/ Horstmann u. a. 1997, 365ff). Auch in anderen Bereichen der sozialen Interaktion scheinen gefährdete Jugendliche bestimmte Defizite auf sich zu vereinen. So konnte nachgewiesen werden, dass sie sich beispielsweise seltener bei Problemen Anderen anvertrauen und zudem geringe Werte in Bezug auf zwischenmenschliches Vertrauen aufweisen (vgl. Müller/ Wölfling in Vorbereitung zur Publikation). Bei computerspielsüchtigen PatientInnen der Ambulanz für Spielsucht kann zudem anhand psychometrischer Daten festgestellt werden, dass die Persönlichkeitsstruktur der PatientInnen eindeutig in Richtung einer vorhandenen Introvertiertheit (Faktor Introversion des Fünf-Faktoren-Modells der Persönlichkeit; vgl. McCrae/ Costa 1999, 139ff) ausgerichtet ist. In diesem Zusammenhang ist bekannt, dass Introvertierte ein höheres Bedürfnis nach sicher kontrollierbaren Sozialkontakten aufweisen, weniger aktiv auf andere zugehen und generell soziale Risikosituationen vermeiden (ebenda). Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich solchermaßen vulnerable Individuen in virtuellen Interaktionssituationen eindeutig wohler fühlen. Hier sind die sozialen Situationen kontrollierbar, hier kann man sich jederzeit, unter der Anonymität des Avatars/ der Avatarin schützend verborgen, aus unerwünschten oder als bedrohlich eingeschätzten Interaktionen zurückziehen oder, wie es einst ein Patient so treffend ausdrückte: „Wenn einem da jemand dumm kommt, aktiviert man einfach den Ignore- Button.“ Es kann also zusammengefasst werden, dass Online-Rollenspiele für bestimmte NutzerInnen ein weiteres Belohnungsmoment auf sozialer Ebene beinhalten. Es 210 uj 5 (2009) suchtprävention überrascht nicht weiter, dass in den bereits mehrfach aufgeführten epidemiologischen Befragungen computerspielsüchtige Jugendliche signifikant häufiger angaben als regelmäßige SpielerInnen, dass ihnen das Knüpfen von Online-Kontakten leichter falle als das Schließen echter Freundschaften (vgl. Müller/ Wölfling in Vorbereitung zur Publikation). Selbstverständlich könnte man nun argumentieren, dass es ja doch eigentlich begrüßenswert sei, dass sozial gehemmte Persönlichkeiten mit dem Internet nunmehr endlich die Möglichkeit geboten bekommen, sozial aktiv zu werden bzw. die Vorzüge eines sozialen Netzes zu genießen. Dieser Position muss jedoch entgegengehalten werden, dass zum aktuellen Stand der Forschung noch gänzlich ungeklärt ist, inwieweit ausschließlich aus virtuellen PartnerInnen bestehende soziale Netzwerke qualitativ den Ansprüchen realer Partnerschaften entsprechen. Aus der sozialpsychologischen Warte ist bekannt, dass funktionierende und vom Individuum als erfüllend erlebte soziale Netzwerke aus drei basalen Komponenten bestehen: Intimität, Vertrautheit und Nähe (vgl. Brehm/ Miller/ Perlman/ Campbell 2001). Inwieweit diese Grundvoraussetzungen auf virtuelle Sozialkontakte übertragbar sind, sei einmal dahingestellt. Sicherlich ist auch über die Distanz des Bildschirms die Ausbildung einer gewissen Vertrautheit möglich. Allerdings ist es doch einigermaßen wahrscheinlich, dass sich diese auf einer eher flachen Ebene bewegen dürfte, ähnlich wie sie beispielsweise durch den Mere Exposure Effect hervorgerufen wird. Dieses von Zajonc (1965) beschriebene Phänomen bezieht sich auf die Tatsache, dass bestimmten, im Grunde neutralen Objekten allein durch den Umstand, dass sie von einer Person regelmäßig wahrgenommen werden, eine gewisse flüchtige Sympathie zugeschrieben wird. Aus aktuellen Befunden der Neuropsychoimmunologie zur Auswirkung sozialer Interaktion auf physiologischer Ebene ist mittlerweile bekannt, dass erfüllende soziale Interaktionen mit einer vermehrten Ausschüttung des Hormons Oxytozin einhergehen. Dabei scheint es sich so zu verhalten, dass dieses Hormon eine als belohnend empfundene Stimulation als Reaktion auf die Interaktion bewirkt (vgl. Taylor/ Dickerson/ Klein 2002, 556ff). Damit einhergehend finden bestimmte Lernprozesse auf neuronaler Ebene statt, kurz, das