unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
617+8
Sozialpädagogische Praxis in Ganztagsschulen: Prämissen, Probleme, Perspektiven
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2009
Erich Hollenstein
Anja Terner
Die Expansion der Ganztagsschulen bedeutet Vielfalt und Komplexität an Netzwerken und Kooperationen insbesondere von Schule und Jugendhilfe unter Beteiligung weiterer AkteurInnen des regionalen Umfeldes. Wenn auch noch keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, stellen sich dauerhaft Fragen nach Bedingungen erfolgreicher Schulentwicklungen, nach typischen Problemlagen und notwendigen Steuerungsmechanismen.
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290 uj 7+8 (2009) Unsere Jugend, 61. Jg., S. 290 - 302 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel ganztagsschulen Sozialpädagogische Praxis in Ganztagsschulen: Prämissen, Probleme, Perspektiven Erich Hollenstein/ Anja Terner Die Expansion der Ganztagsschulen bedeutet Vielfalt und Komplexität an Netzwerken und Kooperationen insbesondere von Schule und Jugendhilfe unter Beteiligung weiterer AkteurInnen des regionalen Umfeldes. Wenn auch noch keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, stellen sich dauerhaft Fragen nach Bedingungen erfolgreicher Schulentwicklungen, nach typischen Problemlagen und notwendigen Steuerungsmechanismen. Die erst seit wenigen Jahren in Gang gekommene Ganztagsschulentwicklung hat dazu geführt, dass ca. 30 % der Schulen in Deutschland mittlerweile Ganztagsschule (GTS) sind (vgl. Fuchs-Rechlin 2008, 89). Die länderspezifischen Schwankungen sind dabei enorm (z. B. Thüringen mit über 70 %, Bayern und Hessen mit unter 20 %). Trotz dieser beachtlichen Expansion muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass eine Anfangsphase mit ausgeprägter Vielfalt, aber nur wenig ausgeprägten stabilen Erkenntnissen vorliegt. Dabei sind Probleme wie auch gelingende Praxisentwicklungen in einen sehr dynamischen Veränderungsprozess eingebettet. Dieser Prozess führt zu unterschiedlichen Lösungen, Veränderungen und Experimenten, die einer zugenommenen Schulkomplexität die notwendigen Steuerungskorrekturen zuführen und sich wahrscheinlich als Dauerbegleitung herausstellen werden. Der folgende Beitrag erörtert ausgewählte Gesichtspunkte und Fragestellungen zum Thema Ganztagsschulentwicklung. Dazu gehört zunächst die grundlegende, aber nur schwer zu beantwortende Frage, in welchem Umfang sozialpädagogische und sozialarbeiterische Fachkräfte in die Ganztagsschule eingebunden sind. In diesem Zusammenhang wird auf die hohe Übereinstimmung bezüglich der Prof. Dr. Erich Hollenstein Jg. 1945; Prof. Dr. päd., Professur an der Fachhochschule Hannover, Arbeitsschwerpunkte: Schule und Jugendhilfe, Sozialisation, Gemeinwesenarbeit/ Stadtteilmanagement Anja Terner Jg. 1972; Master of Arts Social Work, Diplom- Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin, Schulsozialarbeiterin an einer Hauptschule - offene Ganztagsschule, Lehrbeauftragte an der Fachhochschule Hannover mit den Themen Schulsozialarbeit, Genderkompetenz, Paradigmen der Sozialen Arbeit uj 7+8 (2009) 291 ganztagsschulen Zielsetzungen von Ganztagsschulen durch die Fachkräfte verwiesen. Daran anschließend stehen Kooperations- und Koordinationsprobleme zur Diskussion. Zum Schluss, gewissermaßen als Perspektive, wird auf Schul- und Konzeptentwicklung im Sinne eines die professionenübergreifenden Kooperationslernens hingewiesen und die besondere Bedeutung der Jugendhilfe thematisiert. Letzteres geschieht, indem auf die Länder Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen vergleichend eingegangen wird. Um Praxisbezug und Anschaulichkeit herzustellen, werden Elemente von Schulprofilen und die damit zusammenhängende Praxis besonders herausgestellt. Sie belegen auch, dass Ganztagsschulen eine bewegte und sich verändernde Schule in Deutschland schaffen. Merkmale sozialpädagogischer Praxis in der Ganztagsschule Die sozialpädagogische Praxis in der Ganztagsschule hat unterschiedliche Facetten. Es gibt Modelle der gezielten Kooperation mit der Jugendarbeit oder der Jugendhilfe, bei denen außerschulische Träger im Rahmen des Ganztagsbetriebs entweder einzelne Angebote in den Schulen oder Jugendeinrichtungen durchführen oder eine kontinuierliche Stelle für eine/ n SozialpädagogIn direkt in der Schule einrichten. Das letztere Modell wird größtenteils als integrierte „Schulsozialarbeit“ bezeichnet, die sich auch - je nach Konzeptionierung - unter schulischer Trägerschaft entwickeln kann. Die Zielsetzungen orientieren sich dabei am Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Häufig werden SozialpädagogInnen und ErzieherInnen in der Ganztagsschule aber auch nur für rein betreuende Aufgaben in Freizeitbereichen eingesetzt, die kaum als Schulsozialarbeit bezeichnet werden können, aber vielfach Elemente der Schulsozialarbeit wie z. B. Beratung enthalten. Im Folgenden verwenden wir zumeist den Begriff „Sozialpädagogische Praxis“, der sich in einigen der hier zitierten Studien allerdings auch auf die Arbeit von ErzieherInnen, teilweise sogar auf die der