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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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„Das war alles so fremd und anders.“ Wie Pflegekinder den Übergang in eine neue Familie erleben
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Daniela Reimer
Beim Übergang in eine Pflegefamilie stoßen Pflegekinder auf eine für sie fremde Familienkultur. An den Lebensgeschichten junger erwachsener ehemaliger Pflegekinder haben wir an der Universität Siegen im Forschungsschwerpunkt "Aufwachsen in Pflegefamilien" untersucht, wie sie den Kulturwechsel bewältigen und was ihnen dabei hilft.
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242 uj 6 (2009) Unsere Jugend, 61. Jg., S. 242 - 253 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel übergänge gestalten „Das war alles so fremd und anders.“ Wie Pflegekinder den Übergang in eine neue Familie erleben Daniela Reimer Beim Übergang in eine Pflegefamilie stoßen Pflegekinder auf eine für sie fremde Familienkultur. An den Lebensgeschichten junger erwachsener ehemaliger Pflegekinder haben wir an der Universität Siegen im Forschungsschwerpunkt „Aufwachsen in Pflegefamilien“ untersucht, wie sie den Kulturwechsel bewältigen und was ihnen dabei hilft. Lebensläufe sind von Übergängen geprägt und werden durch diese strukturiert. Es ist „das Leben selbst, das Übergänge von der einen zur anderen Gruppe nötig macht“ (van Gennep 1986, 15). Entsprechend wird Übergangsforschung oft gleichgesetzt mit Lebenslaufforschung (vgl. Sackmann/ Wingens 2001) oder der Forschung, die sich mit normativen Übergängen im Lebenslauf befasst, insbesondere mit dem in der Regel sehr langsam vonstatten gehenden Übergang zum Erwachsenenleben (vgl. Stauber/ Pohl/ Walter 2007). Daneben erleben jedoch manche Menschen besondere Übergänge, die gerade nicht die Norm darstellen und andere Strukturen aufweisen. Mit solchen Übergängen befassen wir uns, wenn wir untersuchen, was geschieht, wenn Kinder in eine Pflegefamilie kommen. Bedeutsam ist der Wechsel in eine andere Familie für Pflegekinder und ihre Lebensgeschichten, weil er meist den Übergang in eine Fremde, mit anderen Gewohnheiten und Gepflogenheiten darstellt und den Kindern erhebliche Bewältigungsleistungen abverlangt. Viele Pflegekinder erleben diesen Übergang sogar mehrmals, wie Daten aus einer Untersuchung über Kinder im Heim zeigen (vgl. Heun 1988), die vor dem Heimaufenthalt in einer Pflegefamilie untergebracht waren. Die untersuchten Kinder wiesen in ihren noch relativ jungen Lebensläufen eine durchschnittliche Anzahl von 4,7 Lebensorten auf, 15 % hatten sogar an fünf und mehr Stationen gelebt. Bei Übergängen von Pflegekindern handelt es sich also um besondere Übergänge, die nur bei einer Minderheit von Kindern in unserer Gesellschaft zu finden sind, jedoch bei diesen oft gehäuft. Darüber hinaus unterscheiden sie sich von normativen Übergängen dadurch, dass sie nicht immer, aber vergleichsweise oft schnell und un- Daniela Reimer Jg. 1981; Dipl.-Pädagogin, Dipl.-Sozialarbeiterin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt „Aufwachsen in Pflegefamilien“ an der Universität Siegen, Leiterin der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts „Pflegekinderstimme“ uj 6 (2009) 243 übergänge gestalten vorbereitet erlebt werden, in kurzer Zeit viel Fremdes und Neues bewältigt werden muss und den Kindern selbst oft wenige Partizipations- und Steuerungsmöglichkeiten im Übergang zur Verfügung stehen (vgl. Reimer/ Wolf 2009). Die Übergänge bei Pflegekindern wurden bisher meist aus bindungstheoretischer Perspektive analysiert. In Anlehnung an die Bindungstheorie und psychotherapeutische Prozesse werden standardisierte Verläufe der Integration eines Pflegekindes in die Pflegefamilie formuliert (Nienstedt/ Westermann 1999, 791 - 798). Diese auf die Etablierung von neuen Bindungen und Objektbeziehungen zwischen Pflegeeltern und Kind ausgerichtete Perspektive ist wichtig, jedoch ist sie als einzige Perspektive eher ungeeignet, da sie den Blick für die zusätzlichen Brüche, die Reorganisations- und die Bewältigungsprozesse versperrt und damit aus der Sicht der Kinder noch zu kurz greift. Aufwachsen in Pflegefamilien - aus der Perspektive der Pflegekinder Ursprünglich hatten wir in unserem Forschungsschwerpunkt zum „Aufwachsen in Pflegefamilien“ an der Universität Siegen nicht geplant, die Übergänge bei Pflegekindern zu untersuchen. Wir sind vielmehr im Rahmen einer breiter angelegten Untersuchung auf das Thema gestoßen, bei der wir ganz allgemein Biografieverläufe von Pflegekindern erforscht haben. Dafür wurden mehrstündige biografische Interviews mit 15 jungen erwachsenen ehemaligen Pflegekindern geführt und aufwendig hermeneutisch ausgewertet. Als besonders ergiebig in der Auswertung hat sich der Zugang über Belastungen und Ressourcen erwiesen. Dabei wird auf eine angenommene Relation von Belastungen und Ressourcen (Wolf 2007) zurückgegriffen (Belastungs-Ressourcen-Balance), die an die Resilienzforschung anknüpft. Das