Individuum erlebt gelungene Interaktionen als belohnend und eignet sich darüber prosoziale Verhaltensweisen an. Ob virtuelle Sozialkontakte ähnliche Lernprozesse anstoßen, wie sie im Face-to-Face-Kontakt nachgewiesen sind, erscheint derzeit fraglich. Gerade im frühen Jugendalter, in welchem die sozioemotionale Entwicklung eine entscheidende Entwicklungsaufgabe für die Ausbildung der späteren sozialen Kompetenz darstellt (vgl. Remschmidt 1992), ist es zudem sicherlich als kritisch zu bewerten, wenn Jugendliche soziale Lernerfahrungen vornehmlich in virtuellen Rahmenbedingungen - und somit eher mit Magiern, Untoten und Orks statt mit Marlen, Ulf und Oskar - durchleben. Sicherlich ist dieser neuen Form der Interaktion nicht von vorneherein jedwede Existenzberechtigung abzusprechen. Schließlich sieht der weitaus größte Teil der Online-RollenspielerInnen seine Gilden-Kontakte schlicht und ergreifend als ergänzende Bereicherung seiner/ ihrer sozialen Welt an. Darin ist auf keinen Fall ein Problem zu wähnen. Kritisch jedoch muss gesehen werden, dass gerade sozial gehemmten Personen das Internet eine Plattform bietet, um sich dysfunktional ihren sozialen Ängsten zu entziehen. uj 5 (2009) 211 suchtprävention Dort, wo schüchternen Jugendlichen früher irgendwann nichts anderes mehr übrig blieb, als direkte soziale Lernerfahrungen zu machen, weil einfach keine Möglichkeit bestand, diese Klippe auf ewig zu umschiffen, breitet nunmehr das Internet, mit seiner breiten Verfügbarkeit und absoluten Anonymität, einen schützenden Mantel aus, unter welchem man, überspitzt ausgedrückt, scheinbar unendliche Sozialkontakte knüpfen kann, ohne jemals einem anderen Menschen direkt in die Augen geblickt haben zu müssen. Abschließende Betrachtungen und Resümee Die genauen verursachenden Umstände pathologischen Computerspielverhaltens sind derzeit noch weitestgehend ungeklärt. Einen ersten ätiologischen Ansatz referieren Wölfling und Müller (2009) mit dem Vulnerabilitäts-Prozess-Modell der Computerspielsucht. In diesem interaktionistisch konzipierten Modell werden eine Reihe prädisponierender Risikovariablen auf Persönlichkeitsebene, wie z. B. eine ausgeprägte emotionale Labilität und Introversion, angenommen, welche in der Interaktion mit stressreichen Lernerfahrungen mit der sozialen Umwelt (z. B. fehlende Integration in eine Peergroup und Mangel an positivem leistungsbezogenem Feedback) die dysfunktionale Nutzung des Computers begünstigen sollen. Auftretende Immersionseffekte werden über eine Polarisierung der Kompetenzerwartung zwischen realer Welt und virtuellen Spielräumen erklärt. Ergänzt wird das Modell durch die Annahme eines störungsspezifischen Copingstils, des medienfokussierten Copings, welches das pathologische Verhalten aufrechterhalten soll und gleichzeitig Chancen auf positive Lernerfahrungen verbaut. Generell ist es ein zu begrüßender Umstand, dass die Anzahl an Forschungsbemühungen zum Thema der Computerspielsucht in den letzten Jahren zugenommen zu haben scheint. Mittlerweile existieren etwa erste empirische Erkenntnisse zu motivationalen, neuropsychologischen, soziologischen und klinisch-psychologischen Aspekten. Auch auf der Versorgungsebene wurde mittlerweile reagiert. So eröffnete beispielsweise im März 2008 die erste Ambulanz für Spielsucht an der Universitätsmedizin Mainz, mit welcher einerseits ein beratendes Angebot für Angehörige von Betroffenen und andererseits ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Interventionsprogramm für betroffene Computerspielsüchtige initiiert wurde. Im Rahmen der psychotherapeutischen Intervention wird dabei ein Mehrebenen- Behandlungsplan verfolgt, welcher neben etablierten therapeutischen Techniken aus der Behandlung stoffgebundener Abhängigkeiten auch häufig bestehende komorbide Defizite (z. B. soziale Ängstlichkeit) und bestehende dysfunktionale Stressverarbeitungsstrategien berücksichtigt. Somit sind erste Schritte zur Begegnung dieses neuartigen Störungsbildes in die Wege geleitet worden. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Anlaufstellen für Betroffene und deren Angehörige realisiert werden und zudem die öffentliche Wahrnehmung für die Problematik computerspielsüchtigen Verhaltens eine forcierte Sensibilisierung erfährt. Literatur Batthyány, D./ Benker, F./ Müller, K. W./ Wölfling, K., 2009: Computerspielverhalten: Klinische Merkmale von Missbrauch und Abhängigkeit. In: Wiener Klinische Wochenschrift, in Druck Brehm, S. S./ Miller, R./ Perlman, D./ Campbell, S., 3 2001: Intimate Relationships. McGraw-Hill Dilling, H./ Mombour, W./ Schmidt, M. H., 4 2000: Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10. Bern 212 uj 5 (2009) suchtprävention Faiola, A., 2007: When Escape Seems Just a Mouse- Click Away. In: Washington Post Foreign Service May 27, 2006, accessed June 25, 2007 Gillespie, R. B., 2002: The physical impact of computers and electronic game use on children and adolescents, a review of current literature. In: Work, H. 18, S. 249 - 259 Griffiths, M. D./ Hunt, N., 1998: Dependence on computer games by adolescents. In: Psychological Report, 2. Jg., H. 82, S. 475 - 480 Hahn, A./ Jerusalem, M., 2000: Stress und Sucht im Internet. Internetsucht - Risikogruppen und Schutzfaktoren (Pilotstudie). Berlin McCrae, R. R./ Costa, P. T. Jr., 1999: A five-factor theory of personality. In: Pervin, L. A./ John, O. P. (Hrsg.): Handbook of personality: Theory and research. New York, S. 139 - 153 Mischel, W./ Shoda, Y./ Rodriguez, M. L., 1989: Delay of gratification in children. In: Science, H. 244, S. 933 - 938 Müller, K. W./ Wölfling, K.: Pathologisches Computerspielverhalten bei Jugendlichen - Die Rolle der Allgemeinen Kompetenzerwartung und sozialer Unsicherheit. In Vorbereitung zur Publikation Remschmidt, H., 1992: „Adoleszenz“ - Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter. Stuttgart Robinson, T. E./ Berridge, K. C., 2003: Addiction. In: Annual Review of Psychology, H. 54, S. 25 - 53 Saß, H./ Wittchen, H. U./ Zaudig, M./ Houben, I., 2003: Diagnostische Kriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen DSM-IV-TR. Göttingen. Schwarzer, R./ Jerusalem, M., 1995: Generalized Self-Efficacy scale. In: Weinman, J./ Wright, S./ Johnston, M. (Hrsg.): Measures in health psychology: A user’s portfolio. Causal and controlbeliefs. Windsor, S. 35 - 37 Taylor, S. E./ Dickerson, S. S./ Klein, L. C., 2002: Toward a biology of social support. In: Snyder, R. C./ Lopez, S. J. (Hrsg.): Handbook of Positive Psychology, S. 556 - 569 Thalemann, R./ Albrecht, U./ Thalemann, C. N./ Grüsser, S. M., 2004: Fragebogen zum Computerspielverhalten bei Kindern (CSVK): Entwicklung und psychometrische Kennwerte. In: Psychomed, 4. Jg., H. 16, S. 226 - 233 Thiel, A./ Jacobi, C./ Horstmann, S./ Paul, T./ Nutzinger, D. O./ Schüssler, G., 1997: A German version of the Eating Disorder Inventory EDI-2. In: Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, H. 47, S. 365 - 376 Vorderer, P., 2001: It’s all entertainment, sure. But what exactly is entertainment? Communication research, media psychology, and the explanation of entertainment experiences. In: Poetics, H. 29, S. 247 - 261 Wölfling, K./ Müller, K. W., 2009: Computerspielsucht. In: Batthyány, D./ Pritz, A. (Hrsg.): Rausch ohne Drogen - Substanzungebundene Süchte. Wien/ New York Wölfling, K./ Müller, K. W./ Beutel, M. E., 2009: Psychometrische Kennwerte eines klinisch-diagnostischen Screeninginstruments zur Computerspielsucht. In: Psychiatrische Praxis, in Druck Wölfling, K./ Thalemann, R./ Grüsser, S. M., 2008: Computerspielsucht: Ein psychopathologischer Symptomkomplex im Jugendalter. In: Psychiatrische Praxis, 35. Jg., H. 5, S. 226 - 232 Zajonc, R. B., 1965: Attitudinal effects of mere exposure. In: Journal of Personality and Social Psychology Monograph Supplement, 9, Part 2, S. 1 - 27 Der Autor Kai W. Müller Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Abt. Medizinische Psychologie und Soziologie Duesbergweg 6 55128 Mainz muellka@uni-mainz.de