Lehrkräfte bezieht. In anderen Fällen wird der Begriff „Schulsozialarbeit“ verwendet, der - aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen - hier nicht näher spezifiziert wird. (Zur Vertiefung empfehlen wir eine häufig verwendete und anerkannte Definition von Karsten Speck 2007, 28.) Der Anteil sozialpädagogischer Praxis an der Ganztagsschule ist schwer zu fassen, da die verschiedenen Untersuchungen unterschiedliche und nicht vergleichbare Kategorien bilden. Aus einer Dokumentenanalyse verbindlicher Kooperationsvereinbarungen zwischen Jugendhilfe und Schulen in Nordrhein-Westfalen (NRW) lässt sich erkennen, dass diese Vereinbarungen zu 38,5 % soziale Arbeit (Schulsozialarbeit, Jugendschutz, Hilfen zur Erziehung) beinhalten. Des Weiteren sind 7,7 % dem Übergang Schule und Beruf, 10,6 % der Jugendarbeit/ Freizeit und 26 % der Ganztagsbetreuung gewidmet. In kleineren Kommunen erhöht sich der Anteil der Ganztagsbetreuung um 5 % (Icking 2006, 216). Diese Werte sind ohne Berücksichtigung der neu gestalteten offenen Ganztagsgrundschule in NRW erhoben worden, sodass der Betreuungsfaktor mit über 2000 hinzukommenden Ganztags- Grundschulen dort heute bereits beträchtlich zugenommen hat. Deutlich macht auch diese Erhebung, wie unscharf bei der bereits erwähnten Facettenhaftigkeit die Angaben sind. Eine weitere Befragung von ca. 500 Ganztagskräften durch die Max- Traeger-Stiftung (Fuchs-Rechlin 2008), aber auch die Untersuchungen von Rollett u. a. (2008, 904) bestätigen mehr oder weniger indirekt den sehr hohen Anteil sozialpädagogischer Angebote im Ganztagsbe- 292 uj 7+8 (2009) ganztagsschulen reich. Dabei dominieren in der Befragung der Max-Traeger-Stiftung allerdings Freizeitangebote, Hausaufgabenhilfe und Fördermaßnahmen (Fuchs-Rechlin 2008, 105). In der ersten Erhebungswelle der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ verschieben sich die Schwerpunkte leicht und umfassen Hausaufgabenbetreuung, Sport und musisch-künstlerische Aktivitäten (Rollett u. a. 2008, 903). Betrachtet man die gesamte Szene der Ganztagsangebote, befindet sie sich im geringen Maße im Vormittagsbereich und im ausgeprägten Maße im Nachmittagsbereich. Die Ganztagsschule versucht ihren Ganztagsbetrieb mit eigenem Lehrpersonal und mit Kooperationspartnern vorwiegend aus dem Jugendhilfebereich zu bestreiten. Passend dazu belegt Coelen anhand einer Untersuchung, in deren Rahmen 663 Leitungen von Ganztagsschulen befragt wurden, dass bereits 2005 über 50 % der Schulen mit Schulsozialarbeit ausgestattet waren (vgl. Coelen 2007, 59). Fallbeispiele So unterschiedlich wie die Anzahl der Ganztagsschulen im Ländervergleich ausfällt, so unterschiedlich gestaltet sich auch die sozialpädagogische Praxis. An zwei Schulprofilen (A, B) soll ein sehr großer Unterschied aufgezeigt werden: Schule A: Die teilgebundene Anne-Frank- Hauptschule in Ennigerloh in NRW wird von ca. 540 SchülerInnen besucht. Sie entscheiden, ob sie an den Ganztagsklassen teilnehmen. In diesen Klassen findet nach dem einstündigen Mittagessen ab 14.05 bis 15.35 Uhr an drei Tagen in der Woche vornehmlich Unterricht statt (Arbeitsstunden, Kunst, Sport und auch Fachunterricht). Zwei nachmittägliche Unterrichtsstunden dienen der Freizeit (Werken, Computer, Spielen). In diesem eng gesteckten Zeitrahmen kommen auch Kooperationspartner in die Schule, wie etwa Sportvereine bzw. Fitnesseinrichtungen, Mitarbeiterinnen des Vereins „In Via“ (Mädchenarbeit) und der Malteser Hilfsdienst, der Erste-Hilfe-Kurse anbietet (vgl. Brockötter 2005, 23 - 32). Schule B: Flad und Bolay (2007) skizzieren eine Grund- und Hauptschule mit ca. 500 SchülerInnen. Vier Fachkräfte der Jugendhilfe sind in das offene Ganztagsangebot involviert, gleichzeitig bilden die Fachkräfte als SchulsozialarbeiterInnen eine koordinierende Schnittstelle zwischen der Bildungs- und Erziehungspraxis dieser Ganztagsschule. Eine hohe Abstimmung zwischen Unterricht und Ganztagsangebot wird durch enge Zusammenarbeit von Lehr- und sozialpädagogischem Fachpersonal gewährleistet. Ungefähr 50 % der Kooperationsangebote finden in außerschulischen Jugendhilfeeinrichtungen statt, was einen ausgeprägten Sozialraumbezug zur Folge hat. Die Jugendhilfedienste im Stadtteil bzw. in der Stadt sind gut vernetzt. Inhalte der Kooperation sind Sport, Selbstverteidigung, Prävention gegen Gewalt, Soziales Lernen, Geschlechtsspezifik, Berufsorientierung und Darstellung ästhetischer Ausdruckformen. Unter sozialpädagogischen Gesichtspunkten besitzt die Schule „B“ eine sehr hohe Valenz bezüglich der „Andockmöglichkeiten“ sozialpädagogischer Praxis mit klarem schulsozialarbeiterischen Profil. Die Schule „A“ hingegen ist in ihrer Bedeutung nahezu nullwertig. Dies bedeutet nicht, dass diese Schule nicht z. B. mit dem Jugendamt kooperiert, aber es entwickelt sich eben keine nachhaltige Praxis. Der skizzierte A- Typ ist keineswegs eine Ausnahme, und im „Handbuch Ganztagsschule“ wird ein ähnliches Beispiel als verbreitete Form vorgestellt (vgl. Appel 2009, 163). Die Schule „B“ zeigt, dass neue Lern- und Bildungsorte den Unterricht als Bildungsort ergänzen. Durch die Ergänzung wird