sozialpädagogische Interesse im engeren Sinne richtet sich auf die Frage, welche Entwicklungsaufgaben die Kinder lösen müssen und welche Ressourcen sie dafür benötigen. Die von uns interviewten ehemaligen Pflegekinder berichten häufig von Belastungen, die auch die Lösung von Entwicklungsaufgaben beeinflussen - etwa indem Kapazitäten für Bewältigungsversuche gebunden werden, die dann für andere Aufgaben nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Belastungen verweisen aber auch auf erlebte Probleme, die etwa mit Armut, Gewalt- und Vernachlässigungserfahrungen, Diskontinuität, Beziehungsabbrüchen und Ortswechseln zu tun haben. Solche und im Einzelfall weitere Probleme werden in der erzählten Lebensgeschichte aufgespürt und analysiert. Gleichzeitig richtet sich das Untersuchungsinteresse auf die Art und Weise der Bewältigung der Belastungen. Viele der Interviewten haben uns beeindruckt mit der Kreativität, mit der sie ihre besonderen Aufgaben angehen und auch schwierige Verhältnisse eindrucksvoll gut bewältigen konnten. Das war immer dann der Fall, wenn die Kinder in ihrem Lebens(um)feld die notwendigen Ressourcen finden und diese durch günstige Lebenserfahrungen in der eigenen Person ansammeln konnten. Deshalb nehmen wir auch die Ressourcen in den Blick. Wir gehen davon aus, dass nicht die Belastungen und besonderen Entwicklungsaufgaben allein das Problem sind, sondern erst Belastungen plus fehlende Ressourcen dazu führen, dass ein Problem nicht bewältigt werden kann. Deshalb wird über den ganzen biografischen Prozess jeweils untersucht, welche Ressourcen das Zurechtkommen ermöglichen oder die Belastungen abmildern. Bereits bei der Analyse der ersten Interviews ist deutlich geworden, dass unter Belastungs- und Ressourcenfragen der Übergang bzw. in vielen Fällen die Übergänge eine zentrale Episode in den Lebensgeschichten darstellen und Gelingen oder Scheitern oft weitreichende Auswirkungen auf den weiteren Biografieverlauf haben. Deshalb haben wir uns in einer Teilstudie intensiv der Frage gewidmet, wie Kinder den Übergang in eine neue, in der Regel fremde Familie erleben. 244 uj 6 (2009) übergänge gestalten Übergänge bei Pflegekindern als Kulturwechsel „Hab ich zuerst gar nicht verstanden“ - diese Aussage in verschiedenen Variationen haben wir in den meisten Interviews gehört, wenn ehemalige Pflegekinder über ihre Erfahrungen aus der ersten Zeit in ihrer Pflegefamilie berichteten. Als fremd charakterisieren sie, wie noch näher beschrieben wird, sehr unterschiedliche Situationen: vom Zähneputzen und dem gemeinsamen Essen am Tisch bis hin zum Interesse an der Person. Um das Fremdheitserleben zu verstehen, haben wir einen theoretischen Zugang entwickelt, den wir als Werkzeug für die Analyse nutzen konnten. Um diesen Zugang zu erklären, werde ich vorab den Theorierahmen etwas weiter stecken: Die zentralen Begriffe zum Verständnis sind die „Familie“ und die „Kultur“. Diese werden im Folgenden näher betrachtet und zusammengeführt zum Begriff der „Familienkultur“, der als Schlüssel für das Verstehen des Fremdheitserlebens von Pflegekindern dient. Familien sind ganz allgemein durch ihre Generationenbeziehung charakterisiert sowie durch raum-zeitliche Abgrenzung, Privatheit, Dauerhaftigkeit und Nähe (vgl. Lenz/ Böhnisch 1999; Schneewind 1999). In sämtlichen anderen Dimensionen können sie große Unterschiede aufweisen (Schneewind 1999). Viele Menschen erleben im Laufe ihres Lebens die Zugehörigkeit zu mindestens zwei verschiedenen Familien: in der Kindheit die Herkunftsfamilie, in die sie hineingeboren werden, und später im Erwachsenenleben die selbst gegründete Eigenfamilie - die erste erleben sie in der Kindposition, die zweite (und ggf. weitere) in der Elternposition (vgl. Lenz/ Böhnisch 1999). Die Eigenfamilie bedarf eines Gründungs- oder Entstehungsprozesses, der sich entweder im Laufe der Entstehung der Paarbeziehung zwischen dem Elternpaar vollzieht oder, bei Alleinerziehenden ohne Partner, mit dem Eintritt des Kindes in das Leben des Elternteils beginnt. In den Entstehungsprozessen von Paaren und Familien etablieren sich bestimmte Gewohnheiten (vgl. Kaufmann 1992, 1999), die sich insbesondere auf Abläufe des Alltags und die Verrichtung von Haushaltstätigkeiten beziehen. Sie wachsen als gemeinsame Gewohnheiten auf dem Hintergrund dessen, was die verschiedenen Mitglieder mitbringen, und verdichten sich im Laufe des Etablierungsprozesses zu einem Netz - oder besser: Gewebe - von Gewohnheiten und System von Bedeutungen, die das gemeinsame Leben strukturieren, vereinfachen und den Abläufen Sinn verleihen. Die sprichwörtliche Macht der Gewohnheit führt dazu, dass nicht mehr täglich oder wöchentlich darüber diskutiert werden muss, wer wann wie stark Kaffee kocht oder ob, wie und von wem Socken und Geschirrtücher gebügelt werden. Das Gewebe von Gewohnheiten kann für Außenstehende unter Umständen schwer verständlich sein oder gar Irritationen hervorrufen, für die Beteiligten und ihre Alltagsorganisation macht es allerdings Sinn. Dieses Gewebe von Gewohnheiten