ermöglicht, dass lokale Partner mit der Schule vernetzt werden und so die Schule eine sozialräumliche Dimension bekommt, zumindest diese Dimension stark ausweitet. Diese Ausweitung bewirkt eine Steigerung von Bildungs- und Handlungskompetenzen, die nicht formal im Unterricht vermituj 7+8 (2009) 293 ganztagsschulen telt werden (zu dieser Diskussion vgl. u. a. Otto/ Rauschenbach 2004). Argumentiert wird, dass damit die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, ihre Interessen und Bedürfnisse weitaus stärker als bisher in den schulischen Kontext eingebunden werden und darüber hinaus generell mehr Beachtung finden (vgl. Icking 2006, 10f). Diesbezüglich sind u. a. nicht-formelle, also freiwillig wahrzunehmende und informelle Bildungsvorgänge zu nennen, wobei der letztgenannte Vorgang kein Lern-Setting beinhaltet (z. B. Handeln in Freundschaftsgruppen, Selbstorganisation). Sofern die Jugendhilfe Kooperationspartner ist - und sie ist nach jetzigem Entwicklungsstand der dominante Kooperationspartner -, entfalten sich nicht nur weitere Bildungschancen. Auch die grundständigen Hilfe- und Beratungsangebote sind nahe beim schulischen Geschehen, häufig sogar direkt dort verankert. Eine solche Nähe kann durch die integrierte Schulsozialarbeit in der Schule, durch kontinuierliche Kooperation mit dem Jugendamt oder mit Jugendverbänden verstärkt werden. Die Chance bei diesen Modellen liegt darin, dass sozialpädagogische Kompetenz vorhanden ist, die anderen wichtigen Kooperationspartnern wie Vereinen, Betrieben oder Kirchen nicht gleichermaßen zur Verfügung steht. Vor diesem Hintergrund wird die zielspezifische Ausrichtung der Jugendhilfe/ Sozialpädagogik/ Sozialarbeit mit ihren Arbeitsprinzipien und -methoden in die Ganztagsschule übertragen. Insbesondere die Ganztagsschule bietet für das Initiieren individueller Hilfen einen besonderen Rahmen. Zwischen Unterrichtsalltag und Lebenswelt beginnt die „Beziehungsarbeit“ als sozialpädagogischer Auftrag. Die Legitimation für ein solches professionelles Handeln liefert das Kinder- und Jugendhilfegesetz. Dieses KJHG „rückt“ nun der Schule sehr nahe und wird durch landesspezifische Gesetze und Erlasse aufgenommen, die dann praktische Kooperationsformen ermöglichen, z. T. auch die Finanzierung regeln. Dieses Gefüge hat durch die Ganztagsschule eine erhebliche Dynamik erfahren und entspricht damit weitgehend den gesellschafts- und bildungspolitischen Absichten zur bundesweiten Ganztagsschulentwicklung. Zielsetzung und Wirkung sozialpädagogischer Ganztagsangebote Zielsetzung Es gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass die sozialpädagogische Praxis in der Ganztagsschule ein positiv zu wertendes Fundament hat. Diese Interpretation ergibt sich aus einer außerordentlich hohen Zustimmung von fest angestellten sozialpädagogischen Fachkräften zur allgemeinen Zielsetzung der Ganztagsschule. Die folgenden Ausführungen dazu beziehen sich auf eine allerdings nicht-repräsentative Studie der Max-Traeger-Stiftung (Fuchs-Rechlin 2008). Doch immerhin beantworteten ca. 500 sozialpädagogische Fachkräfte die gestellten Fragen. Zu den Schwächen der Studie gehört, dass ErzieherInnen überproportional vertreten sind (vgl. Fuchs-Rechlin 2008, 93). Die folgende Darstellung vermittelt in gekürzter Form die Zustimmung der Befragten zu Zielen der GTS. Die Wertschätzung der Fachkräfte gegenüber den genannten Zielsetzungen ist sehr hoch. Diese Zielsetzungen spiegeln das bekannte Zielspektrum von Ganztagsschulen wider, das allerdings durch seine unterrichtlichen und didaktischen Bezüge insgesamt ausgedehnter ist. Dort, wo in der vorliegenden Befragung Unterricht und Leistung thematisiert werden, ist ein Zustimmungsabfall feststellbar, der eine gewisse Distanz zum schulischen Geschehen beinhaltet. Dieser Abfall ist deshalb be- 294 uj 7+8 (2009) ganztagsschulen merkenswert, weil bei der schulischen und bildungspolitischen Zielsetzung der Ganztagsschule eine Verbesserung schulischer Leistungen hohe Priorität hat (vgl. dazu auch Zeller 2007, 25). Bei der Einschätzung, ob die Ziele auch bisher erreicht worden sind, sinken die Prozentwerte ganz erheblich. Positiv wird das Ziel „verlässliche Betreuungszeit“ mit 74 % als erreicht bezeichnet und sinnvolle Freizeit mit 46 %. Bei allen anderen bisher erreichten Zielen liegen die Prozentzahlen wesentlich niedriger und pendeln zwischen 20 und 30 %. Dabei werden die Ziele der Schulsozialarbeit wie die „Integration sozial Benachteiligter“ mit 23,8 % erreicht, die individuelle Förderung mit 28,7 %. Dieser sich hier abzeichnende Handlungsbedarf führt zudem zu einer sehr hohen Unzufriedenheit bezüglich der Personalausstattung und auch der Räumlichkeiten, bei sonst mittelmäßiger Zufriedenheit. Dies betrifft auch die Zusammenarbeit mit der Lehrerschaft und der Schulleitung. Die mangelhafte Ausstattung mit qualifiziertem Personal wird dabei nicht nur in dieser Studie kritisiert (vgl. auch Rollett u. a. 2008, 909). Die die Studie vorstellende Autorin schließt aus den ermittelten Ergebnissen, dass der Ganztagsbereich ein von der Wissensvermittlung unabhängiger Aufgabenbereich geworden