wird im Folgenden als Kultur bezeichnet (Reimer 2008, 41-67), anknüpfend an eine bedeutungsorientierte Kulturdefinition des Ethnologen Clifford Geertz. Geertz bestimmt Kultur als ein „historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischer Form ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellung zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln“ (Geertz 1987, 145). uj 6 (2009) 245 übergänge gestalten Mit dem Verständnis des beschriebenen Gewohnheitsgewebes als Kultur können auch Unterschiede von Familien als Kulturunterschiede verstanden werden. Eine Familienkultur kann entsprechend als ein relativ dauerhaftes, aus dem Bedeutungssystem und den Vorstellungen, die die verschiedenen Mitglieder und Akteure mitgebracht haben, gemeinsam entwickeltes System von Bedeutungen definiert werden. Die Bedeutungen treten in symbolischer Gestalt auf und drücken sich in symbolischer Form aus. In den Handlungen der Mitglieder realisiert sich die Familienkultur, die Handlungen stellen jedoch nur den äußerlich sichtbaren Teil dar und werden selbst durch das tiefer liegende Bedeutungssystem begründet. Als Symbol kann all das dienen, durch das sich die Mitglieder mitteilen und das auf grundlegende Bedeutungen hinweist: Symbole können sowohl stofflicher Natur sein (z. B. Wohnungseinrichtung) als auch nichtstofflicher (z. B. Zeiteinteilung oder Kommunikation). Abhängig von der Dauer und Intensität des gemeinsamen Lebensvollzugs sowie den Vorerfahrungen der Mitglieder kann sich eine Familienkultur mehr oder weniger einheitlich bzw. widersprüchlich darstellen. Der Mitgliedsstatus in einer Kultur ist nach dieser Definition an das subjektive Empfinden der Person gebunden, kurz: Mitglied ist, wer sich selbst als solches definiert. Familienkulturen selbst sind subjektive Größen, das heißt, sie können sich aus der Sicht der verschiedenen Mitglieder oder der Außenbetrachter sehr unterschiedlich darstellen. In unserer Untersuchung, auf die ich mich im Weiteren beziehen werde, haben wir uns ganz bewusst auf die einseitige Sicht der Kinder eingelassen. Der Begriff der Familienkultur wird in der Untersuchung in einem gesellschaftlichen und milieuorientierten Kontext verwendet. Es wird davon ausgegangen, dass jede Familienkultur in eine bestimmte Gesellschaft und innerhalb dieser Gesellschaft wiederum in ein bestimmtes Milieu eingebettet ist und von der Gesellschaft und dem einbettenden Milieu beeinflusst wird. Bei allen Unterschieden, die zwischen Familienkulturen bestehen können, ist davon auszugehen, dass eine Familienkultur nie in sich abgeschlossen und auch nie vollkommen einheitlich sein kann, sondern immer in hohem Maße Überschneidungen mit anderen Kulturen ihrer Gesellschaft und ihres Milieus aufweist sowie innere Unstimmigkeiten. Die Überschneidungen nehmen mit der Beheimatung im selben Milieu tendenziell zu. Der Familienkulturbegriff, der sich als das gemeinsame Bedeutungsgewebe der Mitglieder der Kultur versteht, bietet die Chance, Familien und ihre Bedeutungsstrukturen ganzheitlich zu betrachten und damit eine vereinfachende Aneinanderreihung verschiedener Einzelfaktoren, in denen Familien sich unterscheiden können, zu vermeiden. Die Erforschung einer Familienkultur erfolgt dementsprechend in Form einer interpretierenden Suche nach Bedeutungen. Genauso sind wir in der Untersuchung der Kulturen und der Übergänge zwischen den Kulturen vorgegangen. Anknüpfend an das, was Geertz über die Erforschung von Kulturen im Allgemeinen festgehalten hat, geht es auch bei der Erforschung einer Familienkultur „um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft erscheinen“ (Geertz 1987, 9). So haben wir die Erzählungen aus den biografischen Interviews genommen und daraufhin analysiert, was wir darin über die „Familienkultur“ erfahren - und anknüpfend daran, wie der Kulturwechsel von den Kindern erlebt wird. 246 uj 6 (2009) übergänge gestalten Die vorgeschlagene Art der Verbindung von Familie und Kultur birgt einige Risiken und Potenzial für Kritik in sich, und der hier vorgeschlagene Familienkulturbegriff hat relativ enge Grenzen. Je weniger Mitglieder eine Familienkultur hat, desto problematischer wird es, von einer Kultur zu sprechen. Im vorliegenden Zusammenhang werde ich (vgl. Kaufmann 1992, 1999) davon ausgehen, dass zwei Personen ausreichen, um mit ihren Gewohnheiten ein gemeinsames Gewebe sowie ein gemeinsames System von Symbolen und Bedeutungen und somit eine Kultur zu bilden. Die Herkunftsfamilien Um die Dramatik der Fremdheitserfahrungen zu verstehen, die Kinder im Übergang in eine Pflegefamilie erleben, ist die Betrachtung der Familienkulturen der Herkunftsfamilien der Kinder, die zu Pflegekindern werden, grundlegend. Aus den Erzählungen der ehemaligen Pflegekinder über ihre Erfahrungen in der Herkunftsfamilie wird deutlich, dass viele der Familien, in denen zu einem späteren Zeitpunkt Interventionen zum Schutz des Kindeswohls stattfinden, die so weit gehen, dass Kinder fremd untergebracht werden, in vielen Lebens- und Entwicklungsbereichen enorme