ist (Fuchs-Rechlin 2008, 120). Sollte diese Interpretation richtig sein, würde das einen Sachverhalt ergeben, an dem sich die Geister scheiden: die Etablierung des unerwünschten „Bikini- Modells“ nach dem überspitzten Motto, morgens Bildung durch die Schule und am Nachmittag Betreuung durch die Jugendhilfe bzw. die sozialpädagogischen Fachkräfte. Dieses widerspricht sowohl den Richtlinien der Kultusministerkonferenz als auch dem 12. Kinder- und Jugendbericht. Im Bericht wird die Jugendhilfe als integraler und eben nicht als additiver Bestandteil des Schulalltags gesehen (vgl. auch Zeller 2007, 35). Das Beispiel der Ganztagsschule „B“ verweist dabei auf das, was unter dem Begriff „integraler Bestandteil“ zu verstehen ist. Hier finden Lern- und Bildungsprozesse statt, die letztlich in das Begriffsfeld einer erweiterten Bildung gehören. Wirkungen Auf die Frage, mit welcher Wirkung die sozialpädagogischen Ziele in der Praxis tatsächlich umgesetzt werden, gibt es zurzeit keine präzise Antwort. Coelen beklagt Zielsetzungen Stimme überwiegend/ voll und ganz zu 1. Verlässliche Betreuung anbieten 2. Sozialen Zusammenhalt verbessern 3. Lernen und Leben verbinden 4. Sozial Benachteiligte integrieren 5. Sinnvolle Freizeitgestaltung 6. Schule für Lebenswelt öffnen 7. SchülerInnen individuell fördern 8. Verbesserung schulischer Leistung 9. Unterricht attraktiver machen 96,0 % 95,9 % 93,8 % 92,1 % 91,3 % 87,6 % 84,6 % 76,0 % 73,0 % Tab. 1: Befragte zu den Zielen der Ganztagsschule Quelle: Fuchs-Rechlin 2008, 120 (Zahlen in %, Prozentzahlen in Rangfolge) uj 7+8 (2009) 295 ganztagsschulen diesbezüglich mangelnde Forschungsaktivitäten und fehlende empirisch unterlegte Ergebnissicherheit (Coelen 2007). Der hier angesprochene Fachaufsatz zwingt deshalb zu zurückhaltenden Argumentationen und Interpretationen. Die von ihm in einer neuen Veröffentlichung gesichteten, thematisch einschlägigen Evaluationsstudien weisen zwar zum Teil sehr positive Wirkungen aus, werden von Coelen aber hinsichtlich ihrer Objektivität unter dem Stichwort Auftragsevaluation angezweifelt (vgl. Coelen 2008, 904 ) - ein ernst zu nehmender Vorwurf! Allerdings liefert das Feld der Schulsozialarbeit eine Reihe von empirisch gesicherten und positiven Wirkungsergebnissen, die, wenn sie auch nicht direkt übertragbar erscheinen, doch eine deutliche Unterstützungsfunktion übernehmen und auf keinen Fall vernachlässigt werden dürfen (z. B. Bolay u. a. 2004; vgl. ebenso Hollenstein 2007). Auch für Speck gehört die Schulsozialarbeit „… seit ihrer Etablierung zu einem der intensiv beforschtesten Arbeitsfelder innerhalb der Jugendhilfe“ (vgl. 2007, 139). Zu berücksichtigen ist allerdings, dass es sich um Schulsozialarbeit handelt, die weder in allen Ganztagsschulen vorhanden ist noch mit den üblichen Ganztagsangeboten gleichgesetzt werden kann. Hier findet natürlich die Übertragbarkeit ihre Grenzen. In Bezug auf Wirkungseinschätzungen ist auf die groß angelegte Kooperationsstudie des Deutschen Jugendinstitutes hinzuweisen, die in Form einer Befragung von SchulleiterInnen eine große positive Zustimmung zur sozialpädagogischen Praxis in der Schule feststellt (vgl. Behr-Heintze/ Lipski 2005, 43). Aufgrund dieser Hinweise muss davon ausgegangen werden, dass die genannten Zielsetzungen mit einem Wirkungsschub versehen sind. Dass die sozialpädagogischen Fachkräfte, die diese Zielsetzungen umsetzen, insgesamt merkbar positiver gesehen werden als die Lehrerschaft, belegen Studien von Radisch u. a. (vgl. 2008, 914f). Dort wurden die sozialen Beziehungen zwischen SchülerInnen und ihren LehrerInnen sowie ihren BetreuerInnen im Ganztagsangebot untersucht. Insgesamt wird seitens der Schulforschung einschließlich der bislang vorliegenden Ergebnisse der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ die Ganztagsschule als neue Schulform eher positiv bewertet. Ein Sachverhalt, den auch die befragten Eltern bestätigen (vgl. Rollett u. a. 2008, 908f). Kritik ist trotzdem in ausreichendem Maße vorhanden: Die eben zitierten AutorInnen verweisen z. B. auf die lückenhafte Teilnahme von SchülerInnen in offenen Ganztagsschulen (in der Sekundarstufe I). Auch fühlen sich Eltern nicht genügend informiert und bemängeln die nicht hinreichende Hausaufgabenbetreuung. Überzeugende Belege für die Steigerung der schulischen Leistung durch die Einführung der Ganztagsschule stehen noch aus (vgl. Coelen 2007, 62). Kooperations- und Koordinationsprobleme im Ganztagsbereich Ein häufig diskutierter Bereich in diesem Kontext ist die Kooperation zwischen den beteiligten AkteurInnen, die nicht immer reibungslos verläuft. Eine weitere Ganztagsschule „C“ soll als Praxisbeispiel in die Kooperationsproblematik einführen. Die Hauptschule Deegfeld in Nordhorn, mit einer Realschule in einem Schulzentrum, zeigt ein beachtliches Ganztagsangebot und beschönigt in ihrem Internetauftritt auch nicht die bei der Durchführung entstehenden Probleme. Schule C: Die Hauptschule Deegfeld hat gemeinsam mit einer Realschule ca. 1000 SchülerInnen. Die Schulen arbeiten im Ganztagsbereich zusammen. Dieser Bereich umfasst das Mittagessen (1 Std.), die Hausaufgabenbetreu- 296 uj 7+8 (2009) ganztagsschulen ung (1 Std.) und zwei Stunden für Arbeitsgemeinschaften, Förderunterricht und den offenen Treff. Im Ganztagsbereich findet sich die Lerntherapie für Leserechtschreib- und Rechenschwäche. Eine ausgeprägte Berufsorientierung wird realisiert durch Werkstätten mit Fachpersonal für Holz, Metall, Bau, Elektro und Garten. Für leistungsschwache SchülerInnen gibt es dort Praxistage. Mehrere sozialpädagogische Fachkräfte, darunter eine Mitarbeiterin des Jugendamtes, arbeiten stundenweise in der Schule und wirken an unterschiedlichen Angeboten mit. Als Kooperationsprobleme werden genannt: Kooperationspartner sind nur teilweise mit dem Schulkonzept vertraut, mangelnde Verbindlichkeit, Überforderung nicht pädagogisch ausgebildeter Fachkräfte, großer Organisationsaufwand (Schlüssel, Räume, Abrechnung, Ansprechpartner usw.), unübersichtlicher Kreis an Lehrenden (80 LehrerInnen, 10 MitarbeiterInnen mit sozialpädagogischer Ausbildung, ca. 30 Leitungen von Arbeitsgemeinschaften und 65 SchülerInnen als Honorarkräfte (vgl. Hauptschule Deegfeld 2009). Die dargestellten manifesten Probleme sind zum großen Teil Organisationsprobleme aufgrund der hohen Komplexität, die auch noch zwei Schulleitungen umfasst. Die hohe Komplexität entsteht auch durch eine enorme Vielfalt der Partner. Das Angebot ist dementsprechend hochvalent. Erst der zweite Blick lässt auf latente Kooperationsprobleme schließen, die ihren Ursprung wahrscheinlich darin haben, dass das Angebot sowohl zu wenig in den konzeptionellen Schulablauf integriert als auch zu wenig transparent ist, worauf ja auch hingewiesen wird. Es ist daher anzunehmen, dass es keine übergreifende multiprofessionelle Steuerungsgruppe gibt, die partizipativ die Konzeptentwicklung betreibt, das vernetzte Angebot begleitet, sich über Qualitätsstandards Gedanken macht und die Lernkultur der Schule mit der lokalen Bildungslandschaft verknüpft. Immerhin müssen vier Ebenen im Kooperationsgefüge aufeinander bezogen werden (Maykus 2008, 509): die Ebene der beteiligten Institutionen (a), die jeweils kooperierenden Personen (b), die eigentliche Praxis als Summe der Bildungs-, Beratungs- und Betreuungsangebote (c) sowie das lokale und regionale Umfeld (d). Es leuchtet ein, dass ein starker und kompetenter Kooperations- und Koordinationspartner wie die Jugendhilfe zur Optimierung von Handlungsabläufen, zur Erstellung hoher Verbindlichkeit und zur Bereitstellung notwendiger Kompetenzen bei den jeweiligen Fachkräften ein deutlicher Vorteil wäre (vgl. auch Schule „B“). Dieser Vorteil kann allerdings auch weitere Probleme mit sich bringen, die darin bestehen, dass Kooperationen zwischen Jugendhilfe und Schule nicht immer spannungsfrei sind. Hier spielen unterschiedliche Zielsetzungen, unterschiedliche Arbeitsmethoden, Differenzen im professionellen Selbstverständnis usw. eine große Rolle. Sehr deutlich werden die Unterschiede schon bei den Zielsetzungen, denn die Jugendhilfe vertritt einen lebensweltorientierten Ansatz, während die Schule einen Auftrag hat, der Leistungs- und Selektionsorientierung beinhaltet. Hier werden die unterschiedlichen Prämissen und die daraus folgenden Probleme aufgrund der unterschiedlichen Handlungslogiken offensichtlich. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Teilnahmeverpflichtung in gebundenen und teilgebundenen Ganztagsschulen widerspricht dem Grundsatz der Freiwilligkeit in der Jugendhilfe. So hart wie in dieser Sache der fachliche Diskurs geführt wird, so deutlich müssen auch die beachtlichen Annäherungen in den letzten Jahren gesehen werden. Gerade die Ganztagsschule wird als eine Chance gesehen - unter der Zielvorstellung einer Ganztagsbildung -, Schule, Jugendhilfe und sehr viele andere wichtige Kooperationspartner zu gemeinsamen Anstrengungen zu verpflichten. Damit wird auch die Tragweite der gesamten Kooperationsdebatte offensichtlich. uj 7+8 (2009) 297 ganztagsschulen Für die angeschnittenen Kooperationsprobleme besteht ein Lösungsweg darin, dass sich die Ganztagsschule als eine lernende Organisation versteht (vgl. Burow u. a. 2008, 606f). In dieser lernenden und sich selbst reflektierenden Organisation hätte gerade das Kooperationslernen einen besonderen Stellenwert. Zum Kooperationslernen ist in einem umfangreichen Forschungsprojekt über die Praxis und Wirkung der sozialen Arbeit an Hauptschulen folgende Definition gefunden worden: „Kooperationslernen meint die Bereitschaft und Notwendigkeit, Kooperationskompetenzen zu erwerben, Arbeitsteilungen auszuprobieren und auszuhandeln, thematische Schnittmengen zu finden und sich strukturell systematisch aufeinander zu beziehen“ (Bolay u. a. 2004, 175). Dieses Kooperationslernen geschieht u. a. in multiprofessionellen Teams, die als Grundlage lernender Organisationen angesehen werden müssen (vgl. Kolbe/ Reh 2008, 801). Insbesondere wird in angebotsnahen Teams neben der inhaltlichen Konzeptionierung und Durchführungsplanung auch gegenseitige Anerkennung, Wissen um die Qualifikation der Partner und eine partizipative Einbindung herbeigeführt. Die Situation der Hauptschule Deegfeld belegt, dass