Belastungen für ihre Kinder hervorbringen. Es ist bewundernswert, wie stark die meisten Kinder in hoch belasteten Familiensituationen die vielfältigen Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, mit Hilfe bestimmter Ressourcen - zum Beispiel aus den Geschwisterbeziehungen - und entwickelter (Überlebens-)Strategien für eine bestimmte Zeit managen können und welche bemerkenswerten Fähigkeiten sie bereits im frühen Alter aufweisen. Diese besonderen Fähigkeiten dürfen aber nicht den Blick versperren für die Belastungen, mit denen die Kinder aufgrund der schwierigen Lebenssituationen konfrontiert sind - und auch nicht für die negativen Auswirkungen der von ihnen entwickelten Strategien auf andere Lebens- und Entwicklungsbereiche. In vielen Fällen konnten wir bei der Untersuchung der Herkunftsfamilien aus der Sicht der Kinder eine extreme Verschiebung im Generationenverhältnis finden, die dazu führte, dass Kinder, selbst in sehr jungen Jahren, für sich selbst, zum Teil für jüngere Geschwister und manchmal sogar für die Eltern mitsorgen mussten. Viele dieser Kinder berichten dann im Rückblick, dass sie in der Herkunftsfamilie „eigentlich gar nicht so richtig Kind sein konnten, mit Spielen und so“, sondern im jüngsten Alter bereits mit der Organisation der täglichen Basisversorgung ausgelastet waren. Eine unserer Interviewpartnerinnen berichtet über die - mehr oder weniger gelungene - Selbstversorgung und die Versorgung der jüngeren Geschwister im Alter von fünf Jahren: „Wir haben gehungert, wir haben uns draußen von der Welt ernährt, wir haben Pflanzen gegessen, wir haben platt getretene Kaugummis von der Straße haben wir aufgesammelt und gekaut, wir sind zu den Nachbarn betteln gegangen […] Ich mit meinen fünf Jahren war auch schon mit mei’m vierjährigen Bruder, wir waren - äh - Profis im Klauen, sonst hätte man gar nicht überlebt, wir haben gezockt […] wir haben halt alle zusammengehalten, haben uns gegenseitig für Kindergarten und Schule geweckt. Wir haben - keine Ahnung - wir sind zusammen zum Arzt gegangen, also wir haben quasi für uns alle zusammen gesorgt, als hätten wir keine Eltern, so.“ Das Leben in Armut bedeutet für viele der InterviewpartnerInnen, neben dem täglichen physischen Überlebenskampf uj 6 (2009) 247 übergänge gestalten ständiger Stigmatisierung durch Gleichaltrige und das soziale Umfeld ausgesetzt zu sein: Zum Beispiel, weil man nur alte und abgetragene Kleidungsstücke besitzt und deshalb gehänselt wird oder nie ein eigenes Pausenbrot im Kindergarten dabei hat und dafür regelmäßig Ausreden finden muss („meine Mama hat’s vergessen“), die dauerhaft von den anderen angezweifelt werden. Mehrere InterviewpartnerInnen berichten darüber hinaus von enormen Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie, die für die Kinder auch Ohnmachtserfahrungen darstellten und die erheblichen, aus Armut und der Umkehrung des Generationenverhältnisses resultierenden Belastungen noch wesentlich verstärkten. Neben der Tatsache, dass die Kinder in vielen Fällen für ihre tägliche Versorgung weitgehend auf sich selbst gestellt waren, haben sie größtenteils einen Mangel an emotionaler Beziehung zu ihren Eltern erlebt, teilweise auch feindseliges Verhalten vonseiten der Elterngeneration. So berichtet eine Interviewpartnerin, dass sie während ihrer gesamten Kindheit nie nach ihrem Wohlergehen gefragt worden war. Das Leben in der Herkunftsfamilie war, so beschreibt sie, so stark durch die alltäglichen Zwänge bestimmt, „es ging immer weiter, immer weiter, immer weiter“, ohne Zeit zum Nachdenken, Stillstehen oder zur Verarbeitung erlebter Verluste oder belastender, teilweise traumatisierender Erfahrungen. Unsere InterviewpartnerInnen erklären dies teilweise damit, dass die Eltern aufgrund eigener Probleme wie Suchterkrankungen, psychischen Erkrankungen, Armut und Arbeitslosigkeit so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass in ihrer Lebenswelt kein Raum für die kindlichen Bedürfnisse war. Zum anderen beschreiben sie diese Erfahrungen aber auch als verletzend erlebtes Desinteresse an der eigenen Person, wenn die Eltern zum Beispiel während der gesamten Kindergarten- und Grundschulzeit nie an Schulveranstaltungen teilnahmen oder sich nie nach den Hobbys und Interessen der Kinder erkundigten. In diesem Zusammenhang erzählen die meisten InterviewpartnerInnen auch von einer mangelnden Bildungsorientierung während der Zeit in der Herkunftsfamilie - „Hausaufgaben war immer so ein befremdliches Thema“ -, die sich häufig negativ auf die schulische Entwicklung - und damit oft auch auf das Vertrauen in die eigene Person und die Selbstwirksamkeit - auswirkte. Die beobachtbaren Fähigkeiten zur Bewältigung schwieriger Familiensituationen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kinder für die Entwicklung der Fähigkeiten zur Kompensation dieser belastenden Lebensumstände einen hohen Preis bezahlen. Menschen haben keine unbegrenzten Aufnahme- und Entwicklungskapazitäten. Während Kinder, die in hoch belasteten Familiensituationen aufwachsen, sich in sehr jungem Alter bereits selbst versorgen können oder andere für ihr Alter erstaunliche Fähigkeiten aufweisen, zeigen sich in anderen gesellschaftlich erwarteten Entwicklungsbereichen große Defizite. Eine unserer Interviewpartnerinnen beschreibt dies folgendermaßen: „Ich wusste nicht, was Zähneputzen ist, und ich war sowieso total unterentwickelt, ich hatte riesengroße Lücken, ich hab’ Fragen gestellt, die sich eigentlich für’n fünf-, sechsjähriges Mädchen gar nicht gehörten, aber war’n halt richtig Bildungslücken und merkte richtig, dass ich was verpasst habe.“ Die Entwicklung der Fähigkeiten in anderen Bereichen setzt eine Entlastung von alltäglichen Versorgungsaufgaben voraus, die in vielen Familienkulturen der Herkunftsfamilien nicht gegeben ist. 248 uj 6 (2009) übergänge gestalten Der Übergang in die Pflegefamilie(n) Wenn Kinder aus der Herkunftsfamilie herausgenommen werden und in eine Pflegefamilie kommen, dann treffen sie meist auf Pflegeeltern, die sich längere Zeit gedanklich und häufig auch schon praktisch auf die Aufnahme eines Pflegekindes vorbereitet haben, oft sogar professionell darauf vorbereitet wurden. Obwohl die Motive der Pflegeeltern(bewerberInnen) höchst unterschiedlich sind (Blandow 1972), lässt sich im Allgemeinen sagen, dass es sich bei Pflegeeltern um Menschen handelt, die gerne mit einem oder mehreren Kindern zusammenleben möchten und von denen Fachkräfte in der Jugendhilfe glauben, dass sie dafür geeignet sind. Trotz vieler positiver Ambitionen, die Pflegeeltern mitbringen, sind sie zu Beginn des Pflegeverhältnisses Fremde für das Pflegekind. Sie weisen meist ganz andere Gewohnheiten und Verhaltensmuster auf, haben also eine andere „Familienkultur“ als diejenige, die die Kinder aus dem bisherigen Lebensfeld kennen. Pflegeeltern möchten, auch davon kann ausgegangen werden, besonders in der ersten Zeit besonders gut für das Kind sorgen und sich intensiv kümmern. Von den Kindern kann dieses Verhalten jedoch nicht immer und nicht sofort als positive Sorge entschlüsselt werden. Eine Interviewpartnerin, die als Jugendliche in ihre Pflegefamilie kam, berichtet vom ersten Frühstück in der Pflegefamilie - das für sie offensichtlich ziemlich seltsam war: „Und dann war der Tisch da gedeckt, und ich war im ersten Moment so irgendwie so sehr überrascht, weil ich dachte, ‚hä? Frühstücken wir jetzt hier morgens alle zusammen und so? ‘ Und dann saß meine Pflegemutter auch da, also man muss dazu sagen, die war nicht berufstätig, die ist dann wegen mir aufgestanden, und mir war das am Anfang sehr unangenehm, weil ich dachte, warum steht die jetzt extra wegen mir auf, guckt die jetzt, ob du da, ob du dich wäschst und ob du deine Sachen packst und auch wirklich in die Schule gehst und so also. Aber das war nicht der der Grund, sondern die wollte mit mir da morgens frühstücken und das war für mich so fremd, ich hab mich dann auch da hingesetzt und konnte auch erst gar nix essen.“ Die Pflegemutter macht in der Situation das, was für sie selbstverständlich ist: morgens mit dem Pflegekind aufstehen und das Frühstück vorbereiten. Die Jugendliche jedoch, die in der bisherigen Lebenserfahrung abgespeichert hat, dass Erwachsene, wenn sie überhaupt anwesend sind, nicht besonders hilfreich und sorgend sind, und bis dato weitgehend auf sich selbst gestellt war, reagiert verunsichert. Die positive Sorge der Pflegemutter kann sie vorerst gar nicht als solche entschlüsseln. Stattdessen interpretiert sie die Situation als eine Kontrollsituation: „Und dann machte die mir auch noch Schulbrote, die machte mir Schulbrote, und ja, aus heutiger Sicht kann ich darüber lachen, und ich weiß das auch aus heutiger Sicht sehr hoch anzurechnen, aber damals war das für mich alles so, Schulbrote, das war für mich der Inbegriff der Spießigkeit. Ich kriegte also Schulbrote, wirklich, das war wirklich in so ’ner Butterdose, die Butterdose war rotorange, ich weiß es noch genau.“ Diese Handlungen, die in der Kultur der Pflegemutter vollkommen selbstverständlich sind, erscheinen aus Sicht des Pflegekindes in einem ganz anderen Licht und bringen daher Irritationen mit sich. Bedrohlich können sie erlebt werden, weil sie der Jugendlichen auch in ihrem Umfeld - uj 6 (2009) 249 übergänge gestalten hier in der Schule - eine neue Rolle verleihen. Ein bislang als ausgeflippt betrachtetes Mädchen, das sich an keine Regeln und Konventionen gehalten hatte, zückt plötzlich eine rot-orange Butterdose aus der Schultasche. Dafür muss das Pflegekind für sich selbst Erklärungen finden und auch nach außen Begründungen abgeben. Für einige InterviewpartnerInnen waren dieses Interesse und die neu entstehende Beziehung, besonders wenn sie nicht aufgedrängt, sondern in erster Linie als Angebot verstanden wurde, geradezu überwältigend: „Auf einmal interessierte es jemanden, warum ich net um ein Uhr zu Hause war, sondern da hatte ja jemand für mich gekocht, und ich kam also nach Hause und da gab’s Essen, das gab’s früher nicht. Und wenn ich mich dann zehn Minuten verspätet hab’, dann wurd’ ich gefragt, ja, warum kommst du zehn Minuten später? Und ich hab dann nur gedacht, ja nu, ich bin halt zehn Minuten später, aber so irgendwann is’ mir bewusst geworden, da stellt sich tatsächlich jemand hin und kocht für dich und wartet auf dich und freut sich auch, dass du kommst, und will dann auch hören, wie’s in der Schule war und was du zu tun hast und ob du lernen musst.