der Umfang des Angebotes, die Zusammenarbeit zweier Schulleitungen und das Einbinden außerschulischer Akteure auf gar keinen Fall ein „Selbstläufer“ sein können. Gemeinhin gilt: Je größer die Vernetzung von Ganztagsschulen im lokalen/ regionalen Raum bis hin zu den geforderten Bildungslandschaften wird, desto bedeutsamer wird die Entwicklung einer tragfähigen Kooperationskultur. Hier hat die gegenwärtige Kooperationspraxis Nachholbedarf, und der notwendige Zeitaufwand ist nie vergeudete Zeit. Für ein nachhaltiges und realitätsnahes Kooperationsverfahren nennt Thimm (2006 a, 72f) neun zu berücksichtigende Gesichtspunkte, die sowohl zwischen institutionellen Kooperationen als auch zwischen den beteiligten professionellen Einzelpersonen gelten können: 1. gemeinsame Konzeptentwicklung und Kooperationszeit, 2. von Respekt und Empathie bestimmte Arbeitsbeziehung, 3. Schließung von Vereinbarungen und Transparenz der Verabredungen, 4. strukturelle Absicherung, 5. Mitwirkungsrechte für Partner in schulischen Gremien, 6. Effizienz und Effektivitätsgebot für das Kooperationsverfahren, 7. Dokumentation, 8. Auswertung, 9. Begleitung der (Praxis-)Standorte und Vermittlung bei Konflikten. Detailreiche und praxisnahe Beispiele und Vorschläge zum Kooperationshandeln finden sich von Thimm in den Arbeitshilfen 05 und 01 der „Deutschen Kinder- und Jugendstiftung“, Reihe: Ideen für mehr! Ganztägig lernen (vgl. 2006 a; 2006 b). Er verweist auch auf gemeinsame Fortbildungen unterschiedlicher Berufsgruppen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf Tandemfortbildungen, die in einem längerfristigen Prozess eine Lehrkraft und eine sozialpädagogische Fachkraft aneinander binden, sowohl durch gemeinsam zu bearbeitende Aufgabenstellungen als auch ggf. durch ein gemeinsames Projekt (vgl. Thimm 2008, 816f). Diskutiert wird ebenso, den zukünftigen AkteurInnen im Kooperationsfeld bereits im Studium durch eine teilweise Verzahnung von Lehrangeboten Annäherungen zu ermöglichen. 298 uj 7+8 (2009) ganztagsschulen Perspektiven partizipativer Schulentwicklung Auf dem Hintergrund der bisher dargestellten Fakten und Argumentationen entsteht die Frage nach einer tragfähigen Entwicklungsperspektive der Ganztagsschule. Die diesbezügliche Fachdiskussion weist als „Zauberwort“ Schulentwicklung aus, ein Begriff, der eine große Nähe zu dem bereits genannten Konzept der lernenden Organisation hat. Kernpunkt ist die Erkenntnis, dass Schulen einer eigenen Dynamik folgen und sich daher nur von innen heraus entwickeln können. Reformen und Entwicklung können demnach nicht zielgenau und effektiv „von oben“ geplant und verordnet werden (vgl. Holtappels 2004, 7). Vielmehr brauchen Schulen Verantwortungsspielräume und Instrumente, die ihnen eine eigene Schulentwicklung ermöglichen. Ein Entwicklungsinstrument ist z. B. die Ausbildung von Qualitätsstandards, ein anderes die Erarbeitung eines Schulprogramms und dessen Umsetzung. Begehbar wird dieser Entwicklungspfad nur dann, wenn die Schule eine weitreichende Partizipationsstrategie entwickelt. Holtappels hält deshalb Partizipation für einen wichtigen Gelingensfaktor für Schulentwicklungsverläufe (vgl. ebd., 179). Eingebunden sind die beteiligten Gruppen: SchülerInnen, Eltern, LehrerInnen und sozialpädagogische Fachkräfte. In diesem Prozess spielte die Jugendhilfe als Kooperationspartner bisher kaum eine Rolle. Ein Sachverhalt, der spätestens dann kontraproduktiv wird, wenn es um die Ganztagsschulentwicklung geht. Eine Chance, diesen Zustand zu verbessern, wird darin gesehen, Schulsozialarbeit als einen bedeutsamen und in die Schulentwicklung eingebundenen Faktor in die Ganztagsschule einzubringen. Coelen spricht der Mitwirkung von sozialpädagogischen Fachkräften auch zurückschauend erhebliche Entwicklungsimpulse bezüglich der Ganztagsschule zu (vgl. 2007, 56). Auch Bolay erörtert im Zusammenhang mit Schulsozialarbeit ihre Rolle als „Ko-Akteur“ der Schulentwicklung (vgl. Bolay/ Flad 2007, 50). Drilling hingegen warnt ausdrücklich davor, Schulsozialarbeit als ein Tätigkeitsfeld der Schulentwicklung zu definieren. Seiner Ansicht nach widerspricht dies sogar dem integrationsorientierten Konzept, da Schulentwicklung und Unterrichtsqualität genuine Aufgaben der Schulpädagogik sind. Dennoch liefert Schulsozialarbeit seiner Ansicht nach als „Nebenprodukt“ ihrer Tätigkeit wichtige Impulse für die Schulentwicklung (vgl. Drilling 2009, 118). Betrachtet man nun die Situation der Ganztagsschulen in Deutschland, so treten drei Entwicklungspfade hervor: • Ganztagsschulen, die ihren Ganztagsbereich nur oder ganz überwiegend mit ihren Lehrkräften bestreiten. Das Handbuch Ganztagsschule spricht sogar diesem Modell volle Funktionsfähigkeit zu (vgl. Appel 2009, 169). Die Schule „A“ wäre ein dorthin weisendes Beispiel. • Ganztagsschulen, die vielfältige außerschulische Partner besitzen (Schule „C“) und im besten Fall eine integrierte Schulsozialarbeit angebunden an einen außerschulischen Kooperationspartner der Jugendhilfe/ Jugendarbeit haben (Schule „B“). • Ganztagsschulen, die Schulsozialarbeit bzw. Jugendhilfe als Mitwirkungsfaktor in ihr