“ Während die Sorge um das Wohl des Kindes bei einem dem Kind zugeneigten Verhalten vonseiten der Pflegeeltern meist relativ schnell von den Kindern verstanden und teilweise sogar genossen werden konnte („das war wie der siebte Himmel irgendwie“), waren die Irritationen in anderen Bereichen deutlich anhaltender und verlangten den Kindern mehr Kapazitäten für die Bewältigung ab. Eine Interviewpartnerin berichtet, dass die Art, wie Konflikte in der Pflegefamilie gelöst wurden, über lange Zeit für sie fremd blieb: „Ich kann mich noch dran erinnern, als ich mich das erste Mal gezankt hab’, da hab’ ich eigentlich gedacht, so jetzt kriegste halt Schläge und dann ist der Käse gegessen. Aber es gab eben keine, sondern es wurde diskutiert. Und ich musste dann da Argumente finden und mich bemühen, ja einfach in eine Diskussion einzusteigen, war für mich auch völlig neu, und ich weiß noch, dass ich da völlig mit überfordert war und ich da nur gebrüllt hab’ und meine Pflegemutter eben ganz ruhig blieb und dann auch immer sagte, also ich weiß gar net, warum du so brüllst, also jetzt red doch ordentlich mit mir. Und für mich war das alles völlig fremd, weil ich gedacht hab’, ja, warum haut die jetzt net, warum schlägt die dich jetzt net, sondern warum sitzt die einfach da und spricht mit dir, also ich hab’, glaub’ ich, auch einfach da gesessen und hab’ gedacht, so, jetzt schlag schon zu, so, aber es kam einfach nix, war einfach ne ganz andere Art und Weise.“ Diese ganz andere Art, wie Konflikte in der neuen Kultur gelöst werden, irritierte. Die von der Pflegefamilie erwartete Form der Auseinandersetzung musste in einem langen Prozess mühselig erlernt werden. Ähnlich verhielt es sich - übrigens weitgehend unabhängig vom Alter zum Zeitpunkt des Übergangs - bei mehreren InterviewpartnerInnen mit sämtlichen Familienregeln(festeZeitenfürsNachhausekommen, Mittagsruhe der Kinder) und Familiengewohnheiten (tägliches Zähneputzen, gemeinsam am Tisch essen, überhaupt regelmäßig essen), die sie nur schwer anerkennen konnten und deren Einhaltung sie mühsam erlernen mussten. Aber auch den dahinter stehenden Sinn, das Bedeutungssystem der Pflegefamilie, konnten sie nur sehr langsam entschlüsseln. Auch die schulischen Erwartungen vieler Pflegeeltern und deren eigene Bildungsorientierung - teilweise auch die schulischen Leistungen der leiblichen Kinder in der Pflegefamilie - waren für manche Pflegekinder - zum Teil auch dauerhaft - nur schwer zu ertragen. Ebenso brachten der 250 uj 6 (2009) übergänge gestalten Druck, plötzlich eigene Entscheidungen treffen zu dürfen und gleichzeitig zu müssen (z. B. über die Zimmereinrichtung, die eigene Kleidung, die plötzlich gemeinsam gekauft wurde), sowie die ständig präsente Kommunikation über Gefühle („fragt die mich, wie’s mir geht - das hat mich nie jemand gefragt, ich weiß nicht, wie’s mir geht“) für viele Pflegekinder länger anhaltende Belastungen hervor. Wie können Pflegeeltern den Kindern im Übergang helfen? - Beziehung wachsen lassen! Pflegeeltern stehen den Belastungen der Kinder im Übergang nicht hilflos gegenüber, sondern können wichtige Ressourcen für die Bewältigung zur Verfügung stellen. Wir haben auch untersucht, wodurch sich Familien - aus der Sicht der Kinder - auszeichnen, in denen es gelungen ist, die oben beschriebenen Irritationen im Übergang zu bewältigen und neue Entwicklungschancen hervorzubringen. Über ein schnelles Einleben und relevante Fortschritte in ihrer Entwicklung berichten alle InterviewpartnerInnen im Zusammenhang mit ihren Übergängen und Aufenthalten in den Familien, in denen sie als herausragendes Charakteristikum eine starke Beziehungsorientierung erlebten. Die Beziehungsorientierung zeigt sich insbesondere darin, dass die Erwachsenen ein großes Interesse und viel Sensibilität für den Alltag und das Erleben der Kinder zeigen. In all diesen Familienkulturen finden dem Erleben der Kinder zufolge - um es mit den Worten Herman Nohls zu sagen - die Schwierigkeiten, die die Kinder haben, mehr Beachtung als die Schwierigkeiten, die sie machen. Ihre Irritationen und ihr für die Pflegeeltern anstrengendes Verhalten werden nicht pathologisiert. Diesen beziehungsorientierten Pflegeeltern gelingt es, dem Pflegekind in hohem Maße die Steuerung der Beziehung zu überlassen. Damit zeigen sie eine besondere Art der Orientierung am Kind und an dessen Bedürfnissen und erlauben, dass dieses selbst das Beziehungstempo bestimmt. In denselben als entwicklungsfördernd gekennzeichneten Familienkulturen bestehen klare Rollenverteilungen zwischen den Generationen. Die ältere Generation ist durchweg für die jüngere Generation verantwortlich und für die Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Versorgung und emotionaler Beziehung. Dies steht meist den Erfahrungen der Pflegekinder in den Herkunftsfamilien entgegen, wo sie oft als Kinder bereits Versorgungsfunktionen für Geschwister und teilweise auch die Eltern übernehmen mussten. Abhängig vom Alter beim Übergang wird diese Verantwortung der Erwachsenen auf verschiedene Weise realisiert und erlebt. Gleich bleibt jedoch, dass die jüngere Generation mit der Verantwortungsübernahme durch die VertreterInnen der älteren Generation von vielfältigen alltäglichen Überlebensaufgaben entlastet wird und damit ihre Freiräume und Energien längerfristig für das Bewältigen anderer Entwicklungsaufgaben einsetzen kann. Darüber hinaus bekommen die Kinder in diesen Familienkulturen die Möglichkeit, aktiv und intensiv an der Gestaltung des Alltags mitzuwirken, Entscheidungen selbst zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Diese Alltagspartizipation stellt für unsere GesprächspartnerInnen einen wichtigen Lernbereich dar, der sich auch auf andere Lebensbereiche auswirkt und das Vertrauen in die eigene Person und eigene Fähigkeiten stärkt. Neben ihrer Beziehungsorientierung weisen die Familienkulturen, in denen die Kinder den Übergang positiv bewältigen uj 6 (2009) 251 übergänge gestalten konnten, klare Regeln auf („also die erste Zeit bestand nur aus Regeln“). Die Regeln stehen jedoch nicht für sich, sondern zeichnen sich dadurch aus, dass sie in engem Zusammenhang mit der Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen stehen. Sie werden von den GesprächspartnerInnen als Interesse an der Person, Schutz und Sorge interpretiert und stehen generell nicht über der Beziehung zum Kind, sondern dienen dieser. Einer unserer InterviewpartnerInnen bringt dies mit den folgenden Worten anschaulich zum Ausdruck: „Dadurch, dass die halt so konsequent waren und auch das eingehalten, was die gesagt haben, hab ich dann auch so Vertrauen aufgebaut, immer mehr.“ Wie können MitarbeiterInnen im Jugendamt und im Pflegekinderdienst den Kindern im Übergang helfen? - Partizipation ermöglichen! Auch die professionelle Soziale Arbeit kann die Bewältigung des Übergangs erleichtern. Eine zentrale Ressource, die professionelle Dienste Kindern zur Verfügung stellen können, ist die Beteiligung an Entscheidungen, durch die es Kindern ermöglicht wird, sich beim Übergang in eine Pflegefamilie nicht als ohnmächtige, sondern als aktiv Handelnde zu erleben und das, was geschieht, zu verstehen. Besonders belastend wurden Übergänge in unserer Untersuchung dann erlebt, wenn das Gegenteil der Fall war, also über lange Zeit für das Kind unverständlich blieb, warum es nicht mehr bei den leiblichen Eltern leben konnte und in welcher Art von Wohnarrangement es sich zur Zeit aufhielt. Drastisch schildert dies einer unserer InterviewpartnerInnen, der mit vier Jahren in eine Pflegefamilie kam: „An diesem Tag im Krankenhaus, den werd’ ich, glaub ich, nie vergessen, ja, da kam so ne Familie rein, was heißt Familie, wer war denn dabei? Gerlinde, Fritz und ein Kind, glaub ich. Ja, und dann meint die da, wir packen jetzt die Sachen, wir nehmen dich mit. Und ich hab das gar nicht verstanden und wollte eigentlich auch immer bei meiner Mama bleiben. Ja, und dann musst’ ich da mit zu denen fahren, ich dachte, ich müsst da mal zu Besuch hin, aber irgendwie war das net so. War sehr komisch, ne Familie, die du net kennst, die holt dich dann ab, und du hast die in deinem Leben noch nie gesehen. Dann hab ich das irgendwie erst zwei Jahre später begriffen. Ganz lange wusste ich nicht, wo ich hier war. Wenn es klingelte, dachte ich immer, jetzt kommt meine Mama und holt mich ab.“ Wurde den Kindern dagegen erklärt - gegebenenfalls auch wiederholt -, wo sie hinkamen, warum das geschah, und hatten sie Ansprechpartner für ihre Fragen, Ängste und Wünsche, dann konnten sie den Übergang in der Regel besser in ihre Gesamtbiografie einordnen und sich als aktiv Handelnde und nicht als fremdbestimmte, den Verhältnissen und den Entscheidungen anderer ausgelieferte Personen begreifen - was sich auch im späteren Selbstbild und den Überzeugungen der eigenen Wirksamkeit niederschlug. Konsequenzen und Herausforderungen für die sozialpädagogische Praxis im Pflegekinderwesen Das Verstehen des Übergangs in eine Pflegefamilie als Kulturwechsel bringt einige Konsequenzen für die Praxis des Pflegekinderwesens mit sich. Wie bereits dargestellt, hat es sich gezeigt, dass die Partizi- 252 uj 6 (2009) übergänge gestalten pation der Kinder ein zentrales Kriterium für die positive Bewältigung darstellt. Soziale Dienste stehen vor der Herausforderung, Methoden zu entwickeln, wie Partizipation auch in schwierigen Situationen, die ein schnelles Eingreifen erforderlich machen, realisiert werden kann. Aufseiten der Pflegefamilien ist eines der bedeutendsten Ergebnisse, dass eine starke Beziehungsorientierung eine zentrale Ressource für die Bewältigung der Belastungen im Übergang darstellt. Deshalb spricht vieles dafür, Pflegeeltern darauf vorzubereiten, welchen