Schulprogramm integriert haben und ihre Entwicklungsarbeit entsprechend ausrichten (Schule „D“). Eine Schule, die den letztgenannten Ansprüchen genügt, ist die Fridtjof-Nansen- Grundschule (FNS) in Hannover. Sie befindet sich zurzeit in der Umgestaltung zu einer Ganztagsschule. uj 7+8 (2009) 299 ganztagsschulen Schule D: Das Schulprogramm der genannten Schule steht auf fünf Säulen bzw. Schwerpunkten. Die erste Säule trägt das Konzept einer die Gesundheit fördernden Schule. Die zweite Säule trägt das Selbstverständnis und die praktische Umsetzung, Schule als Lern- und Lebensraum zu gestalten. Die nächste Säule widmet sich der schulischen Lernkultur. Der vierten Säule obliegt die Schulsteuerung und die Organisation, und eine weitere Säule integriert die Schulsozialarbeit. Alle fünf Säulen korrespondieren miteinander unter dem Programmtitel „Bewegte Schule - Schule als lernendes System im Stadtteil“. In diesem Rahmen hat die Schulsozialarbeit als Mitwirkungsfaktoren ein Elterncafé und ein Kinderparlament in Schule und Stadtteil institutionalisiert. Diese Ganztagsschule hat ihren Standort in einem unter sozialen Gesichtspunkten sehr belasteten Stadtteil (vgl. FNS 2009). Das skizzierte Schulprogramm bindet die Schulsozialarbeit gleichrangig ein, und diese wird so zu einem Entwicklungsfaktor im Schulgeschehen und insbesondere im Ganztagsbereich, der auch eingebunden wird und eben nicht dem genannten „Bikini-Modell“ entspricht. Wir sehen in einer solchen Einbindung, die mit tragfähigen Kooperationsvereinbarungen mit der außerschulischen Jugendhilfe/ Jugendarbeit und anderen Partnern einhergeht, eine zwingende Notwendigkeit für die zukünftige Ganztagsschulentwicklung in Deutschland. Letztlich hängt die Entwicklung der Einzelschule in Bezug auf die Implementierung und Konzeptionierung sozialpädagogischer Praxis im Ganztagsbereich jedoch von zwei Faktoren ab: zum einen vom Engagement der Schulleitung und des Kollegiums einschließlich der SozialpädagogInnen und den Rahmenbedingungen im lokalen Raum, zum anderen von der jeweiligen Landespolitik und ihren bildungs- und schulpolitischen Absichten, in der die sozialpädagogische Praxis eine sehr unterschiedlich gewichtete Rolle spielen kann. Dies zeigt auch der folgende beispielhafte Vergleich zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Landespolitische Voraussetzungen und Zielsetzungen im Vergleich Das Kultusministerium Niedersachsen (NKM) beschäftigt in einer langen Tradition eine nicht erhobene Anzahl von SozialpädagogInnen, die als pädagogische MitarbeiterInnen bezeichnet werden und überwiegend in offenen Ganztagsschulen und Förderschulen zumeist unbefristet eingestellt sind. Ihr Einsatzbereich und ihre Funktion ist jedoch überwiegend undefiniert und der Entscheidung der Schulleitung überlassen. Der einzige Erlass für „pädagogische MitarbeiterInnen“, der den Aufgabenbereich zumindest halbwegs definierte, wurde im Zuge der Einführung der „Eigenverantwortlichen Schule“ gestrichen. Im „Erlass für die Arbeit an der Ganztagsschule“ heißt es: „Pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen im Rahmen des Ganztagskonzepts der Schule ganztagsspezifische Angebote oder wirken daran mit. Im Übrigen unterstützen sie die Erziehungstätigkeit der Lehrkräfte“ (NKM 2004, Punkt 6). Des Weiteren weist das Kultusministerium auf die aktuelle Haushaltslage hin, indem bedauert wird: „Durch den erheblichen Anstieg der Anzahl der Ganztagsschulen ist der Ausstattungsschwerpunkt auf die Lehrerstunden für die neuen Ganztagsschulen gelegt worden. Neue pädagogische Mitarbeiter/ innenstellen wird es solange nicht geben, solange die neu errichteten Ganztagsschulen nicht vollständig mit Lehrerstunden ausgestattet sein werden“ (NKM 2008, 22). Neue Ganztagsschulen müssen in diesen Fällen also gänzlich ohne Sozialarbeit auskommen, es sei denn, Lehrerstunden werden kapitalisiert und in Honorargelder umgewandelt. 300 uj 7+8 (2009) ganztagsschulen Als wegweisend zu bezeichnen ist das breit angelegte Programm NIKO (Niedersächsische Kooperations- und Bildungsprojekte) zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen Schule, Familie und Jugendhilfe, das seit 2007 Erziehungs- und Bildungspatenschaften anregen und nachhaltig installieren soll. Allerdings ist das Projekt auf insgesamt 77 Standorte begrenzt, die MitarbeiterInnen arbeiten oftmals als NetzwerkexpertInnen an mehreren Schulen, die nicht immer Ganztagsschulen sein müssen. Begleitet werden die Ganztagsschulen in ihrer Entwicklung bei Bedarf von der Service-Agentur „Ganztägig Lernen“, unter Trägerschaft der Akademie „Schule und Wirtschaft“ im Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft. In diesem Rahmen finden regelmäßige Tagungen zum Thema statt, regional übergreifende Netzwerkgruppen koordinieren den Austausch der Lehrkräfte und MitarbeiterInnen verschiedener Ganztagsschulen. Die Qualitätsüberprüfung der (Ganztags-)schulen übernimmt die Schulinspektion im Rahmen des „Orientierungsrahmens für Schulqualität“. Der Schwerpunkt der Schulinspektion liegt in dieser ersten Phase jedoch auf der Unterrichtsqualität. Auch in Nordrhein-Westfalen sind langjährig