Belastungen die Kinder im Übergang ausgeliefert sein können, und bereits in der Vorbereitung der Pflegeeltern die Beziehungsorientierung in der Familie zu fördern. Dies beinhaltet, dass die Vorbereitungskurse zur Selbstreflexion anregen. Nur so können künftige Pflegeeltern einen Zugang zu eigenen Vorstellungen von der Beziehung zum Pflegekind entwickeln und diese bearbeiten. Für die Beziehung zum Pflegekind kann es darüber hinaus hilfreich sein, mit Pflegeeltern in der Vorbereitung systematisch Perspektivenwechsel einzuüben. Wenn Pflegeeltern zumindest annähernd nachvollziehen können, was das Pflegekind im Übergang erlebt, und bestimmte Situationen aus der Perspektive eines Kindes, das großen Belastungen ausgesetzt ist, interpretieren, können schwierige und sogar grenzwertige Verhaltensweisen des Pflegekindes leichter erträglich werden. Soziale Dienste stellt dies vor die Herausforderung, Vorbereitungsprogramme und Betreuungsstrukturen zu entwickeln, mit denen Pflegeeltern so unterstützt werden, dass sie die skizzierten anspruchsvollen Aufgaben im Übergang bewältigen können. Die Ergebnisse regen aber auch an, über grundlegendere Fragen der Praxis des Pflegekinderwesens neu nachzudenken. Wie dargestellt, bringt der Übergang in eine fremde Familie große Belastungen für Kinder mit sich, die wiederum Kapazitäten zur Bewältigung binden, die vorerst nicht mehr für andere Entwicklungsbereiche zur Verfügung stehen. Die Irritationen im Übergang könnten dann reduziert werden, wenn Kinder - insbesondere wenn es sich um zeitlich befristete Interventionen handelt - in ihnen bekannten Familien untergebracht würden. Zwar ist davon auszugehen, dass auch in Familien aus dem Kreis der Verwandtschaft oder des sozialen Netzwerks Fremdheitserfahrungen auftreten - diese sind tendenziell jedoch eher punktuell, vermischen sich mit Anknüpfungspunkten aus der Lebenserfahrung der Kinder und können so den Übergang erleichtern. In den Niederlanden wird seit vielen Jahren der Bereich der Verwandten- und Netzwerkpflege gefördert und mit kreativen Akquise- und Betreuungsmethoden auf große Teile des Pflegekinderwesens ausgeweitet (Portengen/ van der Neut 1999). Dass sich die hiesige Praxis dadurch anregen lässt und Konzepte entwickelt, mit denen die Belastungen der Kinder im Übergang gemindert werden können, wäre ein wünschenswertes Ziel in der Weiterentwicklung des Pflegekinderwesens. Literatur Blandow, J., 1972: Rollendiskrepanzen in der Pflegefamilie. München Geertz, C., 1987: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main Gennep, A. van, 1986: Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt am Main Heun, H. D., 1984: Pflegekinder im Heim. Eine Untersuchung über Anzahl, Ursachen und Auswirkungen abgebrochener Pflegeverhältnisse von Minderjährigen in hessischen Kinder- und Jugendheimen. München Kaufmann, J.-C., 1992: Schmutzige Wäsche. Zur ehelichen Konstruktion von Alltag. Konstanz Kaufmann, J.-C., 1999: Mit Leib und Seele. Theorie der Haushaltstätigkeit. Konstanz Lenz, K./ Böhnisch, L. (Hrsg.), 1997: Familien. Eine interdisziplinäre Einführung. Weinheim uj 6 (2009) 253 übergänge gestalten Nienstedt, M./ Westermann, A., 1999: Die Chancen von Kindern in Ersatzfamilien. In: Colla, H./ Gabriel, T./ Millham, S. (Hrsg.): Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa. Neuwied/ Kriftel, S. 791 - 800 Portengen, R./ van der Neut, B., 1999: Assessing Family Strengths. A Family System Approach. In: Greef, R. (Hrsg.): Fostering Kinship. An international perspective on kinship foster care. Aldershot, S. 49 - 68 Reimer, D./ Wolf, K., 2009: Partizipation von Pflegekindern als Qualitätskriterium. In: Jugendhilfe, 47. Jg., H. 1, S. 60 - 70 Reimer, D., 2008: Pflegekinder und ihre Familienkulturen. Belastungen und Entwicklungschancen im Übergang. Siegen Sackmann, R./ Wingens, M. (Hrsg.), 2001: Strukturen des Lebenslaufs. Übergang - Sequenz - Verlauf. Weinheim Schneewind, K., 1999: Familienpsychologie. Stuttgart Stauber, B./ Pohl, A./ Walter, A. (Hrsg.), 2007: Subjektorientierte Übergangsforschung. Rekonstruktion und Unterstützung biographischer Übergänge junger Erwachsener. Weinheim/ München Wolf, K., 2007: Die Belastungs-Ressourcen-Balance. In: Kruse, E./ Tegeler, E. (Hrsg.): Weibliche und männliche Entwürfe des Sozialen. Wohlfahrtsgeschichte im Spiegel der Genderforschung. Opladen/ Farmington Hills Die Autorin Daniela Reimer Zentrum für Planung und Evaluation der Universität Siegen Adolf-Reichwein-Straße 2 57068 Siegen daniela.reimer@uni-siegen.de 2., überarb. Aufl. 2009. 197 Seiten. 8 Tab. 67 Übersichten, 14 Fallbeispiele und Musterlösungen. UTB-S (978-3-8252-2754-8) kt Wie sind Sorgerecht und Adoption im deutschen Grundgesetz verankert? Was sollte man über elterliche Sorge und Vormundschaft wissen? Reinhard Wabnitz beantwortet diese und weitere Fragen und vermittelt das relevante Basiswissen des Familienrechts - speziell aufbereitet für Studierende des Faches Soziale Arbeit. Für die 2. Auflage wurden wichtige neue Gesetze, z. 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