sozialpädagogische Fachkräfte an Schulen tätig, oftmals ebenfalls unter schulischer Trägerschaft, allerdings auch in unterschiedlichen Trägerkonstellationen (vgl. Oelerich 2004, 747f). Nach einer Bestandsaufnahme von 2006 waren es insgesamt 561 sozialpädagogische Fachkräfte überwiegend an Haupt- und Realschulen mit Ganztagsbetrieb (vgl. Speck 2007, 20). Weitere wurden seit 2006/ 2007 durch die Einführung der offenen Ganztagsschule im Primarbereich an 2200 Grundschulen eingestellt, oder es wurden, aufgrund einer beispielhaften konzeptionellen Grundlage, Kooperationen mit der Jugendhilfe eingegangen: In diesem Zusammenhang gab es eine konkrete Verortung des Kooperationspartners Jugendhilfe im Schulgesetz von NRW und einen Erlass zur offenen Ganztagsschule im Primarbereich, in dem die enge Zusammenarbeit von Schule, Kinder- und Jugendhilfe, Sport und Kultur als zentrale Grundlage benannt wird (vgl. Maykus/ Schulz 2007, 239f). Neben einer wissenschaftlich begleitenden Pilotstudie wurde das Projekt seit 2004 durch zwei mehrjährig angelegte strategische Unterstützungsprojekte auf Landesebene ergänzt. Dies geschah zum einen durch die Initiierung und Mitwirkung der Service-Agentur „Ganztägig Lernen“, die sich seit 2007 in NRW unter der Trägerschaft des Instituts für soziale Arbeit e.V. befindet, zum anderen über den „Verbund Projekt-Lernen für den GanzTag“ der Bund-Länder-Kommission für Bildung und Forschung. Dessen Ziel ist es, gemeinsame Qualifikationsprofile für pädagogische Lehr- und Fachkräfte in Ganztagsschulen zu entwickeln (vgl. ebd., 255). Im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Serviceagentur wurde schließlich ein Selbstevaluationskonzept zur Schul- und Qualitätsentwicklung mit dem Titel „Qualität an offenen Ganztagsschulen“ entwickelt, in dem in kommunalen und schulübergreifenden Qualitätszirkeln zwischen Schule und außerschulischen Partnern die Weiterentwicklung der pädagogischen Arbeit, Teamentwicklung und Initiierung von Kooperationen bearbeitet werden (vgl. ebd., 261). Die Ziele einer lebensweltorientierten und Kinder- und Jugendliche unterstützenden Jugendhilfe spielen hierbei eine zentral hervorgehobene Rolle. Eine weitere wichtige Grundlage der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule auf der Landesebene bildet eine Vereinbarung zwischen dem Ministerium für Generationen, Frauen, Familie und Integration (MGFFI) und dem Ministerium für Schule und Weiterbildung uj 7+8 (2009) 301 ganztagsschulen (MSW). In dieser Vereinbarung ist der Einsatz von SchulsozialarbeiterInnen und Kooperationspartnern der Jugendhilfe und Jugendarbeit für alle Schulformen explizit formuliert worden (vgl. MGFFI/ MSW 2006). Die Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Ganztagschulentwicklung landespolitisch gestaltet sowie konzeptionell begleitet wird und dass ein großer Vorteil darin liegt, wenn die Jugendhilfe stark in den Prozessverlauf eingebunden ist. Die bisherige Schul- und Jugendpolitik des Landes NRW scheint dabei für weitere Schritte im Ganztagsbereich gut positioniert zu sein. Dies ist auch eine Voraussetzung für abgestimmte Planungen in zeitlich weitreichenden Zusammenhängen. Diesbezüglich ist die Jugendhilfe herausgefordert, längerfristige Handlungsstrategien darzulegen. Schlussbemerkung Letztlich entscheiden derartige Voraussetzungen darüber, wie die konzeptionelle Ausrichtung der sozialpädagogischen Praxis von Ganztagsschulen beeinflusst wird und welche Entwicklungen zukünftig stattfinden werden. Weiterhin lässt sich zusammenfassend festhalten, dass für die Praxis, nach akzeptablen Anfangsschritten, erheblicher Entwicklungsbedarf in quantitativer und qualitativer Hinsicht besteht. Dies betrifft die Personalausweitung sowie die professionelle Qualifizierung mit einem einschlägigen Fachhochschulabschluss. Dringliche Fragen betreffen die Arbeitsstandards und die Wirkungen der beschriebenen Praxis. Auch die in den Ausführungen herausgehobene Bedeutung der Schulsozialarbeit muss ihr Profil schärfen. Allzuständigkeit für Mittagessen, Freizeit, Ferien, offene Treffs und Hausaufgabenunterstützung usw. endet in einem Meer der Beliebigkeit. Wichtige Zielsetzungen wie die Verbindungen und Vernetzungen zur außerschulischen Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen, gezielte Beratungsangebote und vor allem die Integration von benachteiligten jungen Menschen müssen an erster Stelle stehen (vgl. dazu auch Rademacker 2002). Dennoch: Galt vor vierzig Jahren in der Sozialpädagogik das Motto, die Schule sei eine uneinnehmbare Festung, so muss heute festgestellt werden, dass eine weitverbreitete und entwicklungsfähige Partnerschaft entstanden ist, die die gegenwärtige Ganztagsschule deutlich akzentuiert. Literatur Appel, S., 6 2009: Handbuch Ganztagsschule. Schwalbach Behr-Heintze, A./ Lipski, J., 2005: Schulkooperationen. Ein Forschungsprojekt des Deutschen Jugendinstitutes. Schwalbach Bolay, E./ Flad, C./ Gutbrod, H., 2004: Jugendsozialarbeit an Hauptschulen und im Berufsvorbereitungsjahr in Baden-Württemberg (Abschlußbericht